Das Bundesverfassungsgericht verliert zurecht seinen guten Ruf

Von Simon Rabold und Jonas Aston |Gestern hat das Bundesverfassungsgericht zwei Beschlüsse getroffen. In einem Verfahren wurden mehrere Verfassungsbeschwerden zur „Bundesnotbremse“ zurückgewiesen, in dem anderen zur „Schulschließung“. Viele hofften, dass das Bundesverfassungsgericht die harten und oftmals unbegründeten wie irrsinnigen Maßnahmen, z.B. nächtliche Ausgangssperren, verwerfen würde. Nichts davon ist geschehen, ganz im Gegenteil wurden sämtliche Maßnahmen des Gesetzgebers gebilligt. Es bleibt ein fader Geschmack zurück, ebenso mehren sich die kritischen Stimmen zu Verfassungsgerichtspräsident Stefan Harbarth, ein „Merkel-Vertrauter“. Doch der Reihe nach.

Die Klagen gegen die „Bundesnotbremse“ im Frühjahr 2021 richteten sich insbesondere gegen die Ausgangs- und Kontaktbeschränkungen. Dagegen wurden zahlreiche Argumente angeführt. Darunter beispielsweise die Koppelung der Beschränkungen an die „Sieben-Tage-Inzidenz, die an drei aufeinanderfolgenden Tagen über 100 betragen musste, um die gemäß § 28b IfSG geltenden Maßnahmen zu verhängen. Wie viele Tests durchgeführt werden – der Faktor, der die Inzidenz bestimmt wie kein anderer – war dabei unerheblich. Kann dieser Maßstab trotzdem reichen für nie dagewesene Freiheitseinschränkungen? Laut Bundesverfassungsgericht: Ja, denn dieser Schwellenwert gehöre scheinbar zum Einschätzungsspielraum des Gesetzgebers. Das BVerfG beschäftigte sich in dieser Entscheidung sogar noch nicht mal mit diesem Faktor, hierzu ist noch eine Klage von Florian Post und Dietrich Murswiek anhängig. Ob dieses Verfahren abgewiesen oder entschieden wird, ist ungewiss.

Jede Grundrechtseinschränkung benötigt ein legitimes Ziel, welches der Gesetzgeber verfolgt. Vorliegend spricht das Bundesverfassungsgericht hier von der „Funktionsfähigkeit des Gesundheitssystems als überragend wichtige Gemeinwohlbelange“. Dass dieses Ziel schwammig und unkonkret bleibt, darauf wird im Beschluss nicht weiter eingegangen.

Außerdem müssen Grundrechtseinschränkungen auch geeignet, erforderlich und verhältnismäßig sein. Hier übernimmt das Bundesverfassungsgericht auch wesentliche Teile der Argumentation der Regierung und des RKI. Man fragt sich, wieso der Erste Senat überhaupt so lange für diesen Beschluss gebraucht hat, wenn er doch sowieso nur die Regierungsargumentation übernimmt. Es stellt sich die Frage, ob (nächtliche) Ausgangsbeschränkungen überhaupt das Infektionsgeschehen beeinflussen können. Das Bundesverfassungsgericht weist dem Gesetzgeber hier einen weiten Einschätzungsspielraum zu. Außerdem ist bekannt, dass Kinder weder regelmäßig schwer erkranken noch die Pandemietreiber sind. Doch auch hierzu findet sich in dem Urteil kein Wort. Der Schutz der Bürger- und Freiheitsrechte wird in dem Urteil stark vernachlässigt. Das BVerfG erkennt den Wert zwischenmenschlicher Begegnungen als von „konstituierender Bedeutung“ an, stuft dies aber letztendlich geringer als den Gesundheitsschutz ein. Ein Schlag ins Gesicht für alle Alleinerziehenden und Singles.

Die angehörten Experten waren nicht divers. Hierunter finden sich Virologen, Ärzte und Epidemologen, keine Spur jedoch von Psychologen, Sozialforscher, Lehrern etc. Der Frage, ob ein Lockdown kausal mit der Verringerung der Inzidenzen zusammenhängt, wird ebenfalls nicht auf den Grund gegangen. Das Urteil ist vor allem deswegen so erschreckend, weil der Politik faktisch ein Freibrief für künftige Corona-Maßnahmen erteilt wird. Dies wohlgemerkt einstimmig. Vorbei die Zeiten, in denen es auch im Bundesverfassungsgericht abweichende Meinungen gab. Dass etwas einstimmig verabschiedet wird, muss nicht gegen ein Urteil sprechen – hier ist der Beschluss aber auffällig monoton. Andere mögliche Freiheitseinschränkungen in Bezug auf beispielsweise das Klima sind so in Zukunft denkbar. Nun liegt mithin alles in der Einschätzungsprärogative des Gesetzgebers.

Bezeichnend mutet auch das Ende des Beschlusses an.

So stehe laut dem Bundesverfassungsgericht der „Angemessenheit … nicht entgegen, dass nach den bei Verabschiedung des Gesetzes vorhandenen und in diesem Verfahren von den sachkundigen Dritten bestätigten Erkenntnissen die Wirkungen von nächtlichen Ausgangsbeschränkungen nicht vollends von den Effekten anderer, zeitgleich wirkender Maßnahmen unterschieden werden konnten.“ Somit gibt das Bundesverfassungsgericht die offenkundige Sinnlosigkeit dieser Maßnahme zu, hält sie aber trotz dessen für verfassungsgemäß. Der Grundsatz in dubio pro libertate und die freiheitliche Tradition, in der das Grundgesetz steht, wird mit Füßen getreten. Nicht mehr der Staat muss nachweisen, dass mit konkreten Maßnahmen eine Gefährdungslage abgewendet werden kann, sondern der Bürger muss darlegen, dass entsprechende Maßnahmen sinnwidrig sind. Wenn er dies aber wie hier geschehen vor dem Bundesverfassungsgericht tut, werden eben die gleichen Experten der Regierung befragt.

Am Ende des Urteils fragt man sich, welche Maßnahmen der Staat hätte ergreifen müssen, damit das Bundesverfassungsgericht diese abgelehnt hätte. Alles scheint mittlerweile möglich, dass Bundesverfassungsgericht tut sich und seinem Ruf durch seine Nähe zur Regierungspolitik mit diesem Urteil keinen Gefallen. Ein schwarzer Tag für Deutschland und die Freiheit.