Archiv: Mai 31, 2022

Verhasste Schönheit. Das Leben der deutschen Sängerin Nico

Von Jonas Kürsch | Supermodel, Pop-Art-Muse und Vorreiterin des Punks: der Lebensweg der deutschen Sängerin Nico ist in vielerlei Hinsicht außergewöhnlich. Mit ihrer markanten Schönheit, der charakteristisch tiefen Stimme und ihren sehnsuchtsvollen Liedtexten gilt sie weithin als eine der einflussreichsten Kultikonen des 20. Jahrhunderts. Doch während sie in großen Teilen der Welt auch heute noch für ihr stilprägendes Werk gefeiert wird, scheint das Lebenswerk der Sängerin hierzulande fast vollständig vergessen zu sein. Wer also war Nico? 

Das Supermodel

Nico wurde 1938 als Christa Päffgen in Köln geboren, zog im Alter von zwei Jahren mit ihrer Familie allerdings nach Berlin um den frühen Weltkriegsbombardements in Nordrhein-Westfalen zu entgehen. Ihr Vater wurde im weiteren Kriegsverlauf von der Wehrmacht eingezogen und galt nach Kriegsende als verschollen. Sie brach die verhasste Schulausbildung, die sie selbst als „gleichgeschaltete Wissensvermittlung“ ablehnte, vorzeitig ab und unterstütze ihre Mutter stattdessen im familieneigenen Kleiderfachgeschäft. 

Im Alter von 16 Jahren arbeitete Päffgen dann als Verkäuferin im prestigeträchtigen Kaufhaus des Westens, wo sie vom Fotografen Herbert Tobias während einer KaDeWe-Modenschau entdeckt wurde. Von ihrer außergewöhnlichen Erscheinung fasziniert, verhalf Tobias ihr zur Übersiedlung nach Paris und überzeugte sie, fortan unter dem Künstlernamen „Nico“ zu arbeiten. Noch im selben Jahr würde sie von führenden Modezeitschriften wie Vogue, Elle und Vie Nuove engagiert werden. Selbst Coco Chanel soll das deutsche Model unter Vertrag genommen haben, doch Nico verließ Paris noch im selben Jahr abrupt und ließ die Vereinbarung platzen. 

In den frühen 1960er Jahren zog sie dann nach New York City und besuchte dort gemeinsam mit Marilyn Monroe eine Schauspielklasse. Fortan verfolgte sie eine Karrie als Filmschauspielerin. Durch ihren Ruf als Topmodel noch immer heißbegehrt, wurde sie durch den italienischen Regisseur Federico Fellini an den Set seines Kultfilms La Dolce Vita eingeladen, wo sie sich selbst in einer Nebenrolle spielen durfte. Es folgten weitere Filmrollen, die ihren weltweiten Kultstatus festigten.

Die Pop-Art-Muse

In New York lernte Nico den Maler und Filmemacher Andy Warhol kennen, der sie in sein New Yorker Atelier The Factory einlud. Dort schloss sie sich seiner exzentrischen Entourage aus selbsternannten Superstars an und wurde zu seiner neuen Muse. Sie übernahm zunächst einige Rollen in seinen Undergroundmovies, unter anderem im berüchtigten Film The Chelsea Girls. Schließlich aber erkannte Warhol die musikalischen Ambitionen von Nico und suchte nach einer passenden Band für sie. Zusammen mit der damals noch völlig unbekannten Gruppe The Velvet Underground sollte sie ihr erstes Studioalbum aufnehmen. Hauptsongschreiber Lou Reed bestand allerdings darauf, dass sie ausschließlich vier ausgewählte Lieder singen und das Tamburin spielen dürfe, denn ihre Hauptaufgabe müsse weiterhin darin bestehen, einen optischen Blickfang für die kommenden Bühnenshows zu liefern. Er wollte The Velvet Underground nicht als Begleitband verstanden wissen. 

Nico war unglücklich über diese Reduzierung auf das eigene Aussehen. Sie wollte sich mit ihrem Gesang von den Fesseln der sie inzwischen schwer belastenden Schönheit befreien, doch das wollte man ihr nicht gestatten. Nach der Fertigstellung des Albums The Velvet Underground & Nico im Jahre 1967 trennten sich die Interpreten voneinander. Nico verfolgte ihre Karriere von nun an als Solokünstlerin weiter. Im gleichen Jahr nahm sie ihr erstes Soloalbum Chelsea Girl auf, welches die Lieder von bekannten Textern wie Bob Dylan, Tim Hardin und John Cale aufgriff. Allerdings stürzte Nico auch durch die fremdgesteuerte Produktion dieser Platte in eine noch tiefere Krise: man hatte ihren Gesang mit kitschig klingenden Flöten und Harfen untermalt, um das fertige Endprodukt gefälliger zu machen und die kommerziellen Erfolgsaussichten ihrer Musik zu steigern. Um ihre Erlaubnis hatte man sie nicht gefragt.

Die Urmutter des Punkrocks

1968 lernte sie dann den The Doors-Sänger Jim Morrison kennen, der sie dazu ermutigte, fortan nur noch ihre eigenen Lieder aufzunehmen. In den Folgejahren unterzog sich Nicos Musik einer beeindruckenden 180-Grad-Wendung und distanzierte sich nun komplett vom für den Zeitgeist typischen Experimental Rock. Mit mehrsprachigen, fast schon lyrischen Texten, dem Gebrauch des indischen Harmoniums als Hauptinstrument und ihrer zerstörerisch anmutenden Stimme kreierte Nico eine Reihe von wegweisenden Alben für die Punk- und Gothkultur der kommenden Dekaden, unter anderem The Marble Index, Desertshore und The End. Der Fokus ihrer Musik lag nicht länger auf den Idealen der Swinging Sixties, wie freier Liebe und exzessiver Rauschsucht. Mit ihren Liedern wollte sie das Gefühl der tiefempfunden Verlorenheit sowie die Verzweiflung über ihr Scheitern an der eigenen Schönheit verarbeiten. Die ungewohnten Klänge wurden von den Kritikern zerrissen, man diffamierte ihre Stimme als „zu deutsch und zu männlich“ klingend. 

Schließlich wollte Nico sich endgültig von ihrem guten Aussehen befreien und stürzte sich daher ganz bewusst in eine verhängnisvolle Heroinabhängigkeit. Im Rahmen der Drogensucht ergraute ihre Haut, die Wangen wurden immer schmaler und eine Reihe von Zähnen fiel ihr aus. Diesen körperlichen Verfall zelebrierte Nico auf ungesunde Weise, denn sie empfand den langersehnten Verlust ihrer Schönheit als großes Geschenk. Auch ihre Musik wurde immer grotesker. Das Repertoire der Sängerin enthielt inzwischen nahezu alles, was man sich vorstellen konnte: von dunkelromantischen Balladen bis hin zu einer hochkontroversen Neuinterpretation der deutschen Nationalhymne. 

Weltschmerz als Leitbild

Leider nahm das Leben der Ausnahmekünstlerin im Jahr 1988 ein jähes Ende: nach einer erfolgreichen Methadon-Therapie zur Bekämpfung ihrer Drogensucht reiste Nico mit ihrem Sohn nach Ibiza, wo sie nach einem unglücklichen Fahrradsturz an einer Hirnblutung überraschend verstarb. 

Nico sollte allerdings nicht in erster Linie für ihr tragisches Leben in Erinnerung gehalten werden. Mit ihrem Werk beweist die Sängerin, entgegen zeitgenössischer Behauptungen, wie einfallsreich und emotional Musik aus Deutschland sein kann. In klassisch romantischer Tradition hat Nico das langvergessene Motiv des Weltschmerzes für sich wiederentdeckt. Sie begeisterte und inspirierte viele international erfolgreiche Musiker und Bands, wie Siouxsie and the Banshees, The Cure, Björk und Marc Almond, um nur einige zu nennen. Nico ist und bleibt, trotz ihrer nicht zu verschweigenden Abstürze, eine der größten Kulturikonen unseres Landes, auf deren Kreativität und Einfluss wir auch heute noch besonders stolz sein können.

„Janitor of lunacy, identify my destiny, revive the living dream, forgive their begging scream.“

– Nico

 

Bildquelle: Nico, CC BY 2.0, via Wikimedia Commons


Unser Team erzählt von seiner Recherche zur Berlin-Wahl

Als in unserer Redaktion die Nachricht rumging, dass händeringend Leute für das Durchwühlen der Berliner Wahlakten gesucht werden, brauchte es nicht lange, bis sich alle Apollo-Autoren aus Berlin und Umgebung Tag für Tag dazu bereit erklären. Manche fünf Tage, manche nur einen – je nachdem wie das Studium, die Schule oder sonstige Termine es zuließen. Wir waren für Tichys Einblick unterwegs und stolz endlich wie richtige Journalisten an einem Projekt teilzuhaben, von dem nichts geringeres als die Basis der deutschen Demokratie abhängt. 

Stufe 1 war das Berliner Kammergericht, doch als wir da fertig waren, war es noch lange nicht vorbei. Stufe 2: die Auswertung. Hier kamen und kommen auch Autoren dazu, die nicht vor Ort sind. Zig Tausend Dateien wurden durchgeblickt, nach Besonderheiten und Unstimmigkeiten gesucht und Zahlenberge in Excel-Tabellen eingetragen. Alle größeren und relevanteren Pfunde wurden exklusiv auf Tichys Einblick veröffentlicht. Ohne TE hätten wir weder die Ressourcen, noch das Know How gehabt, um so eine Aktion durchzuziehen. Die Akteneinsicht hatten wir Marcel Luthe zu verdanken. Er ist den Unstimmigkeiten der Berliner Wahl schon seit dem ersten Tag auf den Grund gegangen und hat sich auch von nichts aufhalten lassen, weiter nachzuhaken. Das ganze Projekt ist also eine Teamarbeit. 

Wir haben alle zusammen gearbeitet, weil es hier um viel geht. Nicht nur eine große Story oder eine Möglichkeit sich zu profilieren, sondern das Recht eines jeden Bürgers in Deutschland, an den demokratischen Wahlen teilzunehmen. Dieses Recht wurde Hunderten Bürgern allein in Berlin – der Hauptstadt Deutschlands und das Herzstück der deutschen Politik – genommen. Einige scheinen das nicht so ganz verstanden zu haben. Neben der Berliner Zeitung, dem Tagesspiegel, der BZ auch die Welt am Sonntag – sie alle stellten es als ihre Recherche dar. Statt unserem Beispiel nachzufolgen und zusammen zuarbeiten, haben sie Tichys Einblick nicht zitiert. Während Wahlmanipulation und Verstrickungen zwischen Justiz und Politik aufgedeckt werden, haben diese Medien scheinbar nichts besseres zu tun gehabt, sich um ihren Ruf zu sorgen. Korrekt zitiert werden wir dabei lediglich von Gunnar Schupelius von der BZ, der auflagenstärksten Zeitung der Hauptstadt.

Hätten wir die Akten nicht durchgewühlt t – hätten die ganzen anderen Journalisten, die diese Story vom Schreibtisch aus abgeschrieben haben, immer noch nichts besseres zu tun, als über den Erdbeerkuchen von Manuela Schwesig zu philosophieren. Verstehen Sie uns nicht falsch: wir sind stolz, dass all diese Elite-Blätter unsere Arbeit als ihre eigene ausgeben konnten – das zeigt wie gut wir sind. Und für die gute Sache kann man da mal drüberhinweg sehen. Trotzdem wollen wir doch den betreffenden Journalisten die folgende Einsicht nicht ersparen: ihr habt bei 16-27 Jährigen abgeschrieben. 

Und wenn ihr euch nicht mal bald wieder darauf besinnt, welche Aufgabe die Presse in der Demokratie spielen sollte, werdet ihr das in Zukunft noch öfter tun müssen. 

Hier die Eindrücke einiger der Apollo News-Journalisten, die an diesem Projekt mitgearbeitet haben:


Hauptstadtgöre vs. Dorfprolet – Runde II

Lesen Sie hier: Das große Debattenduell. Soja-Latte-Pauline und Mistgabel-Jonas steigen wieder in den Ring – und tragen den Stadt-Land-Konflikt auf der virtuellen Bühne aus. Für wen fiebert ihr in Runde zwei mit: Team Kuhkaff oder Team Assikiez? 

 


Achtung: Dieser Beitrag könnte Spuren von Humor enthalten. Keine Dorfproleten oder Hauptstadtgören wurden bei der Produktion dieser Kolumne ernsthaft verletzt. Dieser Austausch spiegelt in keiner Weise das Arbeitsklima bei Apollo News wieder, sondern dient schlichtweg Unterhaltungs- und Ausbildungszwecken. Seelsorgerische Unterstützung stand den Autoren zu jeder Zeit zur Verfügung.


 

Lieber ab und an ’ne Schießerei, als ständige Angst vor’m grunzenden Tod 

 

Von Pauline Schwarz | „Mauer drum, Schloss zu und Schlüssel weg“, sagte mein Apollo-Kollege Jonas mal zu mir, als es um meine Heimatstadt Berlin ging. Bei uns gebe es doch eh nur Bekloppte und jede Menge Kriminalität. Und ich meine, ja, wo er recht hat, hat er recht – in der Kriminalitätsstatistik sind wir nicht nur die Sieger der Herzen. Vor zwei Jahren haben wir Frankfurt am Main im hohen Bogen vom Thron der gefährlichsten Stadt Deutschlands gestoßen und halten seitdem beharrlich daran fest, endlich mal nicht der erste von hinten zu sein – auch wenn uns das in diesem Fall gut tun wurde. Dem Jonas passt das alles natürlich super in den Kram, um weiter gegen die Großstadt zu hetzen. Der sitzt da süffisant grinsend auf seinem Heuballen irgendwo im Nirgendwo und fühlt sich verdammt sicher. Aber ist er das wirklich? In Berlin gibt es vielleicht ein paar Taschendiebe und Drogendealer, im Dorf aber lauert in jeder dunkeln Ecke und hinter jedem Gebüsch der Tod auf vier Hufen.

Ich bin in meinem Leben noch nicht besonders oft durch die Einöden unseres Landes spaziert und musste mich dementsprechend selten durch das tückische Unterholz eines 300-Einwohner Kuh-Kaffs in Süd-Thüringen schlagen. Das eine Mal, als ich als Jugendliche in einen besonders abgelegenen Wald geschleppt wurde, wäre aber fast mein letztes gewesen. Ich bin in Berlin schon beklaut, begrapscht und bedroht worden. Ich war Zeuge diverser Schlägereien und bin damit aufgewachsen, dass am Platz um die Ecke hunderte Patronenhülsen zwischen den Fugen der Steine steckten, ohne dass sich jemand daran störte. Ich habe also schon viel Gewalt gesehen und war in so vielen gefährlichen Situationen, dass sie locker für drei (Großstadt-)Leben reichen würden. So nah, wie in diesem Moment damals im Wald, war ich dem Tod aber noch nie.

Erst raschelte es nur im Gebüsch – man hörte ein Scharren und Schnauben. Und dann kam es plötzlich aus dem dunklen Unterholz: Ein riesiges Ungeheuer mit langen messerscharfen Eckzähnen, glühenden Augen und einem borstigen Kopf. Zweihundert Kilo vor Wut schäumende Kampfkraft rannten auf uns zu. Ich sah schon mein kurzes Leben an mir vorbeiziehen, während ich grade die Beine in die Hand nehmen wollte, als jemand im Hintergrund brüllte: „Ruhe bewahren, Weglaufen ist zwecklos! Der ist schneller.“ – und ich dachte nur: „Na super, das war´s. Ich habe den Görlitzer Park, das Kottbusser Tor und den Berliner Alexanderplatz überlebt. Und wofür? Damit ich mitten im Wald von einem Ungetüm zerfetzt und meine Überreste zwischen den Wurzeln maroder Bäume verteilt werden?“

Doch ich kam grade nochmal mit dem Schrecken davon. Der riesige Keiler galoppierte so schnell wie er gekommen war, wieder in die Dunkelheit. Er verzehrte sich an diesem Abend wohl nicht nach Homo Sapiens, sondern nach ein paar Eicheln und einem schönen Schlammbad, ohne dass ihn irgendwelche nervigen Wanderer dabei störten. Aber das war Glück, immerhin sind die Viecher während der Brunst oder bei der Verteidigung ihres Nachwuchses nicht zu Scherzen aufgelegt. Und sie verfügen über enorme Kräfte. Muskeln wie Stahlplatten, einen Kiefer, mit dem sie mühelos menschliche Oberschenkelknochen zermalmen können und Hauer, die dank dem ständigen Wetzen so scharf sind, dass sie einem die Arterien aufschlitzen können – wenn man nicht grade durch die Lüfte geschleudert wird.

Ich mache mir Sorgen um Jonas, immerhin ist er dieser Gefahr ständig ausgesetzt. Ich kann mich im Berlin zum Schutz vor Dealern, Dieben und sonstigem Gesocks im Auto einsperren und damit selbst zum Briefkasten fahren. Aber was ist mit Jonas? Vor dem grunzenden Tod ist er auch im Auto nicht sicher. Die Tiere rennen auf die Fahrbahn und, ZACK, dreifacher Überschlag. Einem Bekannten von mir ist das passiert – da brauchst’e im schlimmsten Fall keine weit entfernte Dorf-Disse, drei Liter Korn und einen Baum am Wegesrand, um den frühen Dorf-Tod zu sterben.

Bei der Suche nach Pilzen oder der Beobachtung von Wildvögeln – viel andere Beschäftigungsmöglichkeiten gibt’s bei den Dorfpommeranzen nicht, außer vielleicht Kühe umschubsen – wird Jonas im Falle eines Angriffs auch niemand zu Hilfe eilen. Wer auch? Wo der herkommt, gibts mehr Hühner als Einwohner – aber ein Wildschwein, das kommt selten allein. In Berlin gibt’s immerhin die Möglichkeit, dass einem jemand zu Hilfe eilt. Zugegeben: Die Berliner ham´s nicht so mit Zivil-Courage. Selbst bei Übergriffen auf Frauen sehen die deutschen Männer schneller Weg, als man „Hilfe“ sagen kann. Aber ich habe immerhin die Chance, dass ein anständiger Türke seinem Ehrgefühl folgt und die schwache Frau in Schutz nimmt. Wer soll sich auf Jonas Seite schlagen? Ein einsamer Wolf, der noch ein Hühnchen mit dem Eber zu rupfen hat, weil der dem letzten die Jagd-Tour vermasselt hat? Ich glaube kaum.

Im Gegenteil: Der hungrige Wolf ist nur ein weiter Grund, warum das Dorfleben vielleicht gar nicht so sicher ist, wie die Leute vom Ländle sich das gerne einreden. Und im Ernst, wir sind damit doch noch lange nicht am Ende. Neben dem Keiler, der Bache und dem Wolf gibt es tollwütige Füchse, rasende Rinder, giftige Kreuzottern, bisswütige Spitzmäuse, Killer-Hornissen, Bandwürmer und eine ganze Armada von Deutschlands wohl gefährlichstem Tier: der Zecke. Wenn einen davon nichts dahinrafft, tut es vielleicht der „Witwenmacher“. Dann heißt es „Tod durch Totholz“ – oder auch: Dem is´n Ast auf den Kopp gefallen.

Wenn ich in Berlin bei einer Schießerei drauf gehe, dann gibt’s danach wenigstens ’ne gute Story und ’ne fette Diskussion in Politik und Medien. Wenn Jonas von nem Heuballen überrollt oder vom Keiler massakriert wird, kriegt das wahrscheinlich kaum einer mit.

 


Lieber um 20 Uhr Schotten dicht, als Parks voller Textil-Fachkräfte

 

Von Jonas Aston | Ich habe mich neulich wieder mit meiner Apollo-Kollegin Pauline unterhalten und ich muss sagen, inzwischen steigt ihr der viele Soja-Tee zu Kopf. Ich erzählte gerade von der guten Landluft und netten Gesprächen mit netten Nachbarn, da fiel Pauline mir plötzlich ins Wort. Sie faselte etwas von „elendiger Vertrautheit“. Anonymität wisse ich überhaupt nicht zu schätzen. Dann schoss sie den Vogel endgültig ab und meinte: „So lange nicht wieder einer meiner Nachbarn vor mein Fahrrad in den Hof kackt, ist es mir herzlich egal, was sie treiben“. Bei mir schrillten alle Alarmglocken. Die Großstadt hat sie anscheinend völlig abgestumpft. Normalerweise wäre das der Punkt gewesen, an dem ich Pauline die Nummer der Telefonseelsorge aufgeschrieben hätte. Aber als angehende Psychologin kennt sie diese ja sogar auswendig.

Ich traue mich wegen solcher katastrophalen Zustände nur selten nach Berlin. Einmal ging es aber nicht anders. Die Schule verdonnerte uns zu einem Trip in die Hauptstadt. Wir besuchten den Bundestag, das Brandenburger Tor, das Museum der deutschen Geschichte und den Checkpoint Charlie. Besonders in Erinnerung sind mir jedoch die vielen Berliner Parks geblieben. Dort herrschte am späten Nachmittag rege Betriebsamkeit. Mir und meinen Freunden wurde alle paar Meter „Stoff“ angeboten. Mein 15-Jähriges Ich war sehr verwirrt. In der Bundeshauptstadt wird anscheinend viel genäht, dachte ich. Doch die Straßenverkäufer kamen mir gar nicht wie Fachkräfte der Textilindustrie vor. Nur unsere Lehrerin war von den Vorgängen im Park sehr schockiert. Sie rief bei der Polizei an. Nach dem Telefonat war sie sogar noch wütender. Die Antwort, die sie erhielt, muss wohl in die Richtung „und in China ist ein Sack Reis umgefallen“ gegangen sein.

Doch nicht nur die Textilindustrie hat sich in dem Park angesiedelt. Auch vor Medizinern muss es nur so gewimmelt haben. Am Wegesrand sahen wir überall gebrauchte Spritzen. Für die Messer und zahlreichen Patronenhülsen habe ich jedoch auch keine Erklärung. Später wurde uns dann mitgeteilt, dass ein berüchtigter Clan in jenem Park sein Unwesen treibe. Schießereien seien an der Tagesordnung. In diesem Zusammenhang stelle ich mir folgende Frage: Was macht Pauline, wenn ihr spät abends auffällt, dass ihre Qinoa-Samen zur Neige gehen? Das Leben stellt sie in diesem Fall vor ein unmenschliches Dilemma. Zuhause bleiben und sich der Gefahr des Hungertods aussetzen? Oder sich vor die Haustür wagen und mit dem Heldentod konfrontiert werden? Bisher scheint Pauline dem Survival of the Fittest standzuhalten. Deswegen möchte ich ihr an dieser Stelle meine Bewunderung aussprechen. Wie sie sich Tag für Tag durch den Großstadt-Dschungel hangelt, nötigt mir wirklich Respekt ab. Ihr Überlebensinstinkt muss stark ausgeprägt sein.

Zum Glück gibt es Orte, an denen die Welt noch normal ist – nämlich in meinem Dorf. Am späten Abend kann ich hier nirgendwo Qinoa-Samen kaufen. Das liegt daran, dass Qinoa-Samen hier überhaupt nicht angeboten werden und ich gebe ja auch gerne zu, dass alle Läden in der Region nach 20:00 Uhr geschlossen haben. Für uns ist das aber kein Problem. Anders als die Berliner, denken wir länger als von 12 bis mittags. Spritzen am Wegesrand, Patronenhülsen, Messerstechereien? Fehlanzeige! Schlägereien gibt es höchstens bei der Kirmes. Ich kann mich auch nicht daran erinnern, dass in meinem Dorf jemals eingebrochen wurde. Ganz im Gegenteil: Von Kriminalität ist mein Ort vollkommen unbelastet. Mopeds und Motorräder stehen ohne jede Schutzvorrichtung einfach auf dem Hof herum. Passiert ist noch nie etwas. Selbst Häuser und Autos werden hier nur selten abgeschlossen.

Ich hoffe, ich habe jetzt nicht zu viel verraten. Also liebe Pauline: Bitte bleib mit deiner Gang in Berlin und raube nicht mein Dorf aus!

 

 

 

 


40.000 Seiten Wahlprotokolle und Ärger mit der Präsidentin des Berliner Verfassungsgerichts

Von Larissa Fußer | Ich kam direkt von der Uni mit dem Auto angedüst. Während ich eine Baustelle nach der anderen slalomartig durchfuhr, ging ich in Gedanken die Anweisungen durch, die ich gerade noch von meinen Apollo-Kollegen bekommen hatte: „Du musst den Hintereingang nehmen“, hatten sie gesagt. „Dann kommst du in eine Schleuse, in der sie dich einmal durchleuchten. Sie werden dich fragen, was du hier willst. Dann sagst du deinen Namen und dass du zur Sichtung der Wahlunterlagen der Berlin-Wahl angemeldet bist“. Ich parkte mein Auto und spürte mein Herz schneller schlagen. Vor mir stand das riesige Gebäude des Berliner Verfassungsgerichts. Unwillkürlich guckte ich an mir herunter – ob die mich mit einem kurzen Kleid überhaupt hereinlassen? Ach was, bei „Drei Engel für Charlie“ kommen die drei Agentinnen ja auch mit hautengen Outfits überall rein, dachte ich mir und schmunzelte. Mir kam das alles surreal vor. Wir zehn Apollos spazieren jetzt also einfach ins Verfassungsgericht hinein und gucken uns als erste Menschen überhaupt die Unterlagen zur verpfuschten Berlin-Wahl an. Das können wir mal unseren Kindern erzählen. 

Als ich den Hintereingang gefunden hatte, richtete ich mich auf und atmete tief ein. Mit ernster Miene schritt ich durch die Tür, stellte mich in die angekündigte Schleuse und stand plötzlich vor drei Männern vom Gorilla-Typ, die mich streng beäugten. „Mein Name ist Larissa Fußer, ich bin angemeldet“, sagte ich und versuche dabei möglichst gelassen zu wirken. Der Obergorilla baute sich vor mir auf, kniff die Augen zusammen und murrte schließlich: „Madame, hier gilt immer noch Maskenpflicht“. Mir fiel ein Stein vom Herzen. „Ach so! Na das wusste ich ja nicht, tut mir sehr leid“, säuselte ich und kramte eine fusslige OP-Maske aus meiner Tasche. Sobald ich sie aufgesetzt hatte, war plötzlich Frieden und ich durfte passieren. 

Die Tür führte mich in eine riesige Eingangshalle, die das Setting für sämtliche Gerichtsserien hätte sein können. Über mehrere Etagen erstreckte sich ein symmetrisch angelegtes Arrangement aus Treppen und Balkonen aus weißem Stein. Hier und da waren Säulen angebracht, die Lampen waren von Stuck umsäumt. Es war kühl und leise – der Geruch erinnerte mich an Bibliothek. Inmitten der großen Aufgangstreppe stand mein Apollo-Kollege Jerome. Er grüßte mich und lief schnellen Schrittes los – es begann eine Labyrinthwanderung durch mehrere Stockwerke, Nebengänge und Torbögen. Ich kam kaum hinterher, so schnell wand sich Jerome durch die verzweigten Flure. Schließlich standen wir von einer schweren Holztür im Hintergang des Hinterflügels und mein Kollege drückte die Klinke mit einer Leichtigkeit, als würde er sein Wohnzimmerbetreten. Kein Wunder – Jerome steckte hier schon seit Tagen seine Nase in die Akten. Hinter der Tür verbarg sich, so schien mir, die letzte Hürde vor dem gesuchten goldenen Zimmer. Zwei Sekretärinnen blickten mich hinter FFP2-Masken skeptisch an – und schwiegen. „Hallo, ich bin Larissa Fußer, ich bin angemeldet, um die Wahlunterlagen einzusehen“, sagte ich wieder bemüht lässig. „Ausweis bitte“, murrte eine der Damen hinter dem Schreibtisch. Ich zeigte meinen Perso, die Sekretärin hakte auf einem Zettel etwas ab und zeigte dann tatsächlich auf eine offene Tür links im Zimmer, aus der bereits bekannte Stimmen zu hören waren. 

Und da saßen sie dann, meine Apollo-Kollegen. An großen Tischen, die im Kreis angeordnet waren. Vor Ihnen kistenweise Aktenordner und einzelne Wahlprotokolle. Die Fenster waren aufgerissen, von draußen schien die Maisonne herein. Doch drinnen herrschte aufgeregte Arbeitsatmosphäre, ich wurde kurz gegrüßt, doch dann vertieften sich alle wieder in ihre Akten. Max schritt derweil durch den Raum und telefonierte im bestimmten Journalisten-Tonfall. Ich ging zu Pauline, die gerade angestrengt einen Batzen Wahlprotokolle aus einer Bierkiste heraus hievte. „Das sind die Dokumente aus Kreuzberg!“, stöhnte sie und lachte. Natürlich war Kreuzberg der einzige Bezirk, der es offenbar nicht für nötig gehalten hatte, vielleicht lieber einen Umzugskarton statt einen Alkoholkiste für die Unterlagen zu verwenden. Aktenordner waren wohl auch zu bürgerlich – die Protokolle wurden einfach lose in die Kiste geschmissen. Vermutlich hatten die Wahlhelfer die Hoffnung gehabt, sie nie nie nie wieder sehen zu müssen. Aufgebracht und ein bisschen aufgeregt erzählte Pauline mir: „Die haben echt fast überall die falschen Stimmzettel gehabt! Auch bei uns um die Ecke in den Wahllokalen haben sie einfach Stimmzettel aus Charlottenburg an die Leute verteilt und sie damit wählen lassen, bis der Fehler aufgefallen ist. Dann wurden alle bisher abgegeben Stimmen für ungültig erklärt.“ Pauline und ich hatten beide in Kreuzberg gewählt. „Bist du dir sicher, dass du den richtigen Stimmzettel hattest?“, fragte sie mich. „Ich glaube schon“, sagte ich – war mir bei genauer Überlegung aber gar nicht so sicher. Immerhin hatte ich vier Zettel auf einmal in meiner kleinen Wahlkabine vor mir ausgebreitet und nicht groß überlegt, wen oder was ich wählen sollte.

Elisa und Jerome waren derweil konzentriert dabei, die Dokumente anderer Bezirke zu durchforsten. Akribisch inspizierten und fotografierten die beiden ein Blatt nach dem anderen. Dabei sahen sie aus, als hätten sie nie einen anderen Job gemacht. Elisa scherzte: „Das ist ja wie in einer großen Anwaltskanzlei hier. Und wir sind die schicken Anwaltsgehilfen mit Anzug und Kostüm!“. Doch leider hielt die gute Stimmung nicht lange an. Nach ein paar Stunden platze plötzlich eine Frau herein, die sich als wissenschaftliche Mitarbeiterin Präsidentin des Berliner Verfassungsgerichtshofs, Ludgera Selting, vorstellte. Wutentbrannt schnauzte sie unser kleines Team an, dass die Präsidentin mitbekomme habe, dass wir die Vorgänge am Wahltag aus den Akten bei TE öffentlich machen, und nun „sehr irritiert“ sei. Man prüfe sogar rechtliche Schritte, wurde uns entgegen geknallt. Für die verbleibende Zeit durften wir unsere freiwillige Recherchearbeit also unter den Augen von mehreren Mitarbeitern des Gerichts weiterführen, die jede unserer Bewegungen akribisch überwachten. Als krönender Abschluss der Einschüchterung kam dann die Präsidentin selbst noch einmal bei uns vorbei und fuhr die gesammelte Mannschaft an, was man sich hier erlaube, und dass das ja „unglaubliche Vorfälle“ seien. Tja, liebe Präsidentin, diese „Vorfälle“ nennt man Journalismus.


Was wir aus Heldengeschichten lernen können

Von Simon Ben Schumann | Was haben Jesus Christus, Harry Potter und Donald Trump gemeinsam? Klar, sie alle gehören zum cis-male Patriarchat, welches unseren Planeten nach wie vor in Angst und Schrecken versetzt. Aber außerdem sind sie alle die Helden ihrer geistigen Welten – oder eben Antihelden, je nach Standpunkt.

Ob im Israel des 1. Jahrhunderts, in JK Rowlings „Wizarding World“ oder aber in der US-Politik: Sagen, Legenden und Geschichten über (vermeintliche) Helden prägen die Menschheit seit Anbeginn. Es sind nie bloße Ideologien, sondern stets Individuen, die die Welt wirklich prägen. Von ihren Anhängern werden sie verehrt, von den Gegnern angefeindet – es scheint ein Teil der menschlichen DNA zu sein, zu Einzelpersonen aufzusehen. Das kann natürlich in der Hölle auf Erden enden, beherrscht von König Herodes, Lord Voldemort oder Karl Lauterbach. Es bleibt dennoch Realität.

Gilgamesch: Der erste Held der Menschheit?

Der Anbeginn von komplexen menschlichen Gesellschaften wird, aufgrund der erhaltenen Zeugnisse, von modernen Archäologen im antiken Sumer verortet. Die alten Sumerer sind die erste bekannte Zivilisation, welche eine komplexe Kultur auf die Beine stellte. Es gab Ackerbau, Viehzucht, Mathematik, Schrift, Militär und so weiter.

Und, besonders spannend: Die ersten niedergeschriebenen Geschichten der Menschheit sind uns von den Sumerern erhalten. Und selbst hier begegnet uns ein immer wiederkehrendes Schema: Protagonist, Antagonist und mehrere Wegbegleiter. Der bekannteste ist Gottkönig Gilgamesch, der als egoistischer Herrscher um 3.000 v. Chr. seine Stadt terrorisiert. Daher geben ihm die Götter einen Freund namens Enkidu zur Seite, was die Brutalität des Königs mildert und zu einem weisen Herrscher heranwachsen lässt. Gemeinsam stellen sich die beiden vielen abenteuerlichen Kämpfen und begeben sich auf die Suche nach ewigem Leben.

Natürlich war das Patriarchat damals noch nicht global verbreitet, so dass es mal ausnahmsweise weibliche Hauptcharaktere gibt. Ein Beispiel ist hier das Buch Ester im Alten Testament. Es erzählt, wie Heldin Ester um 500 v. Chr. nach einem gewonnen „Beauty-Contest“ mit dem persischen König verheiratet wird. Damit ist sie zwar „First Lady“, dass sie Jüdin ist verschweigt sie aber zum Glück. Denn blöderweise ist ein enger Berater des Königs extremer Antisemit und plant mal eben, alle Juden in Persien zu ermorden. Fast kommt es zum Völkermord. Doch da es in der Ehe einigermaßen läuft, kann Ester den König bewegen, sich von seinem Berater loszusagen – der Genozid bleibt aus. Die uralte Geschichte wurde mehrfach verfilmt, unser anderem 2006 in „One Night with the King“.

Die Heldenreise als literarisches Motiv

Aus den Heldengeschichten der Antike, aber auch den modernen Geschichten wie Harry Potter, Star Wars oder Avengers hat sich in der Literaturwissenschaft ein schematischer Aufbau der Heldenreise ergeben. Dieser wird auch „Monomythos“ genannt, da stets eine Einzelperson im Mittelpunkt steht und verschiedene Phasen an Charakterentwicklung durchläuft.

Phase 1 hierbei: Der oder die Protagonistin befindet sich in einer gewöhnlichen Alltagssituation und genießt mehr oder weniger ihr Leben. Die Dinge gehen einfach ihren Gang. Im zweiten Schritt offenbart sich durch einen „Herold“ eine gewisse Mission oder Abenteuer, welches zu beschreiten ist. In der bekannten Harry Potter Story ist das Hagrid, der die Tür kaputtschlägt – nach dem Motto: „Übrigens, du kannst zaubern und so.“ Doch dann wird es ernst, die Antagonisten betreten die Bühne. Jetzt trifft der Protagonist auf Freunde und Mentoren, die ihn unterstützen. Mehrere Prüfungen sind zu absolvieren, die schwerste dabei: Eine Konfrontation mit dem Tod selbst. Diese kann verschieden ausgehen, meistens aber überlebt der Hauptcharakter knapp und kehrt mit den gewonnenen Erkenntnissen in einen anderen, besseren Alltag als zuvor zurück. Die Welt ist gerettet, da wird man sich ja wohl mal entspannen dürfen.

Von Helden, Antihelden und Alltagshelden

Die „Heldenreise“ ist der Stoff, aus dem die Träume sind. Sie findet sich so und in abgewandelter Form in beinahe jeder fiktiven Geschichte. Je besser sie umgesetzt ist, desto erfolgreicher ist z. B. eine Filmreihe. Die populären Marvel Filme, welche momentan die Unterhaltungsbrache dominieren, sind ein Beispiel dafür. Doch können wir daraus etwas für den Alltag lernen?

Ich denke: Ja! Denn bei der charakterlichen Entwicklung eines Individuums, das die Welt retten muss, sind wir als nicht-fiktive Menschen auf keinen Fall außen vor. Nicht umsonst gibt es in jeder geistigen Tradition Äquivalente zum literarischen Epos. Seien es beispielsweise die Gradwanderung in der Freimaurerei, der „echte Helden“ wie George Washington entstammen oder der christliche Erlösungsweg durch die Spendung verschiedener Sakramente: Wir alle sind gefordert.

Natürlich muss und kann nicht jeder die ganze Welt retten. Dafür fehlt uns ja bei bestem Willen auch die Superkraft. Aber reicht es nicht schon, wenn wir da aufstehen, wo wir es können? Wenn beim Brunch mit Bekannten gegen nicht geimpfte Stimmung gemacht wird, kann jeder etwas sagen und dazwischenfunken. Unseren Kindern können wir die Werte vermitteln, welche wir in einer manchmal ziemlich dunklen Welt vermissen – und diese so etwas bereichern.

Gegen Lord Voldemort in den Endkampf ziehen müssen die meisten von uns nur beim Gaming. Aber durch eine an guten Vorbildern orientierte Weiterentwicklung unseres Selbst können wir vielleicht zu den wirklich wichtigen Helden werden – den Helden des Alltags.


Nach der Pandemie die Party? Die Feierwut der jungen Leute zeigt nur ihre innere Leere

Von Jonas Kürsch | Die staatlichen Zwangsmaßnahmen zur Bekämpfung der Coronapandemie haben tiefe und deutlich sichtbare Narben hinterlassen. Die Lockdowns, Maskenregelungen und Impfdrangsalierungen haben das Denken, Handeln und Leben vieler Menschen nachhaltig verändert. Vor allem auch bei jungen Menschen, die teilweise auf engem Raum gefangen und von der Außenwelt für mehrere Monate oder gar Jahre isoliert auf das Ende der Pandemie warten mussten, haben die Maßnahmen gefährliche Auswirkungen gezeigt.

Mit Wiedereröffnung der Nachtclubs, Bars, Kneipen und Diskotheken entdeckten viele Jugendliche nun das Nachtleben wieder für sich. Der Partyhype scheint nach Corona so stark wie nie zuvor ausgeprägt zu sein. Es ist allerdings nicht ungewöhnlich, dass (gerade junge) Menschen sich in Zeiten größter Schwermut in die Feierlaune stürzen. Schon die Weimarer Republik war für ihr ausschweifendes Nachtleben als krassem Gegensatz zu der in den 1910er Jahren noch vorherrschenden Zerstörungswut des ersten Weltkrieges bekannt.

Das Nachkriegsleben der Weimarer Republik

Mit dem Ende des Ersten Weltkrieges im Jahr 1918 endete auch das bis dahin grauenhafteste Gemetzel der Weltgeschichte, bei dem mehrere Millionen Menschen ihr Leben und den über Dekaden hinweg aufgebauten Wohlstand verloren hatten. Die unmittelbare Zeit danach war nicht viel ruhiger. Besonders die frühen Jahre der neugegründeten Weimarer Republik waren von politischer Instabilität, Hyperinflation und einer Reihe bürgerkriegsähnlicher Konflikte geprägt. Putsch- und Umsturzversuche der zentristischen Regierung in Berlin durch Kommunisten und Royalisten waren an der Tagesordnung, ebenso die regelmäßige Ausübung politisch motivierter Attentate, wie beispielsweise die Ermordung von Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg zeigt. 

Erst ab etwa 1923 würde das Land für eine Weile zur Ruhe kommen und auch der Wohlstand in Deutschland mit der Einführung einer Währungsreform zumindest zeitweise zurückkehren. Die (zumindest für manche Teile der Bevölkerung) florierende Wohlstandsentwicklung im Land löste eine zügellose Feierwut aus. Vor allem das Vaudeville-Theater der 1890er Jahre, das Cabaret und Burlesque-Vorstellungen entfachten große Begeisterung. Schauspielerinnen und Sängerinnen wie Marlene Dietrich oder Lilian Harvey konnten mit ihrer liebreizenden Art die Gemüter der Bevölkerung im Sturm erobern. Historiker sind sich weitestgehend einig, dass die Deutschen, denen Inflation, Kriegsverderben und die allumgebende Unsicherheit der zurückliegenden Jahre noch tief im Mark steckten, nun mit der Eroberung des Nachtlebens und der Vergnügungssucht einen Weg gefunden hatten, um dem Elend ihrer Vergangenheit zumindest für den Augenblick zu entkommen. 

Das Leben in der Post-Covid Ära

Auch im Deutschland des 21. Jahrhunderts ist dieser Eskapismus deutlich zu erkennen. Die Coronapolitik hat neben der emotionalen Vereinsamung der Menschen auch zu wirtschaftlichen und ideologischen Umbrüchen in Deutschland geführt, die vielen Jugendlichen Angst vor den Konsequenzen der politischen und gesellschaftlichen Instabilität machen. Hinzu kommt ein surreal anmutender Krieg in der Ukraine, dessen langfristige Auswirkungen auf unser Leben noch vollkommen unbekannt sind. Exzessive Partys sind daher bei vielen eher eine Flucht aus dem niederschlagenden Alltag als ein Ausdruck von Lebensbejahung.

Die über Jahrzehnte hinweg in Schulen anerzogene linksliberale Weltanschauung der meisten Jugendlichen ist in wenigen Jahren an der kalten Realität zerschellt. Ob wir in diesem Zusammenhang nun vom Glauben an den „ewigen Frieden“, die Unverletzbarkeit des Grundgesetztes, der in ihm festgehaltenen Grundrechte oder von der Mär über die unabhängigen demokratischen Institutionen unsere Landes sprechen: der Traum vom „Deutschland, in dem wir gut und gerne leben“ ist für viele zerplatzt. Das zu akzeptieren und nach sinnvollen Lösungen zu suchen, fällt vielen schwer.

Diese ideologische Leere, zusammen mit der Einsamkeit und Isolation der Pandemie, hat bei einigen jungen Leuten zu geistesgesundheitlichen Problemen geführt. Immer mehr Jugendliche sind schon jetzt auf medikamentöse Schlafmittel angewiesen – hinzu kommt eine sichtbar ansteigende Zahl von jüngeren Konsumenten diverser Pharmazeutika zur Bekämpfung von Depressionen. Außerdem war schon zu Coronazeiten immer wieder von überfüllten Kinder- und Jugendstationen in psychologischen Gesundheitseinrichtungen zu lesen. Der Wunsch, sich auf auf Partys mit Alkohol und Ballermann-Gegröle abzuschießen, ist nur ein weiteres Symptom dieser Entwicklungen und sollte nicht unterschätzt werden.


„Die Welt nach Corona wird die gleiche Welt sein, nur ein wenig schlimmer.“

-Michel Houellebecq 


Orgien, Lebenslust und wilde Gelage – aber nur für die Kamera

Von Pauline Schwarz | Es ist so weit. Die Corona-Maßnahmen sind weg. Jetzt heißt es: endlich raus auf die Piste, in die Bars, Restaurants und Clubs. Also: Halleluja, wir können wieder leben! Junge Leute können wieder junge Leute sein, das Leben genießen, tanzen, feiern, trinken und lachen. Und das tun sie ausgiebig – zumindest für Social-Media. Heutzutage versucht man sich bei Instagram, TikTok, SnapChat und Co nämlich gegenseitig zu überbieten, wer am meisten Spaß oder den geileren Urlaub hat und wer die fetteste Party macht. Es geht um den perfekten Hintergrund, coole Klamotten, kurze Röckchen, Bikini-Posen, fesche Tanz-Moves und Champagner-Sausen. Das Leben ist schön – doch dann geht die Kamera aus. Plötzlich lacht keiner mehr. Jeder sitzt an seinem Handy, man hat sich nichts mehr zu sagen.

 

Das Social-Media-Universum war schon immer ein Verein von Selbstdarstellern und Realitätsaufhübschern – deshalb habe ich irgendwann selbst Facebook gelöscht. Ich war noch nie besonders fotobegeistert, hatte keine Influencer-Ambitionen und interessierte mich auch nicht dafür, was irgendein entfernter Bekannter gestern wieder Tolles gegessen hat – geschweige denn, welchen neuen kreativen Fitness-Trick er sich ausgedacht hat. So à la „ich mache Liegestütze mit meinem Hund auf dem Rücken und balanciere dabei einen Grünkohl-Smoothie auf meinem Kopf. Ich bin die Lässigkeit in Person“. Die Heuchelei ist also nichts Neues und bis zu einem gewissen Grad ist das ja auch noch okay, denn: Klar, jeder will ein bisschen cooler wirken als er ist – sei es auf Social-Media oder der Straße, wenn gerade ein interessanter Typ oder ein hübsches Mädel vorbeiläuft. Mit der Post-Corona-Lebensglücks-Darstellung haben wir aber eine neue Eskalationsstufe auf der Seht-mich-alle-an-ich-bin-ach-so-glücklich-und-toll-Skala erreicht. Denn so richtig glücklich scheinen die meisten Leute nicht – im Gegenteil.

 

Meine Feldstudie im Urlaub

Während meines letzten Urlaubs konnte ich eine kleine Feldstudie an jungen Leuten aus aller Welt durchführen – der Social-Media-Virus ist nämlich wirklich eine nationenüberschreitende Seuche. Und das Ergebnis war heftig. Ich hatte den Eindruck, dass kaum einer mehr ausgeht, um jemanden kennenzulernen, sich ein bisschen was zu trauen und auszuprobieren oder schlicht, um mit seinen Freunden einen schönen Abend zu verbringen. Eigentlich wirkten die meisten jungen Leute verdammt depressiv – sie brauchten immer erst so drei bis vier in einem Affenzahn runtergekippte Drinks, um überhaupt ein paar Worte miteinander zu wechseln. War der Kontakt-Pegel erreicht, startete man langsam, aber sicher, seinen Kampf an der Instagramm-Front. Dafür muss als erstes irgendein cooles Gimmick her, z. B. eine Shisha. Hat man seine Requisiten beisammen, wird ein Video nach dem anderen abgedreht, in dem man lässig den Rauch in die Kamera bläst, während man seine Hüften im Takt der Bässe kreisen lässt und ab und an nochmal den Arm als Party-Statement nach oben schwingt.

 

Man muss sich das so vorstellen: Da sitzen -zum Beispiel- zwei irische Jungs Anfang zwanzig mit einem blonden Mädel mit ausladendem Dekolleté und mehr als nur kurzen Röckchen am Tisch und trotzdem schenkt keiner der kurvigen Blondine Beachtung. Sie selbst beschäftigt sich auch lieber mit ihrem Handy, als mit einem der Kerle. Jeder macht für sich ein Video oder gleich einen Live-Call mit irgendeinem Freund in der Heimat, dem man zeigen will, wie neidisch er auf den Urlaub des anderen sein sollte. Das Gegenüber wird höchstens als weitere Requisite in das SnapChat-Video eingebaut – und hat damit, allen Ernstes, nicht mehr Relevanz als die Shisha. Zwischen den Videos wird kein Wort gesprochen. Es wird auch nicht mehr getanzt oder auch nur mit dem Kopf zur Musik gewippt. Schaut man sich die Gesichter der aufgestylten Jungs und Mädels genauer an, sehen sie eigentlich ziemlich traurig und fertig aus. Für sie scheint die Lösung ihrer Depression: jede Menge Alkohol und eine kräftige Portion Selbstdarstellung.

 

Ich hoffe, ihre Mütter sind zu alt, um das Internet zu benutzen

Ein anderes Musterbeispiel kam aus Italien: Ein Kerl Anfang dreißig betrat die Bar, in der ich gerade die ulkigen Iren beobachtete, mit einem Kamera-T-Shirt – ja richtig gehört. In das T-Shirt des Typen war eine Kamera integriert. Und das war nicht nur ihm, sondern auch seinen zwei torkelnden Komparsinnen, sehr bewusst und wichtig. Die Frauen konnten keine drei Meter weit laufen, ohne ihren Hintern mindestens einmal in die Kamera zu halten und ihn kräftig zu schütteln – ich dachte nur: hoffentlich sind ihre Mütter, Väter und Omas zu alt, um zu wissen, wie man das Internet benutzt. Und das dachte ich in diesem Urlaub wirklich oft, denn am Strand war es mindestens genauso schlimm, wie abends in der Bar.

 

Die jungen Leute können und wollen anscheinend selbst dort überhaupt nicht mehr entspannen – nicht mal bei Sommer, Sonne, Sonnenschein und 30 Grad am Meer. Aber wie soll das auch gehen, eine gute Story zu posten ist harte Arbeit und die Jugend von heute arbeitet wirklich rund um die Uhr. Ohne dass noch so etwas komisches, wie Schamgefühl in den Leuten hochkommen würde, wird in aller Öffentlichkeit kräftig rumposiert. Der Hintern wird über Stunden in jeder erdenklichen Pose vor dem Meer in die Kamera gestreckt, während der rekrutierte Fotograf Anweisungen gibt, wie kleine Speckröllchen am Bauch verschwinden oder der Allerwerteste noch ein bisschen runder und voluminöser aussieht. Ist unter den siebenhunddertfünfundachtzig Bildern eines, das gefällt, wird vielleicht nochmal das Gesicht abgebildet – am besten mit einem Cocktail. Bei dreißig Grad in der Sonne wird um 12 Uhr nämlich nicht selten schon das vierte Bier, die zweite Flasche Schampus oder der obligatorische Sex on the Beach geköpft.

 

Eigentlich ist es nicht lustig, sondern traurig

Solange das nicht in lautem Grölen, Gekotze und dem unerlaubten Tanz auf meinem Handtuch endet – have fun. Und ja, ich geb‘s zu: Die angesüffelt-süffisanten Instagrammer und Influencer belustigen mich bis zu einem gewissen Grad – wenn die junge spanische Chica beim Posen im Wasser über einen Stein stolpert und mit dem Gesicht voran hinein plumpst, sieht das schon ziemlich witzig aus. Und lästern tu ich als stolze Vertreterin der weiblichen Spezies eh gerne. Die ganze Sache an sich ist aber eigentlich nicht lustig, sondern traurig. Die jungen Leute von heute, vom Schulalter bis in die Dreißiger, wissen überhaupt nicht mehr, wie man im hier und jetzt, also in der Realität, lebt. Sie essen komische Dinge, die nicht schmecken und quälen sich so lange im Fitness-Center, bis sie den vermeintlich perfekten Körper haben. Den stellen sie dann im Internet zur Schau – freilich nicht, ohne noch drei Filter drauf zu klatschen, so dass man sie am Ende überhaupt nicht mehr wiedererkennt. Und dabei tun sie dann unter Zuhilfenahme von Alkohol auch noch so, als hätten sie nach dem heißersehnten Ende der „Pandemie“ nun die Zeit ihres Lebens.

 

In Wirklichkeit scheinen viele junge Leute ihre Lebenslust und Freude, sofern sie nicht schon durch Körper- oder Klimawahn ausgetrieben wurde, in den letzten zwei Jahren sozialer Isolation und Panikmache völlig verloren zu haben. Darüber täuscht auch kein aufgesetztes Lächeln, keine Bootstour auf Santorini und keine Champagner-Sause hinweg.


Hat jeder Wohlstand ein Ende? Deutschlands Parallelen zu Japan

Von Simon Ben Schumann | Die Corona-Krise scheint sich langsam zu verflüchtigen. Mit ihr fallen weltweit starke Einschränkungen von Grundrechten, Hass gegen Andersdenkende ist zumindest momentan weniger zu vernehmen. Der digitale Impfnachweis als Voraussetzung zur Teilnahme am alltäglichen Leben ist vorerst keine Realität mehr, auch die allgemeine Impfpflicht wurde abgelehnt. 

Doch wo Mitternacht vorbei ist, muss noch lange nicht die Sonne scheinen. Unsere Gesellschaft steht vor großen Problemen – und das, obwohl so vieles nach Besserung aussieht. 

Die Spaßgesellschaft 

„Die Geschichte wiederholt sich nicht, aber sie reimt sich“ – das soll Mark Twain einmal gesagt haben. Und tatsächlich: Zivilisationen, Kriege und sogar Dekaden lassen sich manchmal gut vergleichen. Mit den Goldenen Zwanzigern haben wir z. B. eine Pandemie Anfang des Jahrzehnts, steigende Inflationsraten und technischen Fortschritt gemeinsam. Kommt euch bekannt vor? Aber hallo!

Eine Parallele, in der wir heute den Menschen in der Weimarer Republik in nichts nachstehen, ist der Hedonismus. Für alle, die im Philosophie-Unterricht zufällig auf der Toilette waren: Das bedeutet Streben nach Lustbefriedung und Schmerzvermeidung als höchster Lebenszweck. In den „Roaring Twenties“ gab es viel davon: Luxus verbreitete sich, Nachtclubs mit Tänzerinnern à la Josephine Baker öffneten, teure Autos befuhren die Alleen der Großstädte. Ein krasser Gegensatz zur prüden monarchischen Gesellschaft. 

Heute findet das alles in weit größerem Rahmen statt: Sei es die Hook-Up-Culture auf Tinder & Co, „Blackout Saufen“ am Wochenende, starke Sexualisierung und Gewaltverherrlichung in der Pop-Kultur, Ehe- und Kinderlosigkeit etc. Auch der Hype um gewisse Themen kann als ein Merkmal einer „Spaßgesellschaft“ betrachtet werden: An der Börse wird oft in das investiert, was im Reddit „Wallstreetbets“ angesagt ist (wobei ich keine Ausnahme bin). Die neueste Diät, der neueste Sneaker, die neueste Uhr – iced out, versteht sich. All das macht das öffentliche Leben immer mehr aus – und den Alltag junger Leute Stück für Stück belangloser. 

Die Kirchen als althergebrachte Kulturstifter haben oft ausgedient. Man könnte sagen, unsere Zivilisation steht am Zenit ihrer Entwicklung, aber wie lange wird sie sich dort halten können? 

Golden Twenties forever? 

Ein gutes Beispiel dafür, wohin eine zwar wohlhabende, aber perspektivlose Gesellschaft abdriften kann, ist das Land Japan. 

Früher bekannt für brutalste Kriegsführung und Expansionismus an der Seite der Nazis, hat sich das Land nach dem 2. Weltkrieg mit dem Westen versöhnt. Innerhalb einiger Jahrzehnte boomte die Wirtschaft, Japan war auf dem Weg, die USA zu überholen. Doch in den späten 1980er Jahren und besonders in den 1990ern platzte die Seifenblase. Der Leit-Börsenindex Japans ist der Nikkei 225. Er stand 1989 bei fast 40.000 Punkten. Danach stürzte er ab und hat sich seitdem nie mehr erholt. Heute steht er bei noch knapp 27.000 Punkten. 

Genauso verhält es sich mit der Bevölkerungsentwicklung in Japan. Wir in Deutschland diskutieren seit Jahrzehnten über das Thema demographischer Wandel – ein Blick nach Japan zeigt, wie es bald bei uns aussehen könnte. Die Bevölkerungspyramide dort hat bereits die gefürchtete „Urnenform“ angenommen. Die Geburtenrate lag 2016 bei 1,44 – bei uns beträgt sie aktuell ca. 1,5. Das heißt, Rentner und ältere Arbeitnehmer stellen den Großteil der Menschen, während deutlich weniger Kinder als früher nachkommen. Die Belastung liegt bei den Jüngeren, die mit immer mehr Druck, Stress und Abgaben zu kämpfen haben. Logisch: Um Renten zu zahlen. In Japan gibt es sogar ein Wort dafür: „Karōshi“, was sinngemäß „zu Tode gearbeitet“ bedeutet. Wohlstandsverlust ist weit verbreitet. Um das System aufrechtzuerhalten, sind die Zinsen schon lange im Nullbereich; die japanische Zentralbank kauft Staats- und Unternehmensanleihen auf. 

Die einzig boomende Branche ist der Unterhaltungssektor. Manga, Videospiele, Karaoke und Co. sind willkommene Ablenkung. Und auch wir beobachten bei uns immer mehr Eskapismus in Entertainment aller Art, wobei Moral und Realität oft auf der Strecke bleiben, siehe Corona. 

Erwartet uns also eine Zukunft wie in Japan? Ich hoffe doch nicht. Und wenn es einer in der Hand hat, dann wir jungen Leute.


Lieber Bubikopf als Jogginghose

Von Selma Green | Noch vor einiger Zeit kam ich durch kein Einkaufs-Center, ohne dass meine Hände vom Tragen der vielen Taschen schmerzten und meine Füße irgendwann schwer wie Blei wurden. Ich weiß noch genau, wie ich an einem solchen Tag erschöpft aber zufrieden in den Stuhl eines Cafés der Mall of Berlin sank und einen Kakao schlürfte, während ich stolz meine Ausbeute begutachtete: Ein Rock von H&M, zwei hübsche Oberteile von Zara und dort in dem Tütchen noch ein paar Ohrringe von Bijou Brigitte. Shoppen machte mir damals noch richtig Spaß – aber das ist leider vorbei. Heute bin ich in einer halben Stunde mit den Läden durch und mein Rucksack ist genauso leer wie vorher. Denn mal im Ernst: Das was man momentan so in den Läden kaufen kann, erinnert mehr an Haushaltswaren oder den berühmt berüchtigten Kartoffelsack, als an Mode. 


Was ist nur mit der Frauenmode los?

Inzwischen sind die Modegeschäfte bis zum Gehtnichtmehr mit Hosen gefüllt, die so lang und weit sind, dass man ein Zelt damit aufstellen könnte. Noch schrecklicher als die Ballon-Hosen, sind nur die Kleider und Röcke – die sehen aus wie Gardinen. Ich frage mich immer wieder: Wer zieht freiwillig sowas an? Und welches Mädchen trägt schon gerne Holzfällerhemden, einen XXL-Blazer mit Schulterpolstern oder einen Woll-Pullunder? Ich jedenfalls nicht, aber es gibt sie anscheinend. Genau wie die vielen Mädchen, die zu einfach jedem Anlass einen grauen Pullover und eine Jogginghose anziehen. Wenn es darum gehen würde, im Winter nicht zu erfrieren und der Kleiderschrank nichts Wärmeres hergibt, könnte ich damit ja noch leben. Im Frühling mit diesem Schlafanzug-Look herumzurennen, ist aber schlicht ein Mode-Fauxpas.

Wo bleibt die Lebensfreude und die Weiblichkeit in der Damenmode? Wann kommt endlich, nach zwei quälend langen Jahren sozialer Isolation, die Freude am Leben wieder – und damit auch der Wille, sich hübsch zu kleiden? Vor hundert Jahren, sind die Menschen auch aus einer Krise gekommen und ließen sich trotzdem nicht gehen. Im Gegenteil. Nach der Kaiserzeit, den Verlusten des ersten Weltkrieges und der Hyperinflation 1923 galt es, das Leben in vollen Zügen zu genießen – und neben Film, Theater und dem ausschweifenden Nachtleben in Tanzclubs und Kinos, kennzeichnete das auch die Damenmode. Sie war zwar nicht gerade die weiblichste, doch das hatte damals auch einen Grund. In den “Goldenen Zwanzigern” lösten sich die Menschen das erste mal von ihren konservativen Werten. In den darauffolgenden Kurzhaarfrisuren und Anzüge spiegelte sich die Emanzipation der Frau in der Mode wider.

 

Perlenketten, Bubikopf und Zigarettenspitzen

Bei den meisten Kleidern aus den 1920ern frage ich mich heute, ob der Schneider jemals eine Frau gesehen hat: Der Bund der Taille lag unter dem Po, sodass die Kleider wie Säcke aussahen, die man ganz unten zusammengeknotet hat. Man sah kein bisschen Taille, Hüfte oder Brust und ließ auch keinen noch so kleinen Blick über die Knie zu. Ganz zu schweigen von den Röcken! Entweder sahen sie aus, als hätte man sie durch einen Papierschredder gejagt, oder wie ein Tannenbaum. Aber: Trotz des grauenhaften Schnitts der Damenklamotten erregten sie durch Strass, goldenen Stoff, dicke Perlenketten, Schleifen und auffälligen Make-ups schon von weitem Aufmerksamkeit. Man wollte nicht im Hintergrund verschwinden, sondern auffallen. Die Frauen fingen sogar an Indianer zu spielen, und klemmten sich Bänder mit Federn um den Bubikopf – der gewann nämlich immer mehr an Popularität. Genau wie die goldenen Zigarettenspitzen, die das Rauchen der Frauen in der Öffentlichkeit zum Trend machten.

Die Damenmode von 1920 war damit insgesamt zwar auch nicht besonders feminin, doch sie unterschied sich in ein paar wesentlichen Punkten: Sie strahlte pure Lebenslust aus – heute fehlt davon jegliches Anzeichen. Ich meine, Hallo, wo bleibt der Glitzer und die kurzen Kleider und Röcke? Was soll das mit den ganzen Grautönen und Camping-Hosen? Außerdem hatten die Frauen trotz ihrer komischen Outfits immer einen Funken von Eleganz, während die Damenmode heute irgendwo zwischen Schlafanzug und Obdachlosigkeit einzuordnen ist. Und, auch wenn sich die Frauen aus den Zwanzigern an der Männermode orientierten, brachten sie immer etwas Weibliches mit ein: Der Anzug der Frauen bekam eine Taille, der Bubikopf Wellen, und die Zigarette eine schmale, goldene Spitze.

 

Wo bleibt der Stolz?

In den 1920ern ging es um die Freiheit und Eigenständigkeit der Frau – einer Frau die sich zeigen, auffallen und Spaß haben wollte. Heute verstecken die Frauen und Mädchen alles Weibliche. Sie legen es darauf an, mit fettigen Haaren, der gleichen Jacke wie der vom Obdachlosen um die Ecke und einer Hose wie der von Aladin herumzurennen. Wie kann man das schön finden? Und tun sie das überhaupt oder ist ihnen ihre Weiblichkeit vielleicht sogar unangenehm oder peinlich? Vielleicht ist es auch beides, fest steht aber: Es fehlt jede Spur von Eleganz und Stolz auf den weiblichen Körper. Er verschwindet hinter einem Trash-Look, der jegliche Anzeichen des eigenen Geschlechts übertüncht.


Wie sagte Karl Lagerfeld mal so treffend: “Wer Jogginghosen trägt, hat die Kontrolle über sein Leben verloren“?


Der Geist des Winterkriegs

Von Pauline Schwarz | Seit Putin seine Truppen in die Ukraine einmarschieren ließ und damit den wohl brutalsten Angriffskrieg auf europäischem Boden seit Ende des zweiten Weltkriegs entfesselte, gerieten die Überzeugungen so einiger EU-Staaten ins Wanken. Während das sonst so pazifistische Deutschland plötzlich seine Bundeswehr aufmöbeln will, bröckelte in Schweden und Finnland angesichts der neuen Bedrohungslage das jahrzehntlange Festhalten an der strikten militärischen Neutralität. Entgegen allen früheren Trends, wurden die Stimmen für einen Nato-Beitritt in Politik und Bevölkerung nicht nur immer lauter, die Eintrittsanträge wurden bereits eingereicht – trotz aller Drohungen aus Moskau. In Finnland, das sich eine 1340 Kilometer lange Grenze mit dem russischen Nachbarn teilt, wurde bis vor kurzem noch im Alleingang militärisch aufgerüstet – und zurückgedacht. Auf der Münchner Sicherheitskonferenz im Februar sagte Finnlands Präsident Niinistö, die gegenwärtige Lage erinnerte ihn an die Zeit vor dem Winterkrieg. Eine Zeit, als Stalin geglaubt habe, das finnische Volk spalten und ihr Land leicht einnehmen zu können. Doch das Gegenteil war der Fall: Die Finnen sind enger zusammengerückt. Sie haben ihre Gebiete, obwohl zahlenmäßig und ausrüstungstechnisch völlig unterlegen, lange, erfolgreich und bis aufs Blut verteidigt.

Stalin hatte im Jahr 1939 wohl gedacht, dass es ein Leichtes werden würde, den finnischen Nachbar zu überfallen und zu überwältigen. Nach Unterzeichnung des Hitler-Stalin-Paktes im August 1939, stellt Stalin im September weitreichende Gebietsansprüche an den finnischen Staat – im „geheimen Zusatzprotokoll“ wurde nämlich nicht nur Polen unter den zwei Großmächten aufgeteilt. Estland, Lettland, später Litauen und Finnland wurden den „Interessensphären“ der Sowjetunion zugesprochen. Als die finnische Regierung die Forderungen zurückwies, kündigte Stalin am 28. November 1939 den seit sieben Jahren bestehenden Nichtangriffspakt und ließ seine Armee zwei Tage später -nach einem vorgetäuschten Überfall von Finnen auf ein russisches Dorf im Grenzgebiet- nach Finnland vorrücken. Da die Finnen sich nicht freiwillig unterwarfen, wollte er sich seine Beute aus dem Hitler-Stalin-Pakt wohl mit Gewalt holen.

Die Rote Armee überschritt die Grenze mit fast 500.000 Soldaten, 1.500 Panzern und 3.000 Flugzeugen. Finnland standen hingegen nur etwa 150.000 Mann zur Verfügung. Sie hatten nicht mehr als veraltete Geschütze, kaum Panzer und Flugzeuge – aber dafür einen herausragenden Kommandanten. Carl Gustav Emil Mannerheim war ein ehemaliger russischer General, hatte Zar Nikolaus II. bei seiner Krönung als Teil der Leibgarde zur Seite gestanden, 30 Jahre in Russland gelebt und war nun fest entschlossen sein Heimatland gegen die Invasoren zu verteidigen – als zarentreuer Offizier hatte er der Sowjetunion schon nach der Machtergreifung der Bolschewiki den Rücken gekehrt. Er war es auch, der als Oberbefehlshaber der bürgerlichen Kräfte die „Roten Garden“ im finnischen Bürgerkrieg 1918 zurückgeschlagen hatte. Danach war er kurzfristig Reichsverweser und diente ab 1933 wieder als Feldmarshall. Als die Rote Armee in Finnland einfiel, sollte er erneut zum „Retter Finnlands“ werden.

Mannerheims Truppen konnte den Vormarsch der Sowjets dank einer dünnen Befestigungslinie, die sich über die Karelische Landenge zog, nach nur wenigen Tagen aufhalten. Das einfache System aus Bunkern, Schützengräben und Drahtverhauen wurde später als „Mannerheim-Linie“ weltbekannt. Sie lief entlang des Flusses Vuoksi, dessen seeartige Ausläufer kaum von einer motorisierten Armee überwunden werden konnten. Doch allein um bis zur Mannerheim-Linie zu gelangen, brauchten die sowjetischen Truppen eine ganze Woche. Dann lief sich die Offensive fest – auch wegen des einsetzenden Winters mit bis zu 50 Grad minus. Während die kleinen finnischen Infanterie-Einheiten ausgerüstet mit Schneeanzügen auf Skiern durch die Wälder glitten, hatten die sowjetischen Soldaten weder Winterausrüstung noch Tarnanzüge. Ihre Waffen versagten, weil das Schmieröl gefror. Die Fahrzeuge verbrauchten immense Mengen Treibstoff, weil der Motor ständig am Laufen gehalten werden musste – Unmengen, die über die dünnen Nachschubwege unmöglich ersetzt werden konnten. Die Kampfmoral muss ebenfalls gelitten haben – unter der Kälte, wie unter falschen Versprechungen. Denn den Soldaten soll gesagt worden sein, dass das unterdrückte Proletariat Finnlands sie als Befreier empfangen und sich auf ihre Seite schlagen würde. Aber das Gegenteil war der Fall.

Mannerheim nutzte den taktischen Vorteil von Wetter- und Landschaftskenntnis und setzte auf die „Motti-Taktik“, bei der man sowjetische Einheiten von ihren rückwärtigen Verbindungen abschnitt und einkesselte. Die Finnen nutzen außerdem die Taktik der „verbrannten Erde“. Sie brannten ihre eigenen Dörfer nieder und zerstörten alles, was den Feinden nützlich sein könnte – selbst Nutztiere sollen mit Sprengfallen versehen worden sein. Außerdem lauerten überall Scharfschützen, die im tödlichen Weiß wohl beinah unsichtbar gewesen sein müssen. Die Finnen waren ausdauernd und einfallsreich. Eine bis heute weltbekannte Erfindung der finnischen Truppen ist eine mit Benzin gefüllte Flasche, die mit einem Stofffetzen entzündet wird – der „Molotow-Cocktail“. Für die Finnen war der Cocktail die sarkastische Antwort auf eine Erklärung des sowjetischen Außenministers Molotow, der propagierte, die sowjetischen Flugzeuge würden statt Bomben nur Brotsäcke für die arme hungernde Bevölkerung abwerfen: Zum Brot gab´s nun das passende Getränk.

Neben dem Willen und dem Einfallsreichtum der finnischen Truppen war wohl auch Stalin selbst Grund für die enormen Verluste und die -zumindest zeitweilige- Unterlegenheit seiner Truppen. Stalin hatte getrieben von seinem Verfolgungswahn im Zuge der Parteisäuberungen 1937 seinen gesamten Offizierskorps als Verschwörer und Verräter verhaften und töten lassen. Dem internen Terror fielen etwa 10.000 Offiziere zum Opfer – die Armee wurde von der eigenen Führung zersetzt. Sie soll sich davon bis zum Beginn des zweiten Weltkriegs nicht erholt haben. Den sowjetischen Soldaten in Finnland könnte es demnach an sachkundiger Führung gefehlt haben – angesichts der Tatsache, dass sie nicht mal Winterkleidung hatten, wohl nicht besonders weit hergeholt.

Erst als die Truppen der Roten Armee stark verstärkt wurden, gelang ihnen im Februar 1940 der Durchbruch der Mannerheim-Linie. Die Finnen hatten verloren – und doch gewonnen. Über 200.000 Russen sollen im Winterkrieg ihr Leben gelassen haben – wurden erschossen, versprengt oder sind schlichtweg erfroren. Auf finnischer Seite beklagt man etwa 27.000 Tote. Stalins Armee war zu diesem Zeitpunkt in so schlechter Verfassung, dass er seinen Plan, ganz Finnland wieder in die Sowjetunion einzugliedern, aufgeben musste. Er bekam eine 35.000 Quadratkilometer große Schutzzone um Leningrad. Finnland verlor damit einen Teil seines Gebiets, aber es hatte sich seine Souveränität bewahrt. Seither gilt der Winterkrieg als Sinnbild für die Schlacht von David gegen Goliath – für den Moment als Finnland dicht zusammenstand und sich auch keiner noch so großen Übermacht beugen wollte. Er steht für den finnischen Unabhängigkeitswillen.