Der Fall Safronow – Unabhängiger Journalismus im Visier des russischen Regimes

Von Sarah Victoria | Am 5. September verurteilte das Moskauer Stadtgericht Iwan Safronow zu 22 Jahren Haft in einem Straflager. Zuvor forderte die Staatsanwaltschaft für den angeblichen Landesverrat sogar 24 Jahre Haft. Iwan Safronow ist ein ehemaliger Rüstungsreporter, der unter anderem für die Wirtschaftszeitung „Kommersant“ oder die Tageszeitung „Wedomosti“ über Militärthemen geschrieben hat. Vor seiner Festnahme vor zwei Jahren arbeitete er nicht mehr als  Journalist, sondern als Berater bei Roskosmos, einer russischen Raumfahrtbehörde. Seit 2020 saß er in Untersuchungshaft, jetzt folgte die Verurteilung.  

Zwischen 2015 und 2018 soll Safronow in sieben Artikeln Militärgeheimnisse an den tschechischen Journalisten Martin Larisch und den deutsch-russischen Politologen Dmitri Woronin weitergegeben  haben. Laut den russischen Behörden kooperierten beide mit Nato-Diensten – also dem deutschen und tschechischem Geheimdienst. Mit dem tschechischen Journalisten war Safronow seit 2012  befreundet, oder wie es die russischen Behörden nennen: Er wurde angeworben.  

Der bekannte Anwalt Iwan Pawlow, der auch Nawalny vertreten hat, übernahm Safronows Fall, bis  er selbst ins Exil flüchten musste. Pawlow ist der Gründer der ehemaligen Juristenvereinigung  „Komanda 29“, die sich auf die Strafverteidigung in Spionage- oder Landesverratfällen spezialisiert haben. Die Gruppierung hat sich mittlerweile aufgelöst, da sich die meisten Anwälte entweder im  Exil oder im Gefängnis befinden. Iwan Safranows aktueller Anwalt, Dmitri Talantow, war im Juni in Untersuchungshaft.  

Laut russischer Justiz ist es bestimmt nur ein Zufall, dass ein erfahrener Militärjournalist und Kenner der Raumfahrtszene zu einer abstrusen Haftstrafe verurteilt wird, während die “Spezialoperation” in der Ukraine zu wünschen übrig lässt und es auch im Raumfahrtsektor zu Verzögerungen kommt. Auch ist es ein Zufall, dass Iwan Safronows Vater, der ebenfalls Militärjournalist war, 2007 plötzlich aus einem Moskauer Fenster stürzte – natürlich ein Suizid. Die Botschaft an alle Journalisten und russischen Militärkenner ist eindeutig: Schreibt Dinge, die uns nicht gefallen und wir zerstören euer Leben.  

Vor dieser Entwicklung warnte der Journalist Andrej Soldatow bereits 2020.  Hintergrund für die Verurteilung ist eine Rechtsreform aus 2012. Laut der neuen Fassung können nun auch Journalisten zu Landesverrätern werden. Das war zuvor noch nicht möglich, da Journalisten per Definition keinen Zugang zu geheimen Informationen hatten. Vor der Reform musste sich der FSB immer Kunstgriffe einfallen lassen, um unliebsame  Journalisten mundtot zu machen.  

Die Reform des Strafgesetzbuches ermöglicht juristische Willkür, denn unter Staatsverrat zählt  neben der klassischen Spionage nun jede finanzielle, konsultative oder materielle Kooperation mit  einer feindlichen ausländischen Organisation. Der Tatbestand wird dadurch uferlos, was sich in Strafonows Fall wiederspiegelt. In der Vergangenheit ergaben sich daraus schon einige abstruse  Gerichtsverfahren, wie etwa im Fall des Journalisten Iwan Golunow, der im Sommer 2019 nach seiner Artikelreihe zum Thema Korruption wegen versuchten Drogenhandels angeklagt wurde. Die Klage wurde nach einer öffentlichen Empörungswelle ein paar Tage später wieder fallen gelassen.  

Die langen Haftstrafen zeigen zudem, dass es der russische Staat ernst meint. Nur besonders schwere Gewaltverbrecher verbringen so viel Zeit im Gefängnis – etwa für Missbrauch, Mord oder  Hochverrat. Zum Vergleich: Der Mörder von Boris Nemzow wurde zu 20 Jahren Haft verurteilt. 

Iwan Safronow erhielt gleich 22 Jahre. Zu 22 Jahren Haft wegen Hochverrats wurde zuvor Sergey Mikhailov verurteilt, der stellvertretende Leiter des FSB-Informationssicherheitszentrums. Die gleiche Haftstrafe forderte die Staatsanwaltschaft für Strafonow – der nur Informationen teilte, die größtenteils öffentlich einsehbar waren. Russische Investigativjournalisten des Medienunternehmens „Projekt“ haben den Fall auf ihrer Seite aufgearbeitet.

Das Vertrauen in die russische Justiz dürfte dadurch nicht größer werden. In einer Studie des  Lewada-Zentrums von 2020 vertrauten gerade mal 31 Prozent der Befragten den russischen  Gerichten. 51 Prozent gaben an, die Staatsanwaltschaft für nicht vertrauenswürdig zu halten. Nicht ohne Grund gibt es im Russischen den Begriff der Basmannyj-Justiz – abgeleitet vom Moskauer Basmannyj-Bezirksgericht, in dem schon zahlreiche politisch motivierte Prozesse verhandelt wurden. Dieser Trend dürfte sich seitdem nur noch verschlechtert haben.  

Die Urteilsverkündung fand, wie auch der restliche Prozess, hinter verschlossenen Türen statt, so dass es nur ein schriftliches Statement von Safronow selbst gibt. In diesem Statement vom 30. August, das BBC Russia vorliegt, schreibt er:  

„Der von der Staatsanwaltschaft geforderte Begriff ist nicht nur in seiner Absurdität, sondern auch in seinen Folgen ungeheuerlich – nicht nur für mich, sondern auch für das Ansehen des Landes. Die ganze Welt wird sehen, dass sie einen Journalisten für das Schreiben von Artikeln ins Gefängnis stecken wollen. Ein Schuldspruch zu fällen bedeutet für lange Zeit, wenn nicht für immer, das Thema Meinungsfreiheit zu schließen, weil es weder Rede noch Freiheit geben wird.  

Wenn ich vom Schicksal dazu bestimmt bin, im Gefängnis zu sitzen, dann werde ich meine Strafzeit mit Ehre und Würde absitzen. Es gibt kein Corpus Delicti in meinen Handlungen. Ich beteuere meine Unschuld und fordere einen vollständigen Freispruch.“




Michail Gorbatschow: Kein Held, aber auch kein schlechter Verlierer

Von Sarah Victoria | Michail Gorbatschow wurde 91 Jahre alt. Am 30. August starb der ehemalige Staatschef der Sowjetunion, am Wochenende findet seine Beerdigung statt. In die deutsche Geschichte wird er als Wegbereiter der Einheit eingehen – als Visionär, der mit dem zwei-plus-vier-Vertrag den Weg zur Wiedervereinigung ebnete und durch seine Diplomatie das Ende des Kalten Krieges einleitete.  Die politische Bühne verließ Gorbatschow schon vor einer ganzen Weile, gerade nach dem Tod seiner Ehefrau Raissa verbrachte er seine Zeit vor allem mit seiner Familie – etwa am Tegernsee, wo Gorbatschow bis vor kurzem das „Hubertus Schlössl“ gehörte. 

Während die Nachrufe im Westen Gorbatschow als Helden zeichnen, fallen die Reaktionen im östlichen Europa reservierter aus. In Litauen etwa stößt das Narrativ des friedlichen Staatsmannes auf Widerstand. Als Oberbefehlshaber der Streitkräfte verhinderte Gorbatschow nicht, dass am 13. Januar 1991 Panzer nach Litauen losgeschickt wurden um Protestbewegungen niederschlagen zu lassen  („Blutsonntag von Vilnius“). In der Ukraine wird sich an die Tschernobyl-Katastrophe von 1986 und an Aussagen Gorbatschows erinnert, in denen er die ukrainische Unabhängigkeitsbewegung kritisiert. Und gerade in Russland wird das Trauma des Zerfalls der Sowjetunion auf Gorbatschow projiziert. Als „Totengräber der Sowjetunion“ soll er Russland endgültig ins Chaos gestürzt und dem Westen ausgeliefert haben. Veranschaulicht wurde dieser Vorwurf unter anderem in diesem legendären PizzaHut-Werbesport, an dem Gorbatschow persönlich mitgewirkt hat: 

 

Während der Werbespot natürlich ein positives Resümee aus der Gorbatschow-Ära zieht, nehmen ihm einige Menschen bis heute den Zerfall der Sowjetunion übel. Die eigentliche Ursache des Problems, eine totalitäre Diktatur mit systematischen Schwächen, wird dabei ausgeblendet und auf eine einzelne Person übertragen – den „Landesverräter Gorbatschow“. Dieses Narrativ nutzten schon jene KpdSU-Funktionäre, die im Augustputsch 1991 verzweifelt versuchten, ihre Macht zu sichern. Und auch Putins Aussagen lassen vermuten, dass er 1991 wohl kein Plakat von Gorbatschow in seinem Petersburger Zimmer hängen hatte. 

Gorbatschows Politik wa nicht ohne Schattenseiten. Aber Gorbatschows Reformen schufen auch zumindest ein gewisses Fundament für ein demokratisches Russland, das in der globalen Gemeinschaft verankert sein sollte. Selbst als überzeugter Sozialist blickte er am Ende der Wahrheit ins Gesicht. Er erkannte, dass das sowjetische System zerfiel und versuchte nicht verzweifelt, diesen Zerfall im großen Stil gewaltsam zu verhindern. Er scheiterte politisch – jedoch mit so viel Einsicht, dass genau dieses Scheitern zum Vermächtnis wurde: Aus Satellitenstaaten konnten freie Staaten werden, ein geteiltes Deutschland wurde wieder ganz. Gorbatschow nahm Friedensgespräche auf, stimmte der nuklearen Abrüstung zu und erhielt 1990 sogar den Friedensnobelpreis. Tragisch nun, dass sein Todesjahr einen erneuten Krieg markiert – und dann auch noch mit der Ukraine, dem Herkunftsland seiner Mutter. Das Statement der Gorbatschow-Stiftung zum Ukrainekrieg erschien drei Tage nach Kriegsbeginn. Natürlich wird der amtierende Präsident nicht persönlich erwähnt, die Botschaft ist allerdings eindeutig: 

„Im Zusammenhang mit der am 24. Februar begonnenen Militäroperation Russlands in der Ukraine bekräftigen wir die Notwendigkeit einer baldigen Einstellung der Feindseligkeiten und der sofortigen Aufnahme von Friedensverhandlungen. Es gibt nichts Wertvolleres auf der Welt als Menschenleben. Verhandlungen und Dialog auf der Grundlage gegenseitiger Achtung und Anerkennung der Interessen sind der einzig mögliche Weg, um die schärfsten Widersprüche und Probleme zu losen. Wir unterstützen alle Bemühungen, die auf die Wiederaufnahme des Verhandlungsprozesses abzielen.“ 

Putins Pressesprecher ließ schon verkünden, dass der russische Präsident bei der Trauerfeier nicht anwesend sein wird. Anders als der Tod Schirinowskis ist Gorbatschows Ableben anscheinend nicht mit seinem Terminkalender vereinbar. Ein paar rote Rosen am offenen Sarg und ein distanziertes Kondolenzschreiben des Kremls müssen ausreichen, immerhin hat der Präsident Wichtigeres zu tun. Wie Schulklassen in Kaliningrad zu besuchen und Kindern von einer Spezialoperation zu erzählen – wichtige Staatsaufgaben halt. 

Man stelle sich nur vor, wie die Beerdigung wohl ohne Krieg ausgesehen hätte. Vielleicht hätte es ein großes Staatsbegräbnis gegeben, zu dem  Politiker und Botschafter aus aller Welt nach Moskau gereist wären. Die Beerdigung hätte ein internationales Großereignis werden können. Stattdessen offenbart sich am Tod Gorbatschows einmal mehr, wie weit sich die politische Elite in Russland vom Reformgeist entfernt hat. 

Gerade Gorbatschows Leben lehrt uns, wie wichtig es ist, dass man einsieht, wenn die eigene Zeit an der Macht vorbei ist und der Veränderung nicht im Weg steht – und dass es immer Hoffnung auf Veränderung gibt.




Am Unabhängigkeitstag feierte die Ukraine gleich zwei Jubiläen

Von Sarah Victoria | Am 24. August 1991 erklärte die Ukraine ihre Unabhängigkeit von der Sowjetunion. 31 Jahre später kämpft das Land erneut um seine Unabhängigkeit – diesmal jedoch nicht nur mit Worten. Was die letzten Jahrzehnte ein Grund zur Freude war, markiert dieses Jahr auch ein trauriges Jubiläum. Vor genau sechs Monaten begann die russische Militäroffensive. Seitdem scheint nichts mehr so zu sein, wie es einmal war.  Die russische Invasion wurde zu einem globalen Problem, das  international für Aufsehen sorgte. Der ukrainische Nationalfeiertag bewegt in diesem Jahr auf einmal eine ganze Weltgemeinschaft. Daher folgt nun ein kleiner Abriss von dem, was vor 31 Jahren einmal war und dem, was heute ist: 

Was einmal war

Vor 31 Jahren nutzte die Ukraine ihre Chance, sich von der zerfallenden Sowjetunion abzusetzen. Verantwortlich war dafür insbesondere der Politiker Leonid Krawtschuk, der im selben Jahr auch noch zum ersten Präsidenten der Unabhängigen Ukraine gewählt wurde. Er war es, der am 24. August die Unabhängigkeit der Ukraine von der Sowjetunion verkündete. Im Mai 2022 starb  Krawtschuk im Alter von 88 Jahren in München.  Zusammen mit seinem russischen und belarussischen Amtskollegen (der übrigens zwei Wochen vor Krawtschuk verstarb) schrieb das Trio im Dezember 1991 Weltgeschichte und beschloss offiziell die Einführung der Unabhängigen Staatengemeinschaft. Über 90 Prozent der Bevölkerung stimmten beim anschließenden Referendum der Unabhängigkeitserklärung zu.

In den ehemaligen Sowjetstaaten folgte daraufhin eine Zeit des Wandels, die gerade politisch sehr herausfordernd war. Armut und Korruption breiteten sich im Land aus. Mit seiner diplomatischen Außenpolitik machte sich Krawtschuk gerade im Osten der Ukraine keine Freunde, immerhin war er derjenige Präsident, der auf sowjetische Atomwaffenarsenale verzichtete und sich dem Westen annäherte. Die daraus entstandenen Ressentiments mündeten 1994 schlussendlich in der Abwahl Krawtschuks. Nachfolger wurde Leonid Kutschma, der vor allem von der ostukrainischen Bevölkerung unterstützt wurde. Dass Krawtschuk seinen Posten auch wirklich verließ war eine Besonderheit. Machtwechsel wurden seitdem, anders als in den Nachbarländern Russland und Belarus, zur ukrainischen Tradition. Nach seiner Abwahl wurde es die nächsten Jahre ruhig um den Präsidenten. 

Was heute ist 

Erneut politisch relevant wurde seine Person unter dem aktuellen Amtsträger Wolodymyr Selenskyj. Im Juli 2020, als die ukrainische Regierung sich noch eine mögliche diplomatische Lösung mit Russland erhoffte, wurde Krawtschuk zum Leiter der ukrainischen Delegation ernannt. Vor seinem Tod soll er noch gesagt haben, dass der Hauptfehler seiner Präsidentschaft das Vertrauen zu Russland war. „Mein größter Fehler ist, dass ich Russland geglaubt habe. Ich hatte kein Recht dazu. Als ich in Moskau studierte, war ich schon über 30. Ich hatte Zugang zur Lenin-Bibliothek, zu einem Archiv. Und ich wusste viel über Russland, über Lenin, über alles, was sonst niemand wusste. Ich dachte, dass sie [Anm.: Russland] sich auch endlich veränderte… sie blieb jedoch gleich.“

Der erste Präsident der unabhängigen Ukraine starb während des dritten Kriegsmonats. Natürlich weiß niemand, ob ein anderer Umgang mit der russischen Regierung tatsächlich für Frieden gesorgt hätte. Aber am diesjährigen Unabhängigkeitstag hallen die Worte Krawtschuks nochmal besonders nach. 

Internationale Glückwünsche, die verwirren 

Der Unabhängigkeitstag der Ukraine sorgt natürlich auch international für Schlagzeilen – und das nicht nur im Westen, wie man zuerst vermuten würde. Auch die Regierung Belarus gratulierte ihrem Nachbarn und hätte ihre Glückwünsche dabei nicht zynischer formulieren können. Gerade der nachbarliche Wunsch nach einem „friedlichen Himmel“ erscheint vor den jüngsten Raketenangriffen wie orwellscher Neusprech. In der Grußbotschaft des Präsidenten Aleksandr Lukashenko, die auf der Seite des Präsidialbüros nachzulesen ist, heißt es: 

„Ich bin überzeugt, dass die aktuellen Widersprüche nicht in der Lage sein werden, die jahrhundertealten, aufrichtigen und gutnachbarschaftlichen Beziehungen zwischen den Völkern beider Länder zu zerstören. Belarus wird sich weiterhin für die Erhaltung der Eintracht, für die Entwicklung freundschaftlicher und gegenseitig respektvoller Kontakte auf allen Ebenen einsetzen. Das belarussische Staatsoberhaupt wünscht den Ukrainern einen friedlichen Himmel, Toleranz, Mut, Kraft und Erfolg bei der Wiederherstellung eines menschenwürdigen Lebens.“ 

Der russische Präsident sendete seine Glückwünsche dieses Jahr in Form von Raketen, die nach ukrainischen Berichten am 24. und 25. August an Bahnhöfen eingeschlagen sein sollen und dabei mindestens 22 Menschen töteten. In besetzten Gebieten versprach Putin zudem, Eltern von Kindern zwischen 6 und 18 Jahren eine einmalige Zahlung von 10.000 Rubeln (das sind umgerechnet etwa 165  Euro) zukommen zu lassen. Ansonsten hielt sich die russische Seite bedeckt, die „Spezialoperation“ scheint auch weiterhin nach Plan zu verlaufen – zumindest wenn man General Shoigu zuhört. 

Glückwünsche aus dem Westen

Ganz anders sahen die Gratulationen aus dem Westen aus. Regierungsvertreter ließen es sich nicht nehmen, der Ukraine Videobotschaften, Photos oder noch mehr Versprechen zukommen zu lassen. Die amerikanische Regierung versprach der Ukraine ein weiteres Rüstungspaket im Wert von 3 Milliarden Dollar, der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz besuchte die 30 versprochenen  Gepard-Panzer – die sich noch in Deutschland befinden –  und Ursula von der Leyen ließ sich am Unabhängigkeitstag in Brüssel mit einer 30 Meter langen Ukraineflagge ablichten – natürlich im dazu passenden Hosenanzug.

https://twitter.com/Bundeskanzler/status/1562773025791279106?s=20&t=QRyG8tKBRKCbMtdS4pa9TA  

Selbst die englische Königin sicherte der Ukraine ihre Unterstützung zu. Für den meisten Wirbel sorgte jedoch Boris Johnson. Der scheidende britische Premierminister ließ es sich nicht nehmen, am Unabhängigkeitstag persönlich nach Kiew zu reisen, um dort auf offener Straße – und vor reichlich Kameras – mit Selenskij spazieren zu gehen. Im Anschluss hielt er noch eine Rede.

https://twitter.com/10DowningStreet/status/1562838621866049536?s=20&t=cChExwgHY9vxs1Wbw9vB1g  

Der Unahbängigkeitstag 2022 

Seit der Annexion der Krim war es ein Anliegen der ukrainischen Regierung, den Unabhängigkeitstag möglichst groß zu feiern, was dieses Jahr nicht möglich war. Großveranstaltungen und Konzerte wurden abgesagt und die Bevölkerung dazu aufgerufen, die Sirenen an diesem Tag besonders ernst zu nehmen. Nichtsdestrotrotz wurden die Ukrainer kreativ. Oleksej Soronkin, ein ukrainischer Journalist des “Kjev Independent” , teilt auf Twitter folgendes Video: 

In Kiew gibt es 2022  keine Militärparade. Stattdessen wird dieses Jahr in erbeutete Panzer gestiegen. Es ist eine neue Normalität: Kinder posieren mit blau-gelben Flaggen vor zerstörten Militärfahrzeugen, die Spielplätze sind leerer als sonst – am ersten September geht die Schule wieder los. Im Hintergrund erklingen regelmäßig Sirenen. Die Stadtbewohner versuchen, den Lärm mit Musik zu übertönen. Und auch, wenn bestimmt nicht jeder denselben Humor teilt, scheint das ukrainische Durchhaltevermögen doch beeindruckend.


Frau Atamans Kartoffelproblem: Die Wurzeln reichen tiefer

Von Sarah Victoria | Der Bus fährt Ihnen vor der Nase weg und Sie sitzen im Rollstuhl? Sie haben einen Migrationshintergrund und der deutsche Nachbar hat zweimal nachgefragt, wie man Ihren Namen ausspricht? Oder sind Sie es einfach Leid, die ganzen Wurstbuden im Tatort zu sehen? Als offizielles Opfer von Diskriminierung dürfen Sie sich mit ihrem Anliegen demnächst unverzüglich an die nächste Beratungsstelle der Bundesregierung wenden. Hier wird Ihnen gezeigt, welche rechtlichen Möglichkeiten es gibt, um im deutschen Kartoffelland zu überleben. Doch Vorsicht, vor dem Besuch gilt es zu überprüfen, ob die Behörde auch wirklich für Sie zuständig ist! Die neue Antidiskriminierungsbeauftragte hat eine ganz eigene Prioritätenliste und nicht jedes Knollengemüse kommt darauf vor.  

Ferda Ataman wurde im Juli zur – das gilt es zu betonen – Unabhängigen Bundesbeauftragten für Antidiskriminierung gewählt. Sie selbst gehört keiner Partei an, vorgeschlagen wurde sie allerdings von der Familienministerin Lisa Paus (Bündnis 90/Grünen). Die Ampelkoalition war sich bis zuletzt uneinig über die personelle Besetzung. Atamans Kandidatur war so umstritten, dass nur eine haarscharfe Mehrheit von 376 Abgeordneten ihrem Amtsantritt zustimmte – die Regierungskoalition allein zählt 416 Abgeordnete. Neben den Oppositionsparteien kritisierten auch einige Abgeordnete der FDP die Identitätspolitik und aktivistische Vergangenheit der neuen Behördenleitung. 

Die Kartoffel-Kontroverse

Vor ihrem Amtsantritt arbeitete Frau Ataman bis 2020 unter anderem als Kolumnistin für den Spiegel. Anders als 10.000 Tweets auf ihrem Twitteraccount, ist ihre ehemalige Kolumne namens „Heimatkunde“ noch nicht gelöscht worden. Hier findet sich auch die Quelle für die aktuelle Kartoffel-Kontroverse. Der entsprechende Beitrag stammt aus dem Jahr 2020 und trägt den Titel „Almanis – oder wie nennen wir Kartoffeln?“. In ihrem Beitrag geht Frau Ataman der Frage nach, warum Deutsche so empfindlich auf den Vergleich mit einer Kartoffel reagieren, wenn Minderheiten doch regelmäßig mit „historischen Schimpfwörtern“ beleidigt werden. Die Antwort ist aus ihrer Sicht simpel: Weil die privilegierten Deutschen immer noch nicht erkannt haben, dass sie jetzt in einer Einwanderungsgesellschaft leben und nicht zu entscheiden haben, als was man sie bezeichnet. Immerhin dürfen Minderheiten ja auch nicht über ihre Fremdbezeichnung entscheiden. 

Die jetzige Antidiskriminierungsbeauftragte nimmt die Leser dabei mit auf eine Reise durch die einfallsreichsten Bezeichnungen für „Deutsche ohne Migrationshintergrund“. Von der weißen bio-deutschen Kartoffel, über den klassischen Alman, bis hin zu kreativeren Ideen wie dem „dünnhäutigen Emodeutschen“, „Germanennachfahren“ oder „Deutschen mit Nationalismusgeschichte“ ist alles dabei. Anhand der Beispiele soll aufgezeigt werden, wie sympathisch der Vergleich mit einem Nachtschattengewächs doch sein kann. Die Deutschen sollen lieber dankbar sein, nicht auf ihre dunkle Vergangenheit reduziert zu werden. In anderen Texten kritisiert Ataman den „völkischen Firlefanz“ der deutschen Einheit, fordert Döner anstelle von Wurst als Nationalgericht oder verkündet statt der Corona- die Rassismuskrise. Was muss denn alles auf ihrem Twitteraccount losgewesen sein, wenn diese Texte nach wie vor öffentlich lesbar sind? 

Doppelmoral mit Folgen 

Ein Blick in Ferda Atamans Vergangenheit zeigt auch, wie Identitätspolitik immer eine gewisse Doppelmoral anhaftet. Diskriminierung ist schlecht, deswegen braucht es mehr positive Diskriminierung. Menschen dürfen hier auf ihre Herkunft reduziert werden, solange es in das woke Weltbild passt. Die kulturelle Deutungshoheit einer Mehrheitsgesellschaft wird kritisiert und durch eine moralische Deutungshoheit einer Minderheit ersetzt.  Eine Antidiskriminierungsbeauftragte, die nach dem Motto „Gleiches mit Gleichem vergelten“ operiert. Was soll schon schiefgehen? 

Angesprochen auf ihre provokante Vergangenheit, verwies Ataman in der Pressekonferenz darauf, dass sie nicht auf ihre Vergangenheit reduziert werden will. Doch als Politiker startet man seine Karriere nicht als unbeschriebenes Blatt. Ihrem Amtsantritt ging jahrelanger Aktivismus und keine schicksalshafte Eingebung voraus, in der ihr ein Engel in Gestalt von Anetta Kahane erschien und sie zur Kandidatur ermutigte. Anders als ihre Amtsvorgänger wurde sie nach 15 Jahren als erste Vorsitzende der Antidiskriminierungsbehörde direkt vom Bundestag gewählt, davor wurde das Amt nur kommissarisch ausgeführt. Die Neubesetzung wird zukünftig neue Folgen haben, daher die mediale Aufmerksamkeit. Mit dem Rückhalt von zwei Regierungsparteien plant Ataman, Identitätspolitik in den rechtlichen Rahmen aufzunehmen. Die deutsche Gesellschaft soll ideologisch umgeformt werden – auf Kosten der Steuerzahler. Mehr Beratungsstellen, mehr Bundesbeauftragte und mehr Forschung heißen nichts anderes als mehr Budget, das für die Umsetzung benötigt wird. Für Schwerpunkte, die viele als unverhältnismäßig gesetzt sehen. Das ist die eigentliche Problematik. 

Neues Motto: Dafür sind wir nicht zuständig!

Statt in die Vergangenheit wird jetzt also in die Zukunft geblickt. Die aktuelle Kontroverse zeige laut Ataman immerhin, wo der Schuh drücke. Nach einem Blick auf die Prioritätensetzung der neuen Antidiskriminierungsbeauftragten muss es sich wohl um Barfußschuhe handeln. Frau Ataman erzählt etwa von einem Rollstuhlfahrer, dem der Bus vor der Nase wegfährt oder der Muslimin, die ihr Kopftuch an den Geräten im Fitnessstudio abnehmen soll. Neue Schwerpunkte sollen zudem auf der Bekämpfung von Antiziganismus (Diskriminierung von Zigeunergruppen), der Benachteiligung der Generation Ü50 auf dem Arbeitsmarkt oder dem Umgang mit behinderten Menschen liegen. Natürlich wird die Aufarbeitung der Coronazeit nicht erwähnt. Auch kein Wort fällt über Menschen in Pflegeberufen, die durch die Einführung der Impfpflicht ihren Job verloren haben. Zeitgleich leben im selben Land sogar Menschen unter Polizeischutz, weil sie aus einer Zwangsehe geflohen sind oder sich in ihrer Glaubensgemeinschaft unbeliebt gemacht haben. Seyran Ates, Aktivistin und Gründerin der Ibn Rushd-Goethe Moschee, twitterte folgendes: 

https://twitter.com/SeyranAtes/status/1559611909950808065

 

Für Morddrohungen sei die Antidiskriminierungsbehörde nicht zuständig. Immerhin gibt es insgesamt 42 Bundesbeauftragte, da muss man sich die Aufgaben schon aufteilen, um die eigene Stelle zu erhalten. Dafür kann sich Frau Ates vielleicht an den Bundesbeauftragten für Religions- und Weltanschauungsfreiheit, Herrn Frank Schwabe (SPD), wenden. Jüdische Menschen gehen am besten zum Antisemitismusbeauftragten, Sinti und Roma werden gleich zur Stelle gegen Antiziganismus weitergeleitet und alle nicht-heterosexuellen Opfer von Diskriminierung haben beim Queerbeauftragten eine Chance. Der Kartoffel-Beauftragte lässt wohl noch auf sich warten. Ich freue mich aber schon auf die Antwort, wenn ich mich demnächst vertrauensvoll an die Antidiskriminierungsbehörde wende, da ich Ikea wegen des Pommesverbotes einen „hate crime“ unterstelle. Laut Frau Ataman ist Identitätspolitik immerhin für alle da. 




CO2-Kompensation, oder auch: Der reformierte Ablasshandel

Von Sarah Victoria | Ferienzeit ist Reisezeit. Die Koffer sind gepackt, die Tickets gebucht und jetzt heißt es nicht nur für Apollo-Autoren: Ab in den Urlaub! Während manche klimabewusst zuhause bleiben, oder ihr CO2 immerhin im eigenen Land ausstoßen, nutzen andere die Ferien, um die Welt zu entdecken.

Flugzeuge sind dabei nach we vor das beliebteste Transportmittel für Fernreisen. Rund 18 Millionen Deutsche sind im vergangenen Jahr für ihren Urlaub in den Flieger gestiegen. Was wie eine logische Beobachtung klingen mag – wer will schon bis in die Karibik schwimmen oder mit dem Flixbus  nach Mallorca durchbrechen – trägt für viele Klimaktivisten einen bitteren Beigeschmack mit sich. Die Klimakiller sind wieder unterwegs und töten den Planeten, eine Flugreise nach der anderen. Fliegen ist die klimaschädlichste Art zu reisen, sie produziert nämlich CO2. Doch um den Planeten zu retten, müssen weltweit Treibhausgase reduziert werden. Dafür soll am besten ganz auf Flüge verzichtet werden –  ganz nach dem Motto „Zuhause ist es doch am Schönsten!“. Eine Forderung, die man zuerst nicht im politisch linken Spektrum vermuten würde. Und in der Tat steht das Vorhaben, den CO2-Fußabdruck zu reduzieren, im krassen Gegensatz zum sonstigen Wunsch nach kultureller Vielfalt und internationalem Austausch. Weltoffenheit ja, aber nur, wenn alle im eigenen Land bleiben? Das geht selbst den Klimaaktivisten zu weit. Um dieser Identitätskrise zu entgehen, haben sie eine Lösung in Form der freiwilligen CO2-Kompensation gefunden.

Der Begriff Kompensieren bedeutet so viel wie einen Nachteil ausgleichen. Bezogen auf die Flugkompensation sollen also die ausgestoßenen CO2-Emissionen ausgeglichen werden. Dafür wird für die verbrauchte Menge CO2 ein Spendenbetrag bestimmt, mit dem der verursachte Schaden kompensiert werden soll. Einer der bekanntesten Rechner stammt vom Umweltbundesamt, es gibt aber noch viele weitere Anbieter. Dieser Ausgleich ist anscheinend möglich, da das Klima ein globales Phänomen sei, dem es prinzipiell egal sei, an welchem Ort Treibhausgase entstehen oder eingespart werden. Europäische Abgase können nach dieser Logik selbst am anderen Ende der Welt kompensiert werden. Emissionen vermeiden wäre zwar ideal, aber Zertifikate tun es im Notfall auch.

Ein simples Prinzip, das historische Tradition hat. Schon im 15. Jahrhundert wusste die katholische Kirche, dass Kompensation im psychologischen Sinne immer mit dem Ausgleich einer echten oder eingebildeten Minderwertigkeit zusammenhängt. Mittels Ablassbriefen konnten Sündiger sich Gnade erkaufen und dadurch ihre Strafe mildern – und ganz nebenbei ihr Geld in Kirchenbauten investieren. Denn „wenn das Geld im Kasten klingt, die Seele aus dem Fegefeuer springt!“. In der Tat erinnert das Narrativ der CO2-Kompensation stark an den mittelalterlichen Ablasshandel und die christliche Sündenlehre. Schon von Geburt an belastet der Mensch seine Umwelt durch den Verbrauch von Ressourcen, er trägt die Erbschuld quasi in sich. Im Laufe des Lebens wird er dann zum Parasiten, der den Planeten je nach Lebensstil mehr oder weniger zerstört. Der klimabewusste Mensch ist sich dieser Schuld bewusst. Zeitgleich ist er jedoch auch fähig, den Planeten vor genau dieser Zerstörung zu bewahren. Genau diese innere Zerrissenheit greift die CO2-Kompensation auf und bietet ein gutes Gewissen für reichlich Geld an.

Die Kosten für den Emissionsausgleich können dabei variieren. Für eine vierköpfige Familie kostet der Flug nach Mallorca beim Marktführer „Atmosfair“ etwa 40 Euro, bei der kirchliche Organisation „Klima-Kollekte“ wären es über 60 Euro, andere Anbieter verlangen das Doppelte. Statt die einzelnen Projekte selbst recherchieren zu müssen, stellt der unter Flugscham leidende Spender sein Geld der Dachorganisation zur Verfügung, die dann selbst die Investition in einzelne Projekte übernimmt. Ziel der Projekte ist es immer, CO2 einzusparen. Sei es in die Subvention von leistungsfähigen Öfen in Nigeria oder Nepal, in die Finanzierung von indischem Biogas aus Kuhdung oder den Bau von Windkraftanlagen in Nicaragua.

Ob das in Mallorca verbrannte Kerosin durch indischen Kuhdung wiedergutgemacht werden kann? Ich wage das zu bezweifeln. Ebenso fraglich wie der Ansatz, global irgendwelche Wirkzusammenhänge feststellen zu wollen. Die Organisationen verweisen oft auf die positiven Effekte, die die einzelnen Projekte für das Klima haben.  Ein Ziel, das so abstrakt ist, dass man so gut wie alles darunter zählen kann. Genauso gut könnte ich die Behauptung aufstellen, dass meine Mobilitätsverweigerung im Sportunterricht bereits CO2 einsparte oder ich durch meinen Urlaub vor dem heimischen Ventilator das Klima rette – den ich übrigens einschalten darf, wir haben Solarstrom.

Um dennoch etwas Seriosität zu erlangen, gibt es auch für Kompensationsprojekte Standards. Standards alleine bedeuten natürlich noch nicht, dass eine Organisation die Mittel sinnvoll einsetzt, aber immerhin wird dadurch versucht, die allzu kriminellen Anbieter herauszufiltern. Neben dem Standard für Emissionszertifikate vom UN-Klimasekretariat gibt es etwa das Siegel des Deutschen Zentralinstituts für soziale Fragen (DZI) oder auch den Gold Standard, ein jetzt unabhängiger, aber vom WWF entwickelter, Qualitätsstandard. Die Siegel sollen sicherstellen, dass die Gelder  vor Ort ankommen. Eine wichtige Regel lautet dabei: Seriöse Organisationen setzen Mittel für konkrete Projekte mit einem klaren und verbindlichen Zeitrahmen ein. Siegelträger beschränken sich in ihren Projekten meist auf konkrete Programme, wie etwa die Aufforstung von bestimmten Wäldern oder den Schutz von Mooren. Ausschau halten die Qualitätsprüfer außerdem nach der berüchtigten 35%-Marke. Gemeinnützige Organisationen sollen nach dem DZI grundsätzlich nicht mehr als 35% der Spendengelder in Verwaltungskosten und Werbung stecken. Das erfordert natürlich die Transparenz der Finanzen. Neben diesen Indikatoren muss zudem nachgewiesen werden, dass die Projekte in irgendeiner Form Treibhausgase reduzieren und am besten auch nicht menschenfeindlich sind – ein nicht unwichtiger Punkt im Naturschutz, man denke etwa an die vom WWF finanzierten Menschenrechtsverletzungen in Asien und Afrika. Auffällig ist, dass nur wenige Klimaschutzorganisationen eines dieser Siegel tragen oder ihre Finanzen veröffentlichen. Nur einer der von Stiftung Warentest getesteten Anbieter trägt etwa das DIZ Siegel und auch der Gold Standard ist selten. In der Vergangenheit waren es gerade Organisationen, die Spendengelder umverteilen, in denen Geld verschwand. Unicef verlor 2008 deswegen für einige Zeit das DIZ Siegel und hatte jüngst mit ihrer griechischen Delegation Ärger. Kirchenorganisationen leisteten sich durch ihren kreativen Einsatz von Spendengeldern ganze Austrittswellen.

Und dennoch vertrauen reisefreudige Klimaretter, allen voran unsere Außenministerin, auf die Sinnhaftigkeit von Kompensation. Das gute Gewissen lässt sich also wieder kaufen. Wohlhabende Vielflieger sollen ihre Entscheidung zwar dennoch überdenken, aber ihre Sünden können zumindest gemildert werden. Zwar könnte man das Geld auch in einen nachhaltigeren Lebensstil investieren oder an heimische Organisationen spenden, deren Arbeit man selbst kontrollieren kann, aber es ist so viel einfacher, nur durch einen Klick schon beim Kauf des Flugtickets die Gewissensbisse auszuschalten. Warum vor der eigenen Haustür anfangen, wenn es die ganze Welt zu retten gibt?  Denn wenn das Geld beim Kompensieren klingt, die Seele in den Flieger springt – oder so ähnlich.


Putins Propaganda der „Russkij Mir“ 

Von Sarah Victoria | Seit dem Angriff auf die Ukraine sind viele Europäer ratlos. Ein Krieg, also eine echte militärische Austragung von Konflikten und das auf europäischem Boden?  Wie konnte so etwas nur passieren? 

Im Nachhinein betrachtet zeigt sich immer mehr, dass es durchaus Anzeichen für einen russischen Angriffskrieg gab. Doch wie bei den meisten Kriegen ist es ein schleichender Prozess, der zu so viel  Zerstörung führt. Krieg ist nicht nur durch Kosten-Nutzen-Analysen, geopolitische Strategien oder Statistiken zu erklären. Krieg ist kompliziert, so wie der Mensch an sich. Und gerade der Ukraine-Krieg ist besonders kompliziert, denn er ist noch nicht vorbei. Dennoch lohnt es sich, die unterschiedlichen Facetten eines Krieges genauer unter die Lupe zu nehmen. Etwa die Propaganda, also das politische Werbeprogramm, mit der Menschen dazu gebracht werden, gegen ihr angebliches Brudervolk zu kämpfen. Eines der Narrative, derer sich besonders die russische Elite gerne bedient, ist das der „Russkij Mir“. Aber was bedeutet das überhaupt? 

Ein Begriff und seine Geschichte

Hinter „Russkij Mir“ verbirgt sich die Idee einer abstrakten russischen Einflusssphäre, die über die eigenen Ländergrenzen hinausreicht. Da es keine klare Definition vom Begriff gibt, ist er eher als Sammelbegriff zu verstehen. Das ergibt sich aus der sprachlichen Vorbestimmtheit vom Wort „Mir“:  Wörtlich übersetzt bedeutet es „russische Welt“, wobei sich „Mir“ aber auch auf „eine Gemeinschaft“ oder gar „Frieden“ beziehen kann. Dadurch ist der Begriff im Sprachgebrauch ziemlich mehrdeutig und kann flexibel angewendet werden. Sei es der Bezug auf ein historisches Bewusstsein, auf die gemeinsame Sprache, Religion, oder einfach auf die russische Lebensrealität – all diese unterschiedlichen Facetten können Teil der Idee einer „Russkij Mir“ sein. 

Die Wurzeln des Begriffs reichen weit in die russische Geschichte zurück. Zu Beginn war die „Russkij Mir“ vor allem eine poetische Metapher, die in Gedichten und Erzählungen vorkam. Nikolai Karamsin erwähnte den „russischen Volksgeist“ schon 1818 in seinen Gedichten und läutete damit die Epoche des Sentimentalismus ein. Ursprünglich lag dem Begriff vor allem der Wunsch zugrunde, im nationalen Körper eine Verbindung zwischen einfachem Volk und Elite zu finden. Ähnlich wie die europäischen Literaten des 19. Jahrhunderts, sehnte es auch die russischen Poeten nach dem Gefühl von Gemeinschaft und nationaler Zugehörigkeit. Das französische „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit!“ fand durch Karamsins Schüler Sergej Uwarow ein russisches Pendant, das  „Orthodoxie, Zarenherrschaft, Volksverbundenheit!/ Prawoslawije, Samodershawije, Narodnost! “ lautete. Anders als in Frankreich dauerte es allerdings noch, bis das Konzept auch politischen Einfluss fand. 

 

Eine Idee wird politisch  

 

Bis zum 20. Jahrhundert handelte es sich bei der „Russkij Mir“ um ein kulturelles Konzept, das vielleicht Teil von Folkloren war, aber noch nicht ideologisch besetzt war. Das änderte sich schon zu Zeiten der Sowjetunion, in der sich die eurasische Bewegung formte. Die eurasische Bewegung bezog sich häufig auf die metaphysische Einheit des russischen Raumes, der natürlich im Gegensatz zum germano-romanischen Teil Europas steht. Die Bewahrung dieser Einheit wurde oberstes Ziel der Ideologie – die politische und auch wissenschaftliche Bewegung zerfiel jedoch in den 1930er Jahren und fand erst nach dem Zerfall der Sowjetunion eine Rennaissance. Die neue Trias lautete fortan „Isolationismus, Globalisierungskritik und Neoimperialismus!“. Die „Russische Welt“ sollte fortan einen Gegenpol zum Westen darstellen und mutierte zu einem Synonym für die russische Einflusssphäre. Gerade in den letzten 20 Jahren prägte diese Spielart der „Russkij Mir“ immer mehr das ideologische Klima Russlands. Aus dem abstrakten Ideal wurde also erneut ein aktuelles ideologisches Konzept, das seinen Weg in Staat und Kirche fand.

 

Dieser Trend fällt mit der Präsidentschaft Putins zusammen. Am 12. Juli 2021 veröffentlichte der Kreml einen Artikel namens „Zur historischen Einheit von Russen und Ukrainern“  (http://en.kremlin.ru/events/president/news/66181 ) der vom russischen Präsidenten persönlich verfasst worden sein soll. Der Artikel beginnt folgendermaßen: 

 

„Als ich kürzlich in Direct Line nach den russisch-ukrainischen Beziehungen gefragt wurde, sagte ich, dass Russen und Ukrainer ein Volk sind – ein einziges Ganzes. Diese Worte wurden nicht von kurzfristigen Erwägungen getrieben oder durch den aktuellen politischen Kontext veranlasst. Es ist das, was ich bei zahlreichen Gelegenheiten gesagt habe und woran ich fest glaube.“

 

Alleine in diesem kurzen Abschnitt zeigt sich, wie sich aus einer bloßen Idee ein politisches Narrativ spinnen kann. „Russkij Mir“ bedeutet nun eine geopolitische Einflusssphäre, die nicht nur beliebig erweitert werden kann, sondern militärisch verteidigt werden muss – und bekanntlich ist Angriff ja die beste Verteidigung. 

 

Der russische Präsident persönlich war es, der die Idee quasi verstaatlichte und 2007 die gleichnamige Stiftung „Russkij Mir“ gründete. Offiziell besteht ihr Ziel darin, die russische Kultur im Ausland zu fördern.  Neben Spenden erhält die Stiftung jährlich rund 750 Millionen Rubel aus der Staatskasse. Der Vorsitzende ist Wjatscheslaw Nikonow, der Enkel des bekannten Politikers Wjatscheslaw Molotow. Wjatscheslaw Nikonow ist sehr stolz auf seinen bekannten Großvater, der ein enger Vertrauter Stalins war und übrigens auch der Namensgeber des Molotowcocktails ist. Molotow selbst war es, der neben 383 Hinrichtungslisten von Stalin auch den den berüchtigten Hitler-Stalin-Pakt unterschrieb. Molotow war hingebungsvoller Kommunist. Selbst als Stalin seine Ehefrau wegen ihrer vermeintlichen Verbindung zu jüdischen Nationalisten in ein Straflager schicken ließ, protestierte er nicht. Es verwundert also nicht, dass auch sein Enkel die Nähe zur politischen Elite sucht und ihr Sprachrohr der Wahl ist. 

 

Putins prominentes Sprachrohr 

 

Nikonow war vor seiner politischen Karriere – und seinem Dasein als Dauergast im russischen Staatsfernsehen – in der Wissenschaft tätig. Lange leitete er die historische Fakultät und auch den Lehrstuhl für Neuere Geschichte an einer Moskauer Universität. Er beschäftigte sich insbesondere mit internationalen Beziehungen, reiste dafür auch mehrmals in die USA, auf deren Politik er sich dann spezialisierte. Erst kürzlich wurde ihm der Ehrendoktortitel der University of Edinburgh aberkannt. Für Schlagzeilen sorgte er zuletzt mit seinen Äußerungen in einer russischen Fernsehsendung. Hier nannte er den Krieg gegen die Ukraine einen „ metaphysischen Kampf von Gut gegen Böse“, bei dem Russland natürlich auf der guten Seite stehe und den „heiligen Krieg“ daher unbedingt gewinnen müsse. Dabei bediente er sich den Worten des Patriachen der russisch-orthodoxen Kirche – einem weiteren engen Vertrauten Putins. 

 

Kreml und Klerus, Hand in Hand 

 

Auch die russisch-orthodoxe Kirche hat das Konzept der „Russkij Mir“ in den letzten Jahre aufgegriffen. Ihr Patriach, Kyrill der I., gehört zu Putins wichtigsten Vertrauten. So teilen die beiden neben ihrer Vergangenheit beim Geheimdienst auch die Vorstellung einer besonderen russischen Verantwortung für die Welt. Verantwortung übernehmen ist hierbei ein Stichwort für „den Einfluss des Westens aufhalten“. Im religiösen Rahmen heißt das vor allem, der atheistischen Ideologie zu trotzen, die ihren Weg – ausgehend von Marx, also dem Westen – nach Russland fand. Es sei die göttliche Bestimmug Russlands, ihre Brüder und Schwestern, zu denen alle Menschen der heiligen Rus zählen, von diesem Einfluss zu beschützen. Die „Rus“ ist dabei das gemeinsame Reich im Mittelalter, aus dem sowohl das heutige Russland, als auch die Ukraine und Belarus hervorgehen. 

Vertreter der russisch-orthodoxen Kirche sind 2009 offiziell der Stiftung beigetreten. In ihren Statements beziehen sie sich vor allem auf die religiöse Herkunft, russische Wertevorstellungen und den übernationalen Charakter der russischen Welt. Innerhalb der orthodoxen Kirche kam es durch die fortschreitende Ideologisierung zu Spannungen und durch den Kriegsbeginn auch zu Brüchen innerhalb der Kirche. Erst vor ein paar Monaten sagte sich die ukrainisch-orthodoxe Kirche vom Moskauer Patriarchat los. Ebenso kam es in jüngster Zeit zu Personalwechseln in der Führungsetage der Kirche, Metropolit Hilarion, ehemals rechte Hand von Patricharchat Kyrill, wurde durch Kyrills Sekretär ersetzt. Interessant erscheint dieser Machtwechsel, da es vor allem Hilarion war, der die Idee der „russischen Welt“ nicht nur auf dem kirchlichen Fernsehsender, sondern auch im Staatsfernsehen vertrat. In den wöchentlichen Interviews äußerte er sich im Vergleich zu Kyrill wenig politisch und verwies auffällig häufig auf die Bedeutung des Friedens – nun wird jemand anderes die russisch-orthodoxe Zuschauerschaft auf politischer Linie halten müssen. 



Gerade den Ukrainern ist das Konzept der „Russkij Mir“ nur allzu gut vertraut. Alleine in der Präambel der Verfassung der Volksrepublik Donezk, die nach dem Euromaidan 2014 ausgerufen wurde, findet man das Wort „Russkij Mir“ fünf Mal. Zudem reichten Putins Sprachrohre auch bis in die Ukraine herein – bislang jedenfalls. Seit dem 24. Februar diesen Jahres dürfte sich das geändert haben. Es bleibt abzuwarten, was die Zukunft bringen wird. Die Hoffnung stirbt bekanntlich zuletzt – und damit auch die Hoffnung, dass sich die „Russische Welt“ möglichst bald aus dem Narrativ des Kremls befreien kann. 




Neues Infektionsschutzgesetz: Zu viel Nachsicht bei Kindern – zumindest laut deutschem Lehrerverband

Von Sarah Victoria | Am Mittwoch wurde der Entwurf des neuen Infektionsschutzgesetz veröffentlicht, bei dem sich unser geschätzter Gesundheitsminister Karl Lauterbach und sein Kollege Justizminister Marco Buschmann mal wieder richtig verausgabt haben – ganz egal, ob alle anderen europäischen Länder inzwischen die Reißleine gezogen haben. Wir machen unbeirrt weiter: Und hierbei dürfen sich gerade die Schulen warm anziehen, denn die Bundesregierung packt die Winterreifen aus.

Ab Oktober heißt es in den Schulen wieder Luftfilter an, Maske auf und Vernunft aus. Zumindest ab der 5. Klasse, denn Grundschulen wurden von der neuen Maskenregelung ausgenommen. Wer meint, hier hätte sich endlich die Lehrerlobby durchgesetzt, liegt falsch. Während der Kinder- und Jugendarztverband die Maskenbefreiung begrüßt, beschwert sich ausgerechnet der Deutsche Lehrerverband über Regulierungslücken des neuen Gesetzentwurfes. Ihr Vorsitzender, Heinz-Peter Meidinger, kritisiert insbesondere die fehlende Maskenpflicht an Grundschulen. Dadurch nehme man Schulschließungen in Kauf, was nicht nachvollziehbar sei. Bei einer neuen Infektionswelle würde, laut Meidinger, ein wichtiges Instrument fehlen, um den Präsenzbetrieb aufrecht erhalten zu können. Zudem greife das Infektionsschutzgesetz erst ab Oktober, was zu einer Regelungslücke ab September führen würde. 

Die Bundesregierung hat einen vollkommen willkürlichen und umfänglichen Instrumentenkasten für den Schulbetrieb vorbereitet – und dem Lehrerverband? Dem greifen die Maßnahmen nicht weit genug. Um es mit Herrn Meidingers Worten zu sagen: Das ist für mich nicht nachvollziehbar. Zum einen erschließt sich mir nicht, warum ausgerechnet Kinder und Jugendliche getestet werden müssen. Noch weniger erschließt sich mir aber, warum Schüler Maske tragen müssen, damit Schulen nicht geschlossen werden. Eine Erklärung dafür darf man sich wohl selber ausdenken, denn Logik sucht man hier vergeblich. Anstatt Partei für die eigene Lehrerschaft – die Interessen der Schüler existieren hier ja schon gar nicht mehr – zu ergreifen und auf ihre Rechte zu verweisen, wird nach härteren Schutzmaßnahmen gerufen. Einige Landesregierungen werden bestimmt zur Hilfe eilen – auf Kosten der Schulen, die wieder Coronatests und Maskenpflicht kontrollieren dürfen. Und auf Kosten der Schüler, die bei geöffnetem Fenster frieren und ihre kleinen Gesichter hinter Masken verstecken müssen. 

Meine persönliche Erfahrung 

Was die willkürlichen Corona-Maßnahmen und die soziale Isolation der letzten Jahre bei Kindern angerichtet haben, konnte ich zuletzt selbst hautnah miterleben – denn ich wirke seit diesem Jahr bei einem Lernpatenprojekt an einer Grundschule mit. Wir Lernpaten sind so etwas wie Mentoren, die sich einmal pro Woche mit ihren Patenkind treffen und gemeinsam lernen, spielen oder einfach nur reden. Das Projekt gibt es seit letztem Jahr, um Kinder, die während der Pandemiezeit zu kurz gekommen sind, zu fördern. Das sind Kinder, die Schwierigkeiten mit der Sprache haben und deswegen nicht mehr im Unterricht mitkommen und das Schuljahr wiederholen müssen. Kinder mit Lernschwierigkeiten, die länger unerkannt blieben. Schlichtweg vernachlässigte Kinder, die über Monate keine Tagesstruktur kannten. Kinder, mit schweren psychischen Problemen.

Nicht jedes Kind hat das Glück, von den eigenen Eltern in einem sicheren Umfeld gefördert werden zu können – und das trotz Corona-Stress. Bei manchen Eltern scheitert es am Faktor Zeit, bei anderen an der Sprache und wieder andere sind im Überlebensmodus und haben keine Kraft, Verantwortung für die Bildung ihrer Kinder zu übernehmen oder sich schlicht richtig um sie zu kümmern. Diese Defizite sollen Pädagogen wieder ausgleichen. Doch statt Entlastung gibt es von der Bundesregierung nur ein winterliches Maßnahmenpaket.

Und trotzdem: Der Aufschrei unter den Pädagogen lässt auf sich warten. Zum einen sind jene, denen etwas an ihrem Beruf liegt, sehr beschäftigt oder genießen gerade die Ferien. Zum anderen setzen sich in ihrer Lobby momentan die Lauterbach-Fans durch. Sie merken womöglich gar nicht, wie sehr ihre Interessen von der Politik ignoriert werden. Die Bildungsministerin freut sich, dass Schulen jetzt immerhin offen bleiben dürfen, das Kultusministerium löst psychische Probleme durch das Hochladen von Unterrichtsmaterial und der Lehrerverband hat nichts besseres zu tun, als sich darüber zu beschweren, dass an Grundschulen keine Maskenpflicht verhängt werden darf.

 

Das neue „normal“ der Bildungspolitik 

Die Bildungsministerin Bettina Stark-Watzinger, wohlgemerkt von der FDP, plädierte in einem Interview erst kürzlich noch für den Normalbetrieb in Schulen. Damit meinte sie allerdings nur den Präsenzunterricht – teure Lüftungskonzepte, Impfbusse vor der Schultür und notfalls auch die Maskenpflicht werden weiterhin ermöglicht. Schulschließungen soll es zukünftig nur wegen akuten Lehrermangels geben, sei es weil die Lehrer coronabedingt ausfallen oder sich alle im Wartezimmer der Burnout-Klinik treffen. Letzteres würde die Ministerin natürlich anders ausdrücken. Fest steht jedoch, dass die Anforderungen an Pädagogen, seien es Lehrer, Schulpsychologen, Sozialarbeiter oder ehrenamtliche Helfer, während der Pandemie stetig gestiegen sind. Musste man zu Beginn „nur“ einmal die versäumte Digitalisierung im Schulbetrieb ausgleichen oder kontrollieren, ob Schüler sich das Teststäbchen nicht zu tief in die Nase schieben, heißt es mittlerweile auch noch Lücken im Schulstoff schließen, häusliche Gewalt erkennen, psychische Probleme lösen, Integration nachholen und nebenbei noch die ukrainischen Flüchtlingskinder betreuen. 

Das alles kann gar nicht funktionieren – die Leidtragenden sind dann wie so oft, die Schüler. Das Wissenschaftliche Institut der AOK hat Anfang dieses Jahres eine Studie zu den Auswirkungen der Coronamaßnahmen auf die Gesundheit von Kindern durchgeführt. Das Ergebnis ist schockierend: Jede dritte Mutter gab an, dass das seelische Wohlergehen ihrer Kinder gelitten hat. Deutlich trat auch ein soziales Gefälle hervor, gerade Kinder von Geringverdienern und Alleinerziehenden litten besonders unter den Maßnahmen. Ganz zu schweigen von den alarmierenden Fallzahlen der Kinder- und Jugendpsychatrien. Dies gilt sich immer wieder vor Augen zu führen, wenn man die Reaktion des Lehrerverbandes hört. Oder um es im Stil der Bundesregierung zu sagen: Kinder brauchen keine Winterreifen und Schneeketten an ihrem Spielauto. 


Zu Besuch bei Tarot-Toni Hofreiter

Von Sarah Victoria | Die Wege der Zukunft scheinen unergründlich, aber zum Glück behält ein Mann den Überblick: Tarot-Toni, das bayerische Urgestein der Grünen, weiß dank seiner Karten, wo die Zukunft hinführt. Ich habe ihn in der Pause der Zirkusvorstellung besucht.
Abseits vom bunten Treiben in der Zirkusmanege, gleich hinter dem Kassenhäuschen, findet sich ein schmaler Weg. Neugierig wage ich einen Blick um die Kurve und erspähe einen kleinen Wohnwagen, der versteckt zwischen zwei Zirkuswägen Platz findet. Am Wegesrand stehen lauter Blumentöpfe mit exotisch aussehenden Lilien und vermoosten Holzpfeilen, die einem den Weg zum Eingang weisen. An der Eingangstür hängt ein Schild: „Tarot-Tonis Kartenzauber“.


Noch bevor ich mein Handy entsperren kann, um ein Bild zu machen, fliegt plötzlich die Tür auf und ein lautes „Ich grüße Sie!“ schallt mir entgegen. Vor lauter Schreck lasse ich mein Handy in einen der Blumentöpfe fallen. Möglichst vorsichtig versuche ich, mein Gerät aus den gelb-orangenen, trichterförmigen Blüten zu befreien und richte mich wieder auf.
„Dieses Prachtstück ist aus der Gattung der Bomarea, eine bekannte Kletterpflanze.“, erklärt mir ein Mann mit blonder Wallewalle-Mähne. „Darüber haben Sie doch promoviert!“, platzt es aus mir heraus.
„Sie können mich ruhig Toni nennen, meine Pronomen sind er/ihm. Ich sehe, dein drittes Auge ist stark. Warst du damals auch in Südamerika und hast dich mit der dortigen Flora und Fauna bekannt gemacht?“
„Ähm nein, ich war nur auf Google. Ich meine, Ecosia.“


Er nickt verständnisvoll. „Ich denke gerne an meine Reise damals zurück. Also natürlich erst, nachdem ich die Flugmeilen kompensiert habe. Ein tolles Land, voll freier Flüsse…wären da nicht diese Soja-Multis.“ Sein Blick fällt wieder auf mich. „Du willst etwas über die Zukunft wissen?“
Ich nicke und gemeinsam betreten wir den Wohnwagen. Der kleine Raum ist voller Pflanzen, aus dem Badezimmer kommt ein heller Nebel. An den grün gestrichenen Wänden hängen eingerahmte florale Malereien. „Sind die Bilder von ihren Kindern gemalt worden?“, frage ich freundlich nach. „Das sind meine Kunstwerke.“, antwortet er fast beleidigt. „Wow. Ich meine, so… farbenfroh!“ Ich beschließe, weitere Fettnäpfchen zu vermeiden und setze mich schweigend an den kleinen Tisch, auf dem schon ein großer Kartenstapel liegt.

„Von wegen beleidigte Leberwurst, ich bin Vegetarier!“


„Ich ziehe jetzt fünf Karten aus dem kleinen Arkana-Tarot. Gemischt habe ich meine Karten schon, als du noch vor meinem Wohnwagen standest. Die Tarotkarten habe ich zum Teil auch selber gemalt. Zurzeit nutze ich die Ukraine-Edition, in blau gelb, ein Geschenk aus Lviv. Frau Strack-Zimmermann hat die Trumpfkarten aus der großen Arkana eingesackt, angeblich wollte sie mit Herrn Lindner teilen. Naja…“ Er legt die Karten nebeneinander auf den Tisch und hält einen kurzen Moment inne, bevor er weiterredet. „Der König der Schwerter. Die Karte sagt, dass wir in harten Zeiten leben. Ich meine, persönlich geht es schon, aber politisch ist es schlimm. Der Krieg in Europa, der rechte Faschismus und nicht zu vergessen: Die Klimakrise ist da. Politiker müssen unbedingt mehr Verantwortung übernehmen und die Hand des Staates besser lenken.

Was haben wir als nächstes, ah, die zwei Münzen. Die stehen dafür, Dingen mehr Aufmerksamkeit zu schenken. Ich finde ja, feministische Außenpolitik, der Veggie Day und die stark gefährdete Rotbauchunke, meine liebste Krötenart, verdienen mehr Aufmerksamkeit. Karte Nummer drei sind die fünf Kelche, wie passend. Sie stehen für Melancholie und Trauer, ausgelöst durch die russische Invasion oder Vergabe von Ministerposten natürlich. Seit wann zählt es nicht, einen bayerischen Migrationshintergrund zu haben, Herr Gott nochmal, ständig krieg ich Untertitel. Und von wegen beleidigte Leberwurst, ich bin Vegetarier!“ Er atmet einmal tief durch. „Äh, bitte vergiss den letzten Teil. Aber Hopfen und Malz sind noch nicht verloren! Der Bube der Münzen verkörpert ein Geschenk oder ein Angebot. Als Deutsche sind wir natürlich so wohlhabend, dass wir keine Geschenke benötigen. Aber wir können geben, so viel geben. Wir müssen der Ukraine mehr geben, Europa mehr geben und natürlich der ganzen Welt mehr geben – vor allem Waffen. Und als Abschluss die Karte für die Zukunft, in dem Fall der Ritter der Stäbe. Die Karte steht für Energie, Einsatzbereitschaft und sofortiges Handeln. Also nichts anderes als schweres Gerät, wie etwa Panzer und Artilleriegeschütze. In die Ecke habe ich sogar einen kleinen Kampfhubschrauber neben die Friedenstaube gemalt.“


Damit kommt er zum Ende seiner Lesung. Ich bedanke mich und frage noch nach einer Rezeptur für gute Haarmasken, bevor ich den Wohnwagen verlasse. Draußen atme ich erleichtert durch, der Nebel im Wohnwagen hat mich ganz schläfrig gemacht. Auf dem Rückweg ruft mir Tarot-Toni noch einen letzten Satz zu: „Und nicht vergessen: Waffen, Waffen, Waffen!“


Das Apollo-Horoskop: So erleben die Sternzeichen den Weltuntergang

Von Sarah Victoria | Jede Zeitung, die was auf sich hält, hat ein Horoskop. Unseres ist noch mal garantiert viel genauer, wegen Apollo Rakete und so, ihr wisst schon. Also direkt aus den Sternen gerissen, hier unser Apokalypsen-Horoskop:


Wassermann

Der exzentrische Wassermann macht den Weltuntergang zu seiner Bühne. Jetzt ist der richtige Zeitpunkt, den eigenen Beruf zu wechseln. Ihr künstlerisches Talent, zusammen mit ihrem rebellischen Geist und einem Gespür für Selbstdarstellung lässt sie zum geborenen Influencer werden. Hier wird der draufgängerische Erfindergeist kombiniert mit Mars im dritten Haus zum #Karrieredurchbruch führen. Denken sie unbedingt an ihr Ladekabel.

Fische

Der einfühlsame Fisch mag keine Abschiede. Als Empath saugen sie gefühlt das ganze Leid der Welt in sich auf. Doch keine Sorge, Amor ist auf ihrer Seite und wird sie pünktlich zum Weltende auf ihr romantisches Gegenstück treffen lassen. Vergessen sie in dieser Zeit nicht ihre eigenen Bedürfnisse und denken sie daran, genug Wasser zu trinken. Experten empfehlen 3 Liter am Tag, am besten gefiltert mit unserem Kristall-Vital-Filter für nur 299,99 Euro.


Widder

Der energiegeladene Widder schafft es auch während der Apokalypse, seinen Willen durchzusetzen. Als Feuerzeichen möchte er am Puls der Zeit dabei sein und aktualisiert minütlich seine Twitter-Timeline. Vergessen sie dabei nicht, im Moment zu leben und seien sie nicht enttäuscht, wenn der Weltuntergang nicht sofort eintritt, die Sterne werden es gut mit ihnen meinen und sie direkt bei der Supernova dabei sein lassen.

Stier

Der treue Stier erlebt den Weltuntergang nicht alleine und lädt in den letzten Tagen seinen kompletten Freundeskreis in seine Erdhöhle ein. Als Optimist weiß er, die guten Seiten des Lebens zu schätzen und freut sich über die gemeinsame Zeit. Denken Sie daran, die Playstation nicht an den Notfallgenerator anzuschließen, den brauchen Sie noch für’s Bier.

Zwilling

Der Zwilling weiß nicht so recht, wie er mit dem Ende der Welt umgehen soll, weswegen er sich auf alle Eventualitäten eingestellt hat. Sei es ein Erste-Hilfe-Kurs, Investments in Bitcoin, Boxtraining oder eine Woche nackt im Wald leben – sie haben alles ausprobiert. Gönnen sie sich vor dem Weltuntergang noch eine Pause zum Durchatmen.


Krebs

Der Krebs würde sich während dem Weltuntergang am liebsten in seinem Panzer verstecken. Als emotionales Wasserzeichen haben sie die letzten Monate damit verbracht, sich so gut wie möglich vom Weltuntergang abzulenken und alle 33 Staffeln der Simpsons gesehen. Unser Tipp: Suchen Sie stattdessen einen Bunker auf.


Löwe

Der mutige Löwe lässt sich auch in der Apokalypse nicht hängen. Um sich körperlich fit zu halten, befindet sich neben Klappbank und Klimmzugstange auch ein Jahresvorrat an Proteinpulver im Bunker des Löwen. Ihr unerschütterlicher Kampfgeist wird sie bei der Schlacht um’s Klopapier die Krallen ausfahren lassen.


Jungfrau

Als Organisationstalent ist die Jungfrau bestens auf das Ende der Welt vorbereitet. Selbst Weizenmehl und Öl lassen sich in ihrem Vorrat finden. Doch Vorsicht, dieser Reichtum könnte in ihren Mitmenschen Neid erzeugen und zu unvorhersehbaren Ereignissen führen.


Waage

Die ausgeglichene Waage versucht auch während der Apokalypse zu vermitteln. Sie kennt durch den regelmäßigen Besuch der amerikanischen Contact-Messen alle Verhandlungstechniken für den Umgang mit Aliens und Zombies. Nutzen sie dieses Wissen auch im Alltag mit ihren Mitmenschen und stellen sie sich notfalls taub.


Skorpion

Skorpione zeichnen sich durch ihren starken Willen aus – so auch in dieser Zeit. Sie wissen genau, mit wem Sie gerne ihren Bunker teilen möchten und mit wem nicht. Passen sie jedoch auf, nicht ihren emotionalen Giftstachel zu setzen, das Jüngste Gericht ist nah und die Polizei fern.


Schütze

Anfangs verbringt der energiegeladene Schütze Tag und Nacht mit der Weltuntergangs-Recherche. Seien sie dabei vorsichtig, nicht auf Fake News hereinzufallen und bleiben sie auf dem Weg der Erkenntnis, den ihnen unser qualifiziertes Expertenteam für nur 0,99 Euro pro Minute gerne zeigt. Als unerschütterlicher Optimist freut sich der Schütze schlussendlich über das neue Abenteuer. Seien sie jedoch geduldig, die Welt geht immerhin nicht sofort unter.


Steinbock

Der genügsame Steinbock lässt sich auch durch den Untergang der Welt nicht aus der Ruhe bringen. Schon Monate vor der Apokalypse präparierte er seinen Prepper-Bunker und ist perfekt mit Nahrung, Hygieneprodukten und Medikamenten ausgestattet. Doch vergessen Sie nicht den Spaß an der Sache, das Mindesthaltbarkeitsdatum ihrer Proteinriegel kann warten. Und bereiten Sie sich schon einmal darauf vor, ihren Vorrat mit dem Krebs zu teilen.


Wolodymyr Zelensky – der verkannte Held des Westens

Von Sarah Victoria | Die ukrainische Politik gilt als korrupt – auch Präsident Zelensky wurde in Deutschland früh abgeurteilt. Doch sein Mut sollte Vorbild für uns sein. Die Geschichte eines Dieners des Volkes. 

Bild: President.gov.ua

„Wir sind noch hier.“ Mit diesen Worten wendet sich der ukrainische Präsident in einem viral gegangenen Instagram-Video an seine Nation. Tage zuvor noch in Anzug und Krawatte, steht Wolodimir Zelensky nun in Militärkleidung vor der Kamera, mit tiefen Augenringen im Gesicht. Zuvor hatten russische Nachrichtenagenturen behauptet, der Präsident hätte das Land verlassen. Doch das Gegenteil ist der Fall: Zusammen mit dem Ministerpräsident, Parteichef und dem obersten Berater steht er in Kiew. Denys Shmyhal (der Ministerpräsident) hält als Beweis sein Handy mit der aktuellen Ortszeit in die Luft. Mittlerweile ist das Video schon ein paar Tage her, die Kampfmoral der Ukrainer ist jedoch geblieben und macht seit nunmehr elf Tagen Putin das Leben schwer, während die Welt gebannt zusieht. Das Time Magazin nannte Zelensky jüngst den „Helden des Westens“, doch die wenigsten dürften wissen, um wen es sich bei diesem Helden überhaupt handelt. Daher folgt hier ein etwas längerer Abriss über die politischen Probleme der Ukraine und ihren Präsidenten, Wolodimir Zelensky.

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Die Diener des Volkes

Zelenskys Partei „Diener des Volkes“ war bei den ukrainischen Präsidentschaftswahlen 2019 neu im Politikgeschehen. Der Name stammte dabei von der gleichnamigen politischen Sitcom, in der Zelensky von 2014-2019 mitwirkte. Als Wassilyj Holoborodko spielte er hier die Rolle eines Geschichtslehrers, der per Crowdfunding-Kampagne zum Präsidenten wird und gegen die Korruption des Landes vorgeht. Zelensky nahm zudem an diversen Fernsehformaten teil, war Komödiant und lieh Paddington Bär seine Stimme. Was viele jedoch nicht wissen: Zelensky selbst kommt aus einer jüdischen, wohlgemerkt russischsprachigen, Akademikerfamilie. Er studierte in Kiew Rechtswissenschaft, führte diesen Beruf aber nie aus. Hier lernte er auch seine Frau Olena kennen, mit der er bis heute verheiratet ist und zwei Kinder hat. Zelenskys Sieg glich einer Revolution an der Wahlurne. Er setzte sich bei der Präsidentschaftswahl nicht nur gegen den Amtsinhaber Petro Poroschenko durch, sondern seine neu gegründete Partei erreichte mit über 43 Prozent der Stimmen auch die absolute Mehrheit in der Werchovna Rada (ukrainisches Parlament) und konnte ohne Koalitionspartner die Regierung des Landes stellen.

Der Wahlerfolg stammt dabei zum einen aus der Popularität Zelenskys, aber auch der politischen Unzufriedenheit der Bevölkerung. Die Partei „Diener des Volkes“ vermied es, konkrete Wahlversprechen zu machen. Zelenskys Partei verschrieb sich der Bekämpfung der Korruption – das zählt quasi zur Tradition im ukrainischen Wahlkampf. Die deutsche Presse stand dem neuen Präsidenten zwiegespalten gegenüber, freute sich auf der einen Seite über die pro-europäische Haltung, bezeichnete ihn aber auch als Populisten.

Eine wichtige Regel im ukrainischen Wahlkampf lautet: Ohne oligarchische Unterstützung Präsident zu werden, ist so gut wie unmöglich. Zelenskys Oligarch der Wahl heißt Ihor Kolomoyskyi. Er ist der Besitzer des Medienunternehmens K1+1, das schon die Sendung „Diener des Volkes“ produzierte und Zelensky berühmt machte. Kolomoyskyi war von 2014-2015 Gouverneur der Oblast Dnipropetrovsk in der Ostukraine. Mit der Gründung seiner Kolomoyskyi-Armee machte er sich sehr unbeliebt in Moskau, Russland erlies im Jahr 2014 Haftbefehl gegen ihn, in die USA darf er wegen Verdacht auf Korruption seit 2021 nicht mehr einreisen.

Das Problem der Korruption

Zelenskys Vorgänger, Petro Poroschenko, war selbst Unternehmer und besaß eine Süßwarenkette, die während seiner Amtszeit florierte. Zudem betrugen die Steuerzahlungen und Spenden Poroschenkos deutlich unter zehn Prozent seines Einkommens. Noch auffälliger verhielt sich allerdings Poroschenkos Vorgänger, Viktor Janukowitsch, der 2014 im Zuge des Euromaidans aus dem Amt gehoben wurde. Aus Putins Sicht ist Janukowitsch der letzte legitime Präsident der Ukraine, Russland gewährte Janukowitsch nach seiner Absetzung auch Asyl, angeblich in einem Moskauer Luxushotel. Janukowitsch sprach nach seiner Absetzung häufig von neofaschistischen Politikern und Terror in der Ukraine. Wovon er jedoch nicht sprach, war der Reichtum seines älteren Sohnes Oleksandrs, der während seiner Präsidentschaft geschätzte 500 Millionen Dollar betrug. Auch erwähnte er nicht, dass um die 50 Abgeordnete der Werchovna Rada von den damals mächtigsten Oligarchen der Ukraine – Rinat Achmetov und Dmitro Firtasch – unter seiner Anleitung „beeinflusst“ wurden. Machtmissbrauch stand zu Janukowitschs Amtszeit an der Tagesordnung, auch wenn das aus dem russischen Exil natürlich anders gesehen wird.

Am Beispiel Janukowitschs kann man eines der Kernprobleme ukrainischer Politik gut erkennen: Die Korruption und der daraus resultierende Einfluss der Oligarchen. Zurückzuführen ist dieser Einfluss vor allem auf die Geschichte der Ukraine. Nach dem Zerfall der Sowjetunion und dem Erlangen der Unabhängigkeit im Jahr 1991 musste sich das Land neu strukturieren. Es befand sich zusammen mit den ehemaligen Satellitenstaaten in einer Umbruchszeit, die so gut wie alle Lebensbereiche betraf. Wie in totalitären Ideologien üblich, wurde bis dahin versucht, alle Bereiche des Lebens zu politisieren. Sei es Sport, Kultur oder auch die Sprache, alles wird politisch und dadurch staatlich organisiert.

Nach dem Zerfall der Sowjetunion mussten diese Bereiche wieder neu organisiert werden. Gerade in der Ukraine kam es dabei zu einer engen Verstrickung von Politik und WirtschaftEine Verstrickung, die so eng war, dass man sich schwertat, korrupte Politiker und Oligarchen voneinander zu unterscheiden. Ein kleiner Trick für die Unterscheidung: Schwindet das Vermögen eines Politikers nach dem Ende der Amtszeit, war er korrupt, bleibt es unverändert bestehen, könnte es sich um einen Oligarchen handeln.

Korruptionsbekämpfung ist gefährlich

Seitdem sind über 30 Jahre vergangen, doch nach wie vor ist die Korruption eines der Hauptprobleme des ukrainischen Staates. Zelenskys Partei wollte sich diesem Problem annehmen. Ein Unterfangen, das alles andere als einfach ist. Einerseits, weil es sich um einen Teufelskreis handelt und andererseits, weil man als Abgeordneter oder Journalist gerne mal mit dem eigenen Leben bezahlt, wenn man zu unbequem wird. Alleine letztes Jahr wurde das Auto von Sergej Schefir, einem engen Berater Zelenskys, in Brand gesetzt und beschossen, sodass dieser nur noch mit gepanzerten Autos fährt. Um dennoch gegen die Korrumpierbarkeit von Politikern vorzugehen, wird auf zwei altbekannte Mittel aus den Federalist Papers zurückgegriffen: Transparenz und Rechtstaatlichkeit. Die Rechtstaatlichkeit beschäftigte bereits Zelenskys Vorgänger Poroschenko, der 2014 eine Justizreform einleitete und während seiner Amtszeit ein Dutzend neuer Gesetze für die Ausgestaltung des Gerichtswesens verabschiedete. Zelensky führte diesen Trend fort und setzte eigene Änderungen für den Aufbau einer unabhängigen Richterschaft ein. Bislang lässt der Erfolg jedoch auf sich warten. Im internationalen Vergleich steht es nach wie vor schlecht um die Ukraine, sie befand sich 2021 etwa auf Platz 122/138 des Korruptionsindex (zum Vergleich Russland befindet sich auf Platz 136 und Deutschland auf Platz 10)

Von Anfang an eine politische Zwickmühle

Zelensky befand sich also bereits vor seiner Zeit im Bunker in einer politischen Zwickmühle. Auf der einen Seite bestanden Abhängigkeiten zur EU und zum IWF, die Anleihen und Privilegien im Zuge der Korruptionsbekämpfung versprachen. Eine Aufnahme in die EU wurde jedoch ausgeschlossen.
Auf der anderen Seite war Russland die Annäherung an die „westliche Einflusssphäre“ ein Dorn im Auge. Die neue Regierung stellte das perfekte Feindbild dar: Eine neue Partei, unterstützt von einem Oligarchen mit Haftbefehl, mit einem medial populistisch auftretenden Zelensky, der schon in seiner Antrittsrede klarstellte, dass es keine territorialen Verschiebungen gäbe. Diplomatische Annäherungen scheiterten von Beginn an, es folgten Provokationen, kompromisslose Forderungen von russischer Seite und am Ende der Angriffskrieg. Im Angesicht des Krieges ist die Ukraine nun auf sich alleine gestellt. Ein ziemlich aussichtsloses Unterfangen, betrachtet man die militärische Überlegenheit Russlands. 

Zelensky war sich dessen natürlich bewusst. Schon in seiner Rede auf der Münchner Sicherheitskonferenz warnte er vor einem dritten Weltkrieg und ließ anmerken, was er von der deutschen Politik hielt:

Three years ago, it was here that Angela Merkel said: “Who will pick up the wreckage of the world order? Only all of us, together.” The audience gave a standing ovation. But, unfortunately, the collective applause did not grow into collective action. […] We will defend our land with or without the support of partners. Whether they give us hundreds of modern weapons or five thousand helmets. We appreciate any help, but everyone should understand that these are not charitable contributions that Ukraine should ask for or remind of.

Nicht einmal eine Woche später fand sich Zelensky im Bunker wieder. Aufgeben scheint für ihn keine Option zu sein und so setzt er alles auf seine verbleibende Trumpfkarte: Die Kampfmoral der Ukrainer. Über die sozialen Medien erhalten die Ukrainer alle paar Stunden die neusten Informationen, es werden Ehrentitel an gefallene Soldaten verliehen und Verhandlungen geführt. Das Angebot der Amerikaner, ihn aus Kiew zu evakuieren, lehnte er mit den Worten „Wir brauchen Munition, keine Mitfahrgelegenheit!“ ab. Ihm dürfte wohl bewusst sein, dass er diese Entscheidung nicht überleben wird. Auch die anderen Teile der politischen Elite sind sich dessen bewusst und bleiben dennoch in ihrem Land. Die Diener des Volkes beweisen der Welt, dass es noch Politiker gibt, die mutig sind und zu ihrem Wort stehen