Archiv: Juli 27, 2022

„Queer as in free Palestine!“ – die LGBTQ-Community hat ein Antisemitismus-Problem

Von Simon Ben Schumann | Am 23. Juli zogen im Rahmen der „Internationalistischen Queer Pride“ tausende Menschen durch die Straßen Berlins. Die Veranstaltung sollte eine Alternative zum Christopher Street Day bieten, der von Teilen der linken Szene als zu kommerziell, zu mainstream oder als nicht radikal genug betrachtet wird. Auf dem Straßenzug, der dem „antikolonialen, antirassistischen und antikapitalistischen Freiheitskampf“ gewidmet war, wurde dann schnell deutlich, dass es nicht allein um die Sichtbarkeit und Rechte der queren Community ging. Die Teilnehmer und Redner forderten Gleichheit, Toleranz und Antirassismus, während aus den eigenen Reihen gleichzeitig offen und aktiv gegen den Staat Israel gehetzt wurde.

Israel – Feindbild Nummer Eins

Die Demonstration wurde von einem Potpourri verschiedener Gruppen veranstaltet , die sich als „IQP“ zusammenschlossen. Darunter fanden sich Namen wie „Migrantifa Berlin“ – einem Ableger der Berliner Antifa – und „Palestine speaks“, die schon bei vergangenen Veranstaltungen, unter anderem der „Revolutionären 1. Mai-Demo“ mit aggressivem Antisemitismus aufgefallen waren. „Palestine speaks“ fiel erst im  Mai mit einer antizionistischen Demonstration auf dem Platz vor der alten Synagoge in Freiburg auf. Diese wurde 1938 von den Nazis niedergebrannt. Gegen den „Apartheidstaat Israel“ an solch einem Ort zu demonstrieren: Geht’s noch amoralischer? 

Mehrere der Gruppen sind außerdem Teil der Kampagne „BDS“, die Israel durch Boykotte, Isolation und Sanktionen schwächen will. Weil die BDS-Bewegung vorsätzlich der Zivilbevölkerung in Israel schadet, wird sie weitläufig als antisemitisch eingestuft. Der Einfluss dieser Gruppen machte sich schon auf dem offiziellen Instagram-Account des Bündnisses bemerkbar. Am 20. Juli postete man dort ein „Awareness Statement“, in dem es heißt: „Es gibt keine Befreiung für uns alle ohne die Befreiung der Palästinenser: innen. Die sogenannten Antideutschen sind bei dieser Veranstaltung nicht willkommen.“ Das Statement impliziert sofort, dass die Palästinenser befreit werden müssten. Die Israelis werden in die Rolle des brutalen, „versklavenden“ Unterdrückers gezwängt, obwohl Araber im Land zumindest de jure Rechtsgleichheit besitzen. Das uralte Stereotyp des ausbeuterischen, eiskalten Juden wird damit (bewusst?) bedient. Außerdem seien die „Antideutschen“ nicht willkommen. Unter diesem Schlagwort versteht man in „der Szene“ alle Menschen, die sich pro-Israel positionieren und nicht den ach so bösen Zionisten die Schuld am Nahostkonflikt zuschieben.

„From the river to the sea…“

Das makabre Schauspiel ging auf der Demo weiter. Das Jüdische Forum war vor Ort und berichtete von Sprechchören, die ein Palästina vom Mittelmeer bis zum Jordan und damit die Vernichtung Israels forderten. Eine Rednerin bezeichnete das Land als „koloniales Siedlungsprojekt“. Transparente und Schilder wetterten gegen Unternehmen, die irgendwie mit Israel zusammenarbeiten. „Zionism is racism“, „Queer as in free Palestine“, „No pride in Apartheid“ waren nur einige der Slogans. Auch eine weitere Intifada wurde von Demonstranten „vorgeschlagen“. 

Man muss sich wirklich wundern, wie eine Queer-Pride-Demo sich so gegen den einzigen jüdischen Staat stellen kann – und dass, während Sex zwischen Männern im Gazastreifen mit bis zu zehn Jahren Haft bestraft wird. 2019 forderte die Palästinensische Autonomiebehörde Bewohner auf, „verdächtige Aktivitäten“ zu melden, was bedeutet, dass Schwule, lesbische, bisexuelle und transsexuelle Palästinenser in ständiger Angst vor Entdeckung und Verfolgung leben müssen. Wie wäre die Demo wohl ausgegangen, wenn man sie in Palästina veranstaltet hätte?

Die Berliner LGBTQI-Community sollte sich also mal fragen, wie ehrlich es ist, die eigene Marginalisierung zu beklagen und allumfassende Toleranz zu fordern, während man gleichzeitig aggressiven und gewaltbereiten Antisemitismus auf die Straße trägt – und das von Leuten, die für die Rechte von schwulen, Lesben und Transsexuellen wenig übrig haben. 


Prostitution als normaler Job?

Von Anna Graalfs | Unter Feministinnen steht ein Thema zur ganz großen Debatte: Prostitution, beziehungsweise Sexarbeit. Dabei ist der Begriff nämlich entscheidend: Die einen reden von “Sexarbeit”, ein Beruf der selbstsicher gewählt worden ist, für den sich die Frau weder schämt noch ausbeuten lässt. “Prostitution” hingegen, sagt die andere Seite, ist klarer, struktureller Sexismus der im patriarchalen System verankert sei. Dabei ist beiden Fronten klar, dass der Kern des Metiers ein und derselbe ist: Sex gegen Geld.

Ein Gesetz, das nicht viel bringt

Gerade im linken Feministen-Milieu wird lautstark gefordert die Arbeit im horizontalen Gewerbe nicht als moralisch schlecht zu bewerten. Schließlich sei “sexwork” auch nur “work”. Eine Dienstleistung die ganz neutral gesehen werden sollte, wie beispielsweise der Beruf Frisör. Die rechtliche Grundlage dafür wurde schon 2002 mit dem Prostitutionsgesetz geschaffen. Jeder der sexuelle Dienstleistungen anbietet muss Sozialabgaben zahlen, kann sich versichern und Geld einklagen, wenn Kunden nicht zahlen. Eigentlich wie bei jedem anderen Job auch. Das Problem ist nur, dass die meisten Menschen nicht einmal von dem Gesetz wissen, viele Prostituierte auch nicht. Oder sie wissen davon, aber trauen sich nicht sich als Prostituierte anzumelden. Das Gesetz bringt ihnen nichts. Eine voreilige Stigmatisierung ist vielleicht nicht mehr so flächendeckend wie in den letzten Jahrhunderten, dennoch bleibt sie bestehen. Das Bild der klassischen Prostituierten ändert sich nicht: Eine sittenlose Frau, die ihren Spaß daraus zieht, ohne Hintergedanken mit verschieden, fremden Männern ins Bett zu hüpfen. Es kann sich kaum einer vorstellen, dass eine Prostituierte ihren Job vielleicht aus rein ökonomischen Gründen gewählt hat, ihn selbst als völlig neutral betrachtet und ihre Arbeit von ihrem Privatleben trennen kann. Trotzdem muss gesehen werden: eine Prostituierte verkauft ihren Körper — das ist Fakt. Dabei kann es durchaus schwierig werden diese beiden Seiten – die Selbstbestimmung aber auch die fragwürdige Moralität der Arbeit – zu vereinen.

Prostitution hat nichts mit female empowerment zu tun

Doch wenn Prostitution als “female empowerment”, also als Stärkung der Frauenrolle, beschrieben wird, muss ich gewaltig mit dem Kopf schütteln. Wenn wir “Sexwork” als ganz normalen Job ansehen sollten, ist eine solche Glorifizierung des Jobs auch ein Schritt nach hinten. Mal abgesehen davon, dass female EMpowerment impliziert, Frauen seien davor immer schwach und unterdrückt gewesen, bedeutet es auch, dass die Arbeit als Prostituierte eine Frau stärker, selbstsicherer macht. Auch wenn ich mich damit persönlich nicht identifizieren kann, bin ich sicher einige Frauen fühlen sich in der Rolle als Prostituierte glücklich und selbstverwirklicht. Aber man darf auch nicht vergessen wie viele Frauen noch unter Prostitution leiden, vor allem weil ihre Arbeit tragische Hintergründe hat. Eine Studie von Melissa Farley hat ergeben, dass 57 Prozent aller 130 in den USA befragten Prostituierten sexuelle Gewalt in ihrer Kindheit erlebt haben. 68 Prozent gaben außerdem an, seit Eintritt in die Prostitution vergewaltigt worden zu sein. Viele kommen aus schrecklichen Verhältnissen, betreiben Prostitution um ihre Drogensucht zu finanzieren und leiden folglich unter Depressionen. Geschlechtsverkehr gegen eine Bezahlung – ob man es jetzt Prostitution oder Sexwork nennt – mit dem Schlagwort “femaleempowerment” zu betiteln ist schlicht und ergreifend respektlos gegenüber allen durch Prostitution unterdrückten Frauen.

Ein Mittelweg zwischen Stigmatisieren und Normalisieren

Man kann Prostitution aber nicht verbieten. Das bekanntlich “älteste Gewerbe der Welt” existiert seit vielen Jahrhunderten. Schon im 13.Jahrhundert wurden in Deutschland die ersten Bordelle eingerichtet, obgleich der Begriff “Prostitution” zum ersten Mal 1567 in einem Dokument erwähnt wurde. In irgendeiner Form wird Prostitution immer existieren, also doch lieber legal als illegal, oder? Die Frage ist aber, ob man eine ständige Stigmatisierung von Prostituierten verhindern kann. Wird man Sexwork irgendwann auch einfach als Job ansehen können? Ich hoffe schon, aber “normalisieren” möchte ich Sexwork nicht. Das Wort “normalisieren” ist gefährlicher als man denkt und wird in so mancher linker Munde für meinen Geschmack zu oft gebraucht. Schließlich ist Sexwork ein außergewöhnlicher Job, die Durchschnittfrau in Deutschland kann sich nicht vorstellen Prostituierte zu werden. Es ist kein “Normalfall” Prostituierte zu sein. Ausbeutung und Missbrauch, die noch im Metier bestehen, sind andere Gründe dafür, warum man Prostitution nicht direkt als “normal” bezeichnen sollte. Was würde eine völlige Normalisierung von Prostitution auch für eine Doppelmoral darstellen: Eltern die ihrer 16-jährigen Tochter erzählen, sie soll erst intim werden, wenn sie wirklich sicher ist, dass ihr Freund “der Richtige” ist und sie sich bereit dafür fühlt. Dieselben Eltern, die ihrer Tochter aber auch versichern, klar, wenn sie Prostituierte werden will, dann soll sie Prostituierte werden. Die Türen stehen ihr alle offen und schließlich ist es ja auch nur ein Job wie jeder andere…                

Schlussendlich bleibt nur eins: Ob Prostitution Selbstbestimmung ist, zu Zufriedenheit (auf beiden Seiten) führt oder ob Prostitution von Ausbeutung und Gewalt geprägt ist und deswegen nicht zu befürworten ist, kann man nur im Einzelfall unterscheiden. Aber ein ganzes Metier einfach nur aufgrund von überholten Moralansichten zu verdammen wäre fatal. Wenn eine Frau unbedingt Prostituierte sein will, ist das letztendlich ihre freie, persönliche Entscheidung. Und wir leben ja nicht mehr im 18.Jahrhundert, oder?


Die Scheinrebellion der Vorzeigeschüler

Von Jonas Kürsch | Die Vertreter der Pop-Kultur des 21. Jahrhundert bezeichnen sich selbst und die Anhänger ihrer Bewegung gerne als bunt, divers und woke. Ganz egal, ob man nun von den amerikanischen Ikonen der zeitgenössischen Bubblegum-Pop-Musik oder von den längst verblassten Stars der faden Hollywood-Filmindustrie spricht: das Gesellschaftsbild der kreativen „Vorreiter“ meiner Generation ist vornehmlich von den prüden Visionen neulinker Ideologien geprägt. Zwar bezeichnet man jugendliche Idole wie den One Direction-Sänger Harry Styles oder die von der linksliberalen Presse als musikalisches Wunderkind hochgelobte Billie Eilish häufig als „die großen Kunstrebellen“ unserer Zeit, doch mit Rebellion hat das unterwürfige und (ehrlich gesagt) auch ziemlich spießbürgerliche Verhalten dieser Karriereopportunisten nichts zu tun. In früheren Zeiten wurde eine Kulturrevolution von der Politik und von den Tageszeitungen noch verächtlich gemacht; heute hingegen werden die sogenannten „Rebellen“ von der breiten Öffentlichkeit mit Applaus in ihrem „revolutionären“ Vorhaben unterstützt.


Von Elvis bis Jim Morrison

In den 1950er und 1960er Jahren sah das noch ganz anders aus. Wenn man beispielsweise einen Blick auf die mediale und allgemeine gesellschaftliche Rezeption von Elvis Presley wirft, so stellt man schnell fest, dass Presley zu seiner Zeit nur wenig Jubel von den erzkonservativen, öffentlichen Meinungsmachern erhielt. Durch seinen frivolen Tanzstil, der ihm den Beinamen „Elvis the Pelvis“ (dt. Elvis, das Becken) einbrachte, gewann der King of Rock’N’Roll zwar die Herzen seiner jugendlichen Fans im Sturm, doch die politischen Eliten waren von seiner Musik alles andere als begeistert. Im Gegenteil, viele erzreligiöse Gruppierungen verurteilten seine Musik als verdorben und protestierten vor allem gegen seine (heute legendären) Live Performances im amerikanischen Abend- und Nachtprogramm, die zwischenzeitlich sogar zensiert wurden.

Elvis Presley war alles andere als ein „Scheinrebell“, so wie es heute bei vielen Prominenten der Fall ist. Mit seinem Werk gab er einer jüngeren Generation die Möglichkeit, aus einem in vielerlei Hinsicht tatsächlich veralteten Rollenbild auszubrechen und die individualistischen Freiheiten der kapitalistischen Nachkriegsgesellschaft in vollen Zügen zu genießen. Ähnlich verhält es sich mit dem The Doors-Sänger Jim Morrison, der in den 1960ern zu einem der einflussreichsten Hauptprotagonisten der pazifistischen Anti- Kriegs-Bewegung wurde. Mit seinen lyrischen Texten repräsentierten er und seine Band wie kaum ein anderer die alles beherrschende Zukunftsangst der amerikanischen Jugend vor der potenziellen Ausweitung und Verschlimmerung der durch die US-Politik massiv

vorangetriebenen Stellvertreterkriege gegen den Kommunismus. Auch The Doors erhielten für ihre Protestpositionen keinen Applaus. Im Gegenteil, für ihr laszives und herausforderndes Auftreten sah sich die Musikgruppe mit dutzenden Unterlassungsklagen und Haftbefehlen aufgrund ihres angeblich obszönen Verhaltens konfrontiert.


Wogegen rebelliert ihr eigentlich?

Die Rebellen des 20. Jahrhunderts hatten noch echte Anliegen, mit denen sie die etablierten Wertvorstellungen des Mainstreams infrage stellten. Wenn Billie Eilish auf Wahlkampfveranstaltungen des US-Präsidenten Joe Biden – der sich selbst bereits mehrmals als „großer Fan“ der Sängerin bezeichnet hatte – über den Klimawandel singt, Harry Styles auf dem Cover der Vogue ein buntes Sommerkleid trägt oder Taylor Swift infantile („queere“) Lovesongs unter dem ideologischen Banner der Regenbogenflagge trällert, dann hat das nichts mit Protest oder Rebellion zu tun. Die zeitgenössischen Giganten der Unterhaltungsindustrie brechen nur noch mit Tabus, die aufgrund des bahnbrechenden Mutes von echten Rebellen wie Elvis oder Jim Morrison schon lange keine mehr sind.

Vor einigen Jahren fällte der Sex Pistols-Frontmann John Lydon ein knallhartes Urteil über die amerikanische Sängerin Courtney Love, das meiner Meinung nach kaum wahrhaftiger hätte ausfallen können. Er bezog seine Worte zwar nur auf das Werk dieser einen Grunge- Sängerin, doch ich bin der Ansicht, dass man sein Statement auch perfekt auf die meisten „Rockstars“ unserer Zeit übertragen kann: „Du liebst die Idee, ein Rebell zu sein, aber du hast weder mir, noch irgendwem anders erklärt, was es für dich überhaupt bedeutet, ein Rebell zu sein. Wogegen rebellierst du eigentlich? Du bist bloß ein Haufen aus Verwirrung!“ Ich teile seine Irritation zu 100%: wogegen rebelliert die woke Elite eigentlich? Sich für eine radikale Klimaschutzpolitik oder für eine wissenschaftsfeindliche Neudefinition der biologischen Geschlechter auszusprechen, führt doch heute zu keinem Skandal mehr: damit steht man geradezu in der Mitte unserer bunten Gesellschaft.

Der Traum von einer rebellischen Jugendkultur und aufrührerischen Jungbewegungen scheint weitestgehend ausgestorben zu sein. Dies wird einem schlagartig bewusst, wenn man sich genauer ansieht, wer heute so alles als Rebell durchgeht. Es macht den Anschein, als habe sich die linksliberale Prüderie in der westlichen Kultur weitestgehend durchgesetzt. Man kann daher nur hoffen, dass die echten Rebellen unserer Zeit sich im Laufe der nächsten Jahre wieder vermehrt zu Wort melden werden und den unkreativen Schwachsinn von heute mit neuem Einfallsreichtum wieder aus den Charts vertreiben werden.



“I’m gonna keep on the run, I’m gonna have me some fun, If it costs me my very last dime, If I wind up broke, oh well, I’ll always remember that I had a swingin’ time!“
Elvis Presley’s Viva Las Vegas


Schlager-Hit „Layla“: Gröle ich noch oder sexualisiere ich schon?

Von Jonas Aston | Vor gut einem Monat habe ich mit ein paar Freunden übers Wochenende einen Campingausflug gemacht. Schnell bauten wir unsere Zelte auf und der feuchtfröhliche Abend konnte los gehen. Einige Bier später meinte mein Kumpel er sei auf ein neues Lied namens „Layla“ gestoßen. 5 Minuten später war es dann soweit und wir grölten: „Ich hab n´ Puff und meine Puffmama heißt Layla. Sie ist schöner, jünger, geiler“ über den Zeltplatz. Gedacht haben wir uns dabei wenig und ahnten nicht, dass wir eine Sexismus-Debatte auslösen sollten, die das gesamte Land in Schockstarre versetzt.

Nach Welt-Information sind wir gar russischer Propaganda auf den Leim gegangen. Das „Nervengift in Notenform“ soll höchstpersönlich von Putin komponiert worden sein, um Deutschland zu destabilisieren. Okay, das meinte die Welt wohl satirisch. Keine Satire ist allerdings folgender Beitrag der Ostsee-Zeitung. Von dieser hatte ich vorher noch nie gehört, was aber ganz offensichtlich auch nicht weiter schlimm ist. Diese erklärt: `Layla` bestärkt die Vorurteile derjenigen, die Schlager ohnehin ablehnen. Meist sind das jüngere und gebildetere Gruppen, die die einfachen und damit eingängigen Melodien und Texte mit primitiven Hörerinnen und Hörern assoziieren. Schlager sehen sie als billige Musik für die stumpfe Masse. Ihre Vorurteile über Schlagerfans mischen sich daher oft mit solchen über Alte, Arme oder Ostdeutsche, für die einfache Lieder gerade recht seien. Ich und meine Freunde stehen plötzlich vor der Frage: Grölen wir noch oder sexualisieren wir schon?

Die Debatte um „Layla“ steht spiegelbildlich für eine Durchpolitisierung des Alltags. Wer heute Schlager singt muss sich mit Sexismusvorwürfen auseinandersetzen. Wer morgen über die Straße geht, wenn das Ampelmännchen grün zeigt, manifestiert womöglich schon das Patriarchat. Die Debatte ist heuchlerisch und von Doppelmoral durchsetzt. Im Deutschrap hat mit frauenfeindlichen Texten niemand ein Problem. Als die Rapper Farid Bang und Kollegah in einem Track „mein Körper definierter als von Auschwitzinsassen“ sangen, wurden sie sogar noch mit einem Echo für das Album des Jahres ausgezeichnet.

Alles „Whataboutism“, wenn es nach der Ostsee-Zeitung geht. Deutschrap mag sexistisch sein, der Schlager müsse sich aber dennoch seiner Verantwortung stellen. Deswegen kommt die Ostsee-Zeitung nicht nur mit Hetzte gegen Alte, Arme und Ostdeutsche daher, sondern hat für den Schlager auch noch ein paar Verbesserungsvorschläge parat. Statt nachkriegsdeutsche Urlaubssehnsüchte nach italienischen Inseln zu besingen, könnte er in Zeiten von Pandemie, Krieg in der Ukraine und Klimakrise die Sehnsucht nach einer friedlichen und gesunden Welt zum Thema machen

Ich bewerbe mich hiermit schon mal als der neue Ikke Hüftgold. Im Sommer 2023 grölen wir alle zusammen: „Joana, du nette Frau. Geboren, um Spritzen zu geben. Inzidenzen erhebenOhne Viren an dem Morgen danach.


Diskussionen in der Schule. Warum sind alle so empfindlich? 

Von Gesche Javelin | Neulich im Deutschunterricht sollten wir über die Gesundheitsdiktatur in dem Buch „Corpus delicti“ von Juli Zeh diskutieren. Das Problem war nur: unsere Deutschlehrerin hat eine sehr besondere Auffassung von Diskussionskultur. Egal welche These aufgestellt oder welches Argument von uns Schülern vorgebracht wurde – sobald man von ihrer eigenen Meinung abgewichen ist, hat sie unsere Worte irgendwie so hingedreht, dass sie doch wieder ihren Ansichten entsprachen.

Beispiel gefällig? Ich habe an einer Stelle gesagt, dass es doch besser wäre, Menschen von Gesundheitsmaßnahmen zu überzeugen, damit sie diese freiwillig umsetzen, anstatt sie dazu zu zwingen. Ihre Antwort darauf war: „Aber die Intensivbetten sind ja so überfüllt, wenn wir keine Maskenpflicht hätten, würden noch mehr Menschen sterben.“ Das war mir dann echt zu doof. So etwas ist doch keine Diskussion! Vielleicht bin ich ja naiv, aber ich dachte immer, ein Streitgespräch ist ein Austausch verschiedener Meinungen und das beinhaltet auch auf die andere Meinung einzugehen und eventuell sogar überzeugt zu werden und nicht partout auf seiner Meinung zu beharren. Aber vielleicht bin ich da ja nicht auf dem aktuellen Stand.

Emotionen statt Argumente

Die meisten Diskussionen, die ich in letzter Zeit beobachtet habe, laufen leider ähnlich ab, wie die mit meiner Deutschlehrerin. Argumente werden nicht gehört, stattdessen wird sofort emotionalisiert – der Gegenpart kann gar nicht anders als ausweichen oder abwehren. Ein Austausch findet kaum statt – wenn der Mensch dann noch aus dem anderen politischen Lager kommt, wird es ganz schwierig.

In der Schule wird uns beigebracht, dass es schlecht ist, kritisch zu denken. Am besten man plappert dem Lehrer nach, dann ist man auf der sicheren Seite. Und wenn man mal etwas gegen beliebte Personen äußert, gehört man nicht mehr dazu. Bei Diskussionen in der Schule muss man inzwischen bei jedem zweiten Satz verdeutlichen, dass man damit auch niemanden verletzen oder diskriminieren möchte. Wenn man sich dann doch mal traut, etwas gegen die vorherrschende Meinung zu sagen, wird nur geschockt geguckt – „Wie kannst du es wagen!“ – gleich wird von allen Seiten auf einen eingeredet oder nur spöttisch gelacht. Es wird einem beigebracht, Angst vor anderen Meinungen zu haben.

Angst vor politisch unkorrekten Meinungen

Doch nicht nur in meinem Umfeld sind Diskussionen fast unmöglich geworden – auch in Talkshows kann man kaum noch eine Streitkultur entdecken. Illner und Co sollten uns ein Bild von dem aktuellen Meinungsspektrum geben – stattdessen zeigen sie uns nur unkritisch moderierte Darstellungen von „wichtigen“ Persönlichkeiten. Unsere Diskussionskultur spiegelt sich eigentlich ziemlich gut in den Talkshows wider. Es wird nur die politisch korrekte Meinung zugelassen, ansonsten wird unterbrochen, rausgeschnitten oder die Moralkeule geschwungen. Es herrscht Angst vor anderen Meinungen, weil die politisch unkorrekt sein könnten. Es geht den Diskutanten nur noch darum, ihr Gesicht zu wahren und unbedingt die stärksten Schläge zu haben – einander zuzuhören und Argumente inhaltlich abzuwägen ist nebensächlich.

Die aktuelle Diskussionskultur kommt mir vor wie ein immer engerer zugeschnürtes Meinungskorsett: Jeder, der bei dem Mainstream-Blabla nicht mitmachen möchte, wird einfach ausgeschlossen. Angeblich gibt es heute nicht mehr so viel Tabuthemen wie früher. Okay, über Sex wird heute offen geredet und Kinder werden in der dritten Klasse über verschiedene Sexualitäten und Geschlechtsumwandlung unterrichtet, doch wenn man anfängt, den menschengemachten Klimawandel oder Corona zu hinterfragen, herrscht allgemeine Panik. Sollten wir nicht inzwischen gelernt haben, dass Tabuthemen nur bewirken, dass sich die wildesten Theorien entwickeln? Nicht umsonst haben früher viele Mädchen geglaubt, dass man nur durch Blickkontakt mit einem Jungen schwanger werden kann.

Es bringt doch einfach nichts, um kontroverse Themen einen großen Bogen zu machen, so als wären sie eine ansteckende Krankheit. Diskussionsvermeidung bewirkt nur, dass die Menschen gar nicht mehr an ihren Überzeugungen zweifeln. Ich bin dafür, dass wir auch die wildesten Theorien offen diskutieren. Die Welt ist doch viel spannender, wenn man sich streitet. Und: Jede große Entdeckung war am Anfang mal eine wilde Theorie.


„Layla“ reicht nicht. Gebt uns mehr Verbote!

Von Marius Marx | Achtung, Achtung, ich muss Sie eindringlich warnen. Dieser Text reproduziert Sexismus. Lesen auf eigene Verantwortung. Tanten haften für ihre Neffen, oder so ähnlich. 

Meine Damen und Herren, Sie werden es vermutlich mitbekommen haben: Die deutsche Schlager- und Kulturszene ist seit wenigen Tagen um eine in Sachen Peinlichkeit kaum zu überbietende Sexismus-Debatte reicher. Gegenstand dieser nur mehr belustigenden Debatte ist der Ballermann-Hit „Layla“ von Michael Müller alias „Schürze“ und DJ Robin, bürgerlich Robin Leutner. 

Aus gegebenen Anlass und damit sich jeder Leser ein eigenes Bild machen kann, zitiere ich an dieser Stelle den Refrain des Liedes. Der geht so: „Ich hab‘ ’nen Puff und meine Puffmama heißt Layla – Sie ist schöner, jünger, geiler – La-la-la-la-la-la-la-Layla – La-la-la-la“. Und damit ist im Grunde auch schon der gesamte Inhalt des Textes erschöpfend wiedergegeben, denn viel mehr erfährt man über besagte Layla eigentlich nicht. 

Der Stadt Würzburg als Veranstalter des Kiliiani-Festes und dem Schützenverein St. Sebastianus als Veranstalter der Düsseldorfer Rheinkirmes ist das jedenfalls zu viel. Sie haben nun beide vor wenigen Tagen das Abspielen des Nummer-Eins-Hits untersagt. Begründung: der Text sei sexistisch und hätte auf einem Volksfest nichts zu suchen. Die Würzburger Verantwortlichen haben sich bei ihrer Entscheidung auf eine Verwaltungsvereinbarung aus dem vergangenen Jahr berufen. Damals ging es um das „Donaulied“, in dem es um die Vergewaltigung einer schlafenden Frau geht. Die Stadt beschloss, dass „jede Art von rassistischem, sexistischem oder extremem Liedgut“ auf städtischen Veranstaltungen unerwünscht sei. 

Bürgermeister beim „Layla“-Grölen erwischt

Die selbsternannten Sittenwächter haben damit einmal mehr einen exquisiten Griff ins Klo gelandet. So tauchte kürzlich ein Video auf, das den Würzburger Oberbürgermeister Christian Schuchardt selbst noch zu „Layla“ feiernd in einem Bierzelt bei der Eröffnung des Kiliani-Festes zeigt. Auf Anfrage des Bayerischen Rundfunks gibt der in flagranti erwischte CDU-Mann zu Protokoll: „Den Liedtext habe ich erst vorgestern (am 11. Juli) gegoogelt und mich damit auseinandergesetzt und ich finde ihn nicht gut. Den vollständigen Liedtext habe ich aber in der Festzeltatmosphäre auf jeden Fall nicht bewusst wahrgenommen.“ Und weiter: „Außer auf Kiliani höre ich keine Ballermann-Musik. Die Liedlisten der Bands sind mir auch nicht bekannt.“ Der Rhythmus des Liedes sei „aber auf jeden Fall gut“, so Schuchardt. 

Und dass das nicht gerade die Einhaltung des Song-Verbots befördert hat, ist auch nicht gerade überraschend. Sowohl in Würzburg als auch in Düsseldorf scheinen sich sowohl DJs als auch Besucher nicht im Geringsten um das Verbot zu scheren. Die Moralpolizisten haben sich wohl ein klein wenig verkalkuliert. Die woke Zensur kommt bei den feierlustigen Leuten jedenfalls bislang eher so semi-gut an. 

Und wenn sogar die Süddeutsche kommentiert, „Warum das Würzburger Quasi-Verbot von „Layla“ dümmer als der Text ist“, dann muss endgültig eingesehen werden, dass die ganze Nummer komplett nach hinten losgegangen ist. Im Gründe müssten die Musiker und Produzenten von „Layla“ die verklemmt-humorlosen Veranstalter, die mit ihren Verboten überhaupt erst die Sexismus-Debatte ausgelöst sowie für die Popularität und Aufladung des Ballermann-Hits als musikalisches Symbol gegen die woke Verbotskultur gesorgt haben, an ihren saftigen Gewinnen beteiligen. Eine bessere Werbe- und Verkaufskampagne als diese Liedverbote hätten sich diese vermutlich überhaupt nicht ausmalen können. Schließlich liegt „Layla“ schon seit Wochen auf Platz eins der deutschen Single-Charts. „Schürze“ und „DJ Robin“ können sich also auch bei den Volksfest-Verantwortlichen in Düsseldorf und Würzburg für den überwältigenden Erfolg ihres Songs bedanken. 

Nicht Grammy verdächtig und das ist auch gut so

Gut, falls das noch nicht jedem klar ist: Grammy verdächtig ist der Song nicht. Das Schöne an Ballermann-Songs ist ja aber, dass das auch gar nicht der Anspruch ist. „Layla“ ist ein simpler Party-Hit, mit eingängigem Rhythmus und einem Text, den man auch noch um vier Uhr früh und 2,3 Promille auswendig mitgrölen könnte. Und um mehr geht es doch bei solchen Liedern auch nicht. „Layla“ ist ein Song für feuchtfröhliche Bierzelte und ausgelassene Besoffene auf Mallorca oder Ibiza und nicht für den sexismuskritischen Deutsch-LK irgendeiner integrativ-kooperativen Hildegard von Bingen-Gesamtschule im Prenzlauer Berg. Das scheinen die Veranstalter (im Übrigen überwiegend alte weiße Männer) in ihrer moralischen Aufregung um die Adjektive „schöner, jünger, geiler“ allerdings grandios verkannt zu haben. 

Mir soll das recht sein. Immerhin bin ich überzeugt, dass auch künftige Cancel-Versuche der neuen woken Sittenwächter nach hinten los gehen werden. Also liebe Spaßverderber: Nur Mut zum Verbot! 


Die prüden Linken – Apollo Edition 11/2022

Liebe Leser,

die freie Liebe ist in aller Munde. LGBT ist Staatsräson. Pride und Fetischpartys auf der Straße beim CSD werden von der Bundesregierung unterstützt. Nancy Faeser hisst die Regenbogenflagge – Sex ist wieder Staatsangelegenheit.  
Offen, lebensfroh, progressiv – so will die Linke wirken. Aber mal ehrlich: hinter dem Regenbogen ist es ziemlich öde, das sehen wir alle. 

Denn im gleichen Atemzug wollen die gleichen Regenbogen-Linken mit #Metoo die unangemessene Berührung des weiblichen Knies kriminalisieren; ihre Compliance-Abteilungen machen Jagd auf Liebende wie einst die „Sitte“ auf das brüllende Leben der goldenen 20er. Sex wird bald einen schriftlichen Vertragsschluss erfordern. Und dann wird der Mann, der einer Frau schöne Augen macht, dennoch als Belästiger schief angeschaut, als Macho verschmäht. Die Lust ist potentiell übergriffig. 

Sie wollen die Geschlechter abschaffen – und damit den Geschlechtsverkehr. Und eigentlich das schöne Leben an sich. 

Es sind nicht mehr die Linken, die die faden Regeln durchbrechen, die gesellschaftliche Aufbruch wollen. Es geht um Abbruch. Es ist der große Abbruch aller sexuellen Befreiungsprozesse, die die alte Linke einmal losgetreten hat. Die Linken haben die Moral für die Sexualität nur durch eine neue ersetzt – eine woke. Und die ist nicht weniger penibel als die konservative der 50er Jahre. Und verklemmt. Und altbacken. Und hässlich. Und langweilig. Und spaßfeindlich.

Es ist insofern überhaupt kein Widerspruch, dass viele Woke beim Thema Kopftuch gar kein Problem sehen. Das ist nur konsequent. Die Frau muss beschützt werden – braucht Schutzräume. Männer müssen vor der Versuchung geschützt werden. Die ganze ungezügelte Lust muss man abschneiden. Quarks oder Koran? Mohammed oder Fester? Man weiß es oft nicht mehr. Die Hufeisentheorie gilt auch hier.

Die woken Sexualphilosophen wollen schwule Fetischpartys. Aber halt erst nach der Ehe.

avatar

Elisa David

Chefredakteurin

Titelstorys

Ich darf doch bitten?! Zwischen falschem Anstand und Neo-Prüderie

Von Elena Klagges | ,,Prüderie’’. Als wir dieses Thema in der Apollo Konferenz festgelegt haben, wusste ich kaum etwas damit anzufangen.

CSD statt Spielplatz?

Von Johanna Beckmann |  „Es ist scheißegal, wen du küsst!“- ein Schild mit dieser Aufschrift wird von einer acht jährigen in einem süßen Regenbogenoutfit hochgehalten.

Grüne Gartenzwerge

Meine pseudo-prüden Mitschülerinnen

Von Selma Green | Es klingelte zur Pause, als mir auf dem Schulhof zwei Mitschülerinnen mit ernster Miene entgegen kamen. Was war passiert?

Sommer, Sonne und Bikini im Freibad? – Das war einmal.

Von Pauline Schwarz | Ich bin als Kind für mein Leben gerne baden gegangen. Heute ist das anders.

Horrorerlebnisse auf Tinder & Co: Die Schattenseiten des Online-Datings

Von Simon Ben Schumann | Auf seinem Profilbild sah er richtig gut aus, wirkte beim Chatten sympathisch. Dann aber taten sich Abgründe auf.

Schlager-Hit „Layla“: Gröle ich noch oder sexualisiere ich schon?

Von Jonas Aston | Vor gut einem Monat habe ich mit ein paar Freunden übers Wochenende einen Campingausflug gemacht.

Woke besserwisser

Diskussionen in der Schule. Warum sind alle so empfindlich?

Von Gesche Javelin | Neulich im Deutschunterricht sollten wir über die Gesundheitsdiktatur in dem Buch „Corpus delicti“ von Juli Zeh diskutieren.

Die Scheinrebellion der Vorzeigeschüler

Von Jonas Kürsch | Die Vertreter der Pop-Kultur des 21. Jahrhundert bezeichnen sich selbst und die Anhänger ihrer Bewegung gerne als bunt, divers und woke.

Prostitution als normaler Job?

Von Anna Graalfs | Unter Feministinnen steht ein Thema zur ganz großen Debatte: Prostitution, beziehungsweise Sexarbeit.



Ich darf doch bitten?! Zwischen falschem Anstand und Neo-Prüderie

Von Elena Klagges | ,,Prüderie’’. Als wir dieses Thema in der Apollo Konferenz festgelegt haben, wusste ich kaum etwas damit anzufangen. Was sollte man noch groß dazu schreiben, nachdem wir schon in der vergangenen Edition über die Orgie nach der Krise geschrieben haben. Aber Moment mal, was genau beschreibt ,,Prüderie’’ eigentlich?

Somit fing ich an zu googeln. Der Begriff stammt ursprünglich aus der französischen Sprache von der Präposition preux (dt.: tüchtig, tapfer) ab und entwickelte sich dann aus dem altfranzösischen Wort prodefemme (dt.: ehrbare Frau). In Deutschland tauchte das Wort ca. im 18. Jahrhundert zuerst auf und aus dem Duden kann man lesen, dass das dreisilbige Wort ein feminines Substantiv ist. Nun gut, sehr viel klüger bin ich aus dieser allgemeinen Information nicht geworden.

Also weitersuchen. In Pierers Universallexikon aus dem Jahre 1861 wird ,,prüde’’ definiert als ,,auf übertriebene und affektierte Weise sittsam, zimperlich oder scheinspröde’’. Alles klar, es wird irgendwie um Anstand und vielleicht auch Moral gehen?! Ein bisschen schwammig ist meine Vorstellung immer noch, deshalb versuche ich es mit Synonymen oder vielleicht noch besser, auch mal mit dem Gegenteil.

Die Resultate: Google spuckt mir ,,altmodisch’’, ,,bieder’’ und ,,reserviert’’ aus, auf der anderen Seite ,,Wildheit’’, ,,Körperlichkeit’’, ,,schamlos’’, ,,frech’’ und ,,vulgär’’.

Als beispielhafte Bewegungen für die grenzenlose Freiheit werden mir der FKK-Kult in der DDR und das Woodstock-Festival gelistet. Nacktbaden als ein Recht gegen die westdeutsche Prüderie und der Höhepunkt der Hippie-Bewegung als Inbegriff der Gegenkultur zur prüden Elterngeneration und zum Vietnamkrieg.

Na, wenn das nicht zufällige Überschneidungen sind. Gerade jetzt, wo im Osten ein Krieg und über Europa eine Hitzewelle ausgebrochen ist, könnten wir doch endlich die Klamotten guten Gewissens ablegen und Haut zeigen. Warum nicht und was soll daran verwerflich sein?!

Wenn ich an meine Kindheit zurück denke, als wir im Sommer nach Sylt gefahren sind und dann auf Strandspaziergängen unterwegs waren, kann ich mich nur an alte Leute am FKK-Strand erinnern. Und an uns, die etwas rot im Gesicht und beschämt weggeschaut haben.

Dabei frage ich mich, ob wir, die jüngere Generationen, aber evtl nur schein-prüde sind? Schämen wir uns für die Freizügigkeit oder ist die Scham eventuell eher auf die Pubertät zurück zu führen? Eine Zeit, in der sich unsere Körper ändern und wir diese neu kennen lernen. Auch wenn die Politik und einige Biologen uns glauben lassen wollen, dass Geschlechtlichkeit überholt ist.

Doch Pubertät als Ursache für das Schamgefühl klingt so langweilig, so normal. Dann doch lieber auf den Neo-Prüderie-Zug aufspringen und politisch korrekt dem Mainstream nacheifern.

Wie dem auch sei, wenn ich mich auf einer Shopping-Tour in der Stadt umschaue, scheint nach der Pandemie der Kleiderschrank der Jugend kürzer und knapper geworden zu sein. So schamlos, dass man sich fast den Schlafanzug oder Trainingsanzug aus der Quarantäne zurückwünscht. Hilfe, erwische ich mich hier jetzt etwa gerade als prüde 23-jährige Studentin?

Wohl kaum, denn ich behaupte an dieser Stelle, dass ich ein gesundes Anstandsgefühl in mir trage und der Situation gerecht mal etwas mehr, mal etwas weniger Haut zeige; stets so, dass ich mich angemessen präsentiere. Nicht spießig, nicht prüde, aber auch nicht exzessiv anstoßend.

Und dann lag ich einen heißen Frühsommertages im Garten und lauschte dem Podcast des Spectators vom 30.06.2022, als es plötzlich um Sex-Parties ging und wie alltäglich solche für die heute Mitte-30-Jährigen sind. Hatte man in seinen 20er einfach mal Sex auf einer Party, geht man nun geplant und vorbereitet zu einer exklusiven Party, wo vieles erlaubt ist, Verträge für bestimmte Verhaltensweise unterschreiben werden und dann ausprobiert und experimentiert wird. Alles exklusiv – nicht unbedingt geheim – aber doch geheimnisvoll, als dass man gewisse Tests bestehen muss, z.B. eine gewisse Attraktivität ausstrahlt oder den Dresscodes einhalten muss.

Da war es wieder: Die Gesellschaft gibt sich nach außen als prüde, es wird nur leise über solche Parties getuschelt. Doch tief im Inneren sehnt man sich nach Extase, hat Sehnsüchte und Fantasien. In meinen Augen, völlig human und normal. Dann lasst uns doch bitte keine große Show drum machen. Man muss mit diesem Thema nicht extrem anecken und aufmüpfig wie in den 70er Jahren sein. Gleichzeitig sollte man auch nicht in die Rolle des scheinheiligen Priesters oder Nonne schlüpfen. Also Friends, nehmt jeden Sommer-Flirt mit, lebt den Sommer und eure Jugend nach den guten Sitten.


CSD statt Spielplatz?

Von Johanna Beckmann |  Es ist scheißegal wen du küsst!: ein Schild mit dieser Aufschrift wird von einer acht jährigen in einem süßen Regenbogenoutfit hochgehalten. Dieses Kind ist nicht das einzige, das in seiner Kindheit den CSD besucht hat, anstatt auf den Spielplatz zu gehen.

Jedes Jahr im Juli versammeln sich große Menschenmassen auf dem CSD, manche sind verkleidet und manche nicht. Jeder kann anziehen was er möchte. Alles ist schrill und bunt. Die meisten Menschen tragen Klamotten in den Regenbogenfarben und Fahnen, die ihre Sexualität beschreiben. Es kommen Sänger, Menschen halten Reden und es wird gefeiert. Hört sich doch ganz gut an, oder ? Ist es auch, denn die Stimmung ist ausgelassen. Die meisten demonstrieren dafür, dass sie ihre eigene Sexualität ausleben dürfen und dabei respektvoll behandelt werden.

Als ich ungefähr dreizehn war, hätte ich gern an einer CSD Parade teilgenommen. Glitzer in das Gesicht malen, laute Musik hören und feiern, das wollte ich unbedingt auch machen. Und nein, ich war nicht frühreif und auch nicht politisch interessiert. Ich wollte einfach nur sein, wie die Influencer denen ich auf Musically (heute TikTok) und Instagram folgte. Diese zeigten die ausgelassene Stimmung und ihre hübschen und farbenfrohen Outfits beim CSD. Viele meiner Klassenkameraden folgten den gleichen Influencern. Meine Freunde gingen zum CSD und posteten ihre Erlebnisse auf Instagram. Ich konnte dort nicht hingehen, da ich im Familienurlaub war. Zu dieser Zeit machte es mich sehr traurig, die Posts meiner Freunde zu sehen und nicht dabei sein zu können. Heute bin froh, dass mein Familienurlaub mich von der Demonstration abgehalten hat, denn mir war damals nicht einmal klar, warum dieser schrille und bunte CSD stattfindet. Trotzdem wollte ich mir ein Beispiel an dem bunten MakeUP und den Outfits der Influencer nehmen. Auch eine Flagge hätte ich gern hochgehalten. Von diesen Fahnen gibt laut dem offiziellen CSD Flaggen Lexikon 27. Und ich muss zugeben, dass ich bis heute nicht alle kenne. Ich habe ein Mal durchgezählt: Ich kenne ungefähr 10, ich bin 16 und habe mich durch meinen Freundeskreis schon oft mit diesen Flaggen beschäftigt. Damals kannte ich noch weniger. Natürlich hätte ich auch nicht gewusst, welche ich nehmen soll.

Und ich glaube nicht, dass ich die einzige war, die nicht aus einem politischen Grund  zum CSD gegangen wäre. Ich habe den CSD nur als Festtag gesehen, dass es auch ein Gedenktag ist wusste ich nicht. Auch war mir nicht bewusst, dass er an den ersten bekanntgewordenen Aufstand von sexuellen Minderheiten gegen die Polizeiwillkür in der New Yorker Christopher Street erinnert. Von den schlimmen tagelange Straßenschlachten hatte ich ebenfalls noch nie gehört. Das ich wahrscheinlich nicht die einzige in meinem Alter gewesen war, die dort nicht für ihre Sexualität demonstrieren wollte, belegt eine Studie der Universität Basel: Nur 69% der Jugendlichen zwischen 15 und 18 geben an über ihre Sexualität Bescheid zu wissen.  Der Prozentsatz bei noch jüngeren Kinder liegt also wahrscheinlich weit unter 69%. Das zeigt das, dass Wissen über die eigene Sexualität in diesem Alter sehr unwahrscheinlich ist und das viele Junge Menschen dort, wie ich, nur hingehen wollten um coolzu sein.

Mit meinen dreizehn Jahren wäre ich nicht die jüngste auf dem CSD gewesen, da es viele Eltern gibt, die den Familienausflug am Wochenende vom Spielplatz zum CSD verlegen. Sie sehen dies als Erziehungsmaßnahme an. Das hat zur Folge das man auf dem CSD auch fünf- oder acht Jährigen über den Weg läuft. Häufig werden diese Kinder in süßeKostüme mit regenbogenfarbenen Engelsflügeln gesteckt. Sie halten auch oft Schilder hoch mit Aufschriften wie: Es ist scheißegal wen du küsst!Natürlich ist es scheißegalwer wen küsst, aber das ist ein politisches Statement und ein acht jähriges Kind hat in den meisten Fällen keine politische Einstellung und deswegen sollte es auch keine tragen müssen. Darüber, dass man mit acht Jahren nicht für seine eigene Sexualität demonstriert muss man sich glaube ich nicht streiten.

Natürlich ist mir bewusst, dass auch Kinder wissen, dass es lesbische und schwule Paare gibt. Dennoch gibt es auf einem CSD viele Gruppen, die sehr sexualisiert auftreten. Wen ein Kind zum Beispiel jemanden sieht der in einem Latexanzug an der Leine geführt wird, stellt es sich wahrscheinlich die Frage: Warum muss der Mann angeleint werden? Das hier jemand seinen Fetisch offen zur Schau stellen, wird das Kind nicht verstehen. Natürlich muss man zu einem Zeitpunkt in seinem Leben lernen muss, dass es Fetische gibt und das man diesen Menschen tolerant gegenüber treten sollte, aber nicht im Alter von acht.

Grundsätzlich ist es wichtig, dass Kindern in einem jungen Alter beigebracht wird, dass man jede Person respektvoll behandeln sollte. Das geht aber auch außerhalb des CSDs. Und ist es nicht auch irgendwie gegensätzlich, dass dafür demonstriert wird, dass jeder so leben darf, wie er möchte, nur die Kinder dürfen nicht auf den Spielplatz, sondern müssen auf einer Demonstration sein und Schilder hochhalten? Und sollten nicht Menschen, wie die Influencer, denen ich früher gefolgt bin, ihre Reichweite eher dafür nutzen, über die Entstehung des CSDs aufzuklären, als ihre jungen Follower dazu zu bewegen hübsche Outfits anzuziehen und dort zu feiern?  Meiner Meinung nach gehören Kinder nicht auf einen CSD. Ich sage das nicht, weil ich ich denke, dass Kinder nicht wissen dürfen, dass es lesbische und schwule Paare gibt. Ich würde mit meinen Kindern auch nicht auf heterosexuelle Veranstaltungen gehen, auf denen sich alles um die Sexualität dreht. Aus diesem Grund bin ich dankbar, dass ich früher immer im Familienurlaub war.


Zugausfälle, kaputte Klima und mehr: Dauerkatastrophe bei der Deutschen Bahn 

Von Simon Ben Schumann | Ende Juni war ich zu Gast beim Apollo-Seminar in der Nähe von Berlin. Bei der Rückfahrt wollte ich etwas sparen und nahm das 9-Euro-Ticket. „Wird schon klappen, steht ja auch in der DB Navigator App“: berühmte letzte Worte.

Wenn die Bahnfahrt zur Odyssee wird

Klar: Es ist schon ein Risiko, nur mit Regionalbahnen von Brandenburg ins Ruhrgebiet zu fahren. Aber da ich mir vorher fein säuberlich einen Fahrplan in der DB-hauseigenen App „Navigator“ erstellt hatte, waren meine Befürchtungen eher gering. Die Fahrt sollte planmäßig ca. 8 1/2 Stunden dauern – für lau, weil das 9-Euro-Ticket im Semesterticket der Uni enthalten ist.

In Erkner, wo das Seminar stattfand, stieg ich erstmal mit zwei Apollo-Kollegen in den Regionalexpress. Der war brütend heiß. Die Klimaanlage war entweder ein naiver Wunschtraum, ausgefallen oder ein Minigerät aus dem 1-Euro-Shop. Immerhin waren wir pünktlich am Berliner Hauptbahnhof. Hier trennten sich unsere Wege – meine Kollegen nahmen den ICE.

Ich musste aber unbedingt den Schnäppchenjäger mimen. Mit einer Verspätung von ungefähr einer halben Stunde bestieg ich also den RE nach Rathenow, von dort aus ging es weiter nach Stendal. Hier durchschritt ich das Tor zur Hölle.

Es war nicht nur heiß auf Bahngleis 7, sondern auch voll. Den Zug nach Wolfsburg wollten eine Menge Leute nehmen, eine richtige Alternative gab es nicht. Zunächst hieß es, der Zug würde sich verspäten. Dann kam die Nachricht über einen der Bildschirme: Zug fällt aus.
Die Stimmung auf dem Wartesteig kippte, auch ich war jetzt schlecht drauf. Die Fahrt nach Hause verlängerte sich mal eben um 4 Stunden. Der Umweg über Magdeburg verlief zwar problemlos, doch der Zugausfall brachte weiteres Umplanen mit sich. Erst um Fünf Uhr morgens fiel ich völlig kaputt ins Bett. Froh war ich, nicht von mitten in der Nacht am Bahnhof in Hamm „abhängenden“ Leutchen attackiert worden zu sein.
Bilanz des Ganzen: 80,00 € gespart, 80 Millionen Nervenzellen durch den Stress verbraten.

Missmanagement – keiner will verantwortlich sein

Egal, welche Reiseform der Deutschen Bahn es auch ist: Irgendwas stimmt nicht. Sogar der prestigeträchtige ICE trägt scheinbar ein Kainsmal.

So fuhr ich den Hinweg nach Berlin mit dem „FlixTrain“, die Zug-Sparte der bekannten Firma „FlixBus“. Der ICE nach Berlin vom selben Bahnhof fiel einfach ganz aus; hätte ich mich für die DB entschieden, wäre das Apollo-Seminar für mich flachgefallen. Dass Züge ausfallen, ist zugegebenermaßen nicht die Regel. Aber auch keine Ausnahme mehr. Gerade bei den im Vergleich hohen Ticketpreisen der Deutschen Bahn (der ICE kann One-Way locker 100,00 € kosten) ist der Unmut von Fahrgästen nachvollziehbar.

Am 22. Juli berichtete das Handelsblatt über mehrtägige Ganzausfälle in NRW. Betroffen sind vier (!) S-Bahn-Linien und auch eine Regionalbahn, die in unserer Region oft genutzt

wird und seit Ewigkeiten nicht mehr verlässlich fährt. Grund ist laut der Bahn ein „hoher Krankenstand“. Der Fahrgästeverband „Pro Bahn“ hält solche Totalausfälle für nicht mehr akzeptabel, nicht einmal einen Stundentakt könne die DB anbieten. Die entschuldigt sich und bietet z. B. Sammeltaxis als Alternative an.

Neben Ausfällen kommt es häufig zu Verspätungen. Mitte Juli 2022 wurden „geheime“ bahninterne Dokumente geleakt, welche sich mit „Langsamfahrstellen“ auseinandersetzen. Sie liegen dem Magazin „Spiegel“ vor. Bei Langsamfahrstellen handelt es sich um Streckenabschnitte, auf denen Züge nur noch mit etwa 20 km/h fahren dürfen. Gründe können Unfälle, Bauarbeiten oder ähnliches sein. Von diesen Stellen gab es Anfang Juni ca. 331 Stück. Davon waren 225 schon seit einem Monat nur mit Schneckentempo befahrbar. An die Öffentlichkeit sollten diese Zahlen nicht kommen. Jemand, der sich des Ganzen annimmt – Fehlanzeige. Stattdessen gibt es Entschuldigungen, Rechtfertigungen und Chaos im Schienenverkehr.

Ökonomische Misere und leere Versprechen?

Die Nettoschulden der Deutschen Bahn beliefen sich 2021 auf satte 29,1 Milliarden Euro. Das ist fast eine Verdopplung seit 2011. Dennoch will die Politik die Bahn weiter für die Klimaentlastung, bürgerfreundlichen Nahverkehr und so weiter einspannen. In der Corona-Krise verzeichnete sie Milliardenverluste, jetzt will sie 24.000 neue Mitarbeiter einstellen, um den Problemen Herr zu werden.

Ob das funktionieren wird? Ich hoffe es zwar. Früher war die Bahn Deutschlands Vorzeigeprojekt, bekannt für ihre Pünktlichkeit und Ingenieurskunst. Wir alle wollen entspannt und zufrieden herumreisen können.

Andererseits: Eine Verspätung gibt es bei der Bahn – kein Witz – erst ab 5 Minuten und 59 Sekunden. Davor gilt ein Zug als pünktlich. Wenn mit derselben Großzügigkeit die Probleme der DB behoben werden sollen, heißt es wahrscheinlich auch in Zukunft: „Dieser Zug hat leider Verspätung. Wir bitten um Entschuldigung.“