„Queer as in free Palestine!“ – die LGBTQ-Community hat ein Antisemitismus-Problem

Von Simon Ben Schumann | Am 23. Juli zogen im Rahmen der „Internationalistischen Queer Pride“ tausende Menschen durch die Straßen Berlins. Die Veranstaltung sollte eine Alternative zum Christopher Street Day bieten, der von Teilen der linken Szene als zu kommerziell, zu mainstream oder als nicht radikal genug betrachtet wird. Auf dem Straßenzug, der dem „antikolonialen, antirassistischen und antikapitalistischen Freiheitskampf“ gewidmet war, wurde dann schnell deutlich, dass es nicht allein um die Sichtbarkeit und Rechte der queren Community ging. Die Teilnehmer und Redner forderten Gleichheit, Toleranz und Antirassismus, während aus den eigenen Reihen gleichzeitig offen und aktiv gegen den Staat Israel gehetzt wurde.

Israel – Feindbild Nummer Eins

Die Demonstration wurde von einem Potpourri verschiedener Gruppen veranstaltet , die sich als „IQP“ zusammenschlossen. Darunter fanden sich Namen wie „Migrantifa Berlin“ – einem Ableger der Berliner Antifa – und „Palestine speaks“, die schon bei vergangenen Veranstaltungen, unter anderem der „Revolutionären 1. Mai-Demo“ mit aggressivem Antisemitismus aufgefallen waren. „Palestine speaks“ fiel erst im  Mai mit einer antizionistischen Demonstration auf dem Platz vor der alten Synagoge in Freiburg auf. Diese wurde 1938 von den Nazis niedergebrannt. Gegen den „Apartheidstaat Israel“ an solch einem Ort zu demonstrieren: Geht’s noch amoralischer? 

Mehrere der Gruppen sind außerdem Teil der Kampagne „BDS“, die Israel durch Boykotte, Isolation und Sanktionen schwächen will. Weil die BDS-Bewegung vorsätzlich der Zivilbevölkerung in Israel schadet, wird sie weitläufig als antisemitisch eingestuft. Der Einfluss dieser Gruppen machte sich schon auf dem offiziellen Instagram-Account des Bündnisses bemerkbar. Am 20. Juli postete man dort ein „Awareness Statement“, in dem es heißt: „Es gibt keine Befreiung für uns alle ohne die Befreiung der Palästinenser: innen. Die sogenannten Antideutschen sind bei dieser Veranstaltung nicht willkommen.“ Das Statement impliziert sofort, dass die Palästinenser befreit werden müssten. Die Israelis werden in die Rolle des brutalen, „versklavenden“ Unterdrückers gezwängt, obwohl Araber im Land zumindest de jure Rechtsgleichheit besitzen. Das uralte Stereotyp des ausbeuterischen, eiskalten Juden wird damit (bewusst?) bedient. Außerdem seien die „Antideutschen“ nicht willkommen. Unter diesem Schlagwort versteht man in „der Szene“ alle Menschen, die sich pro-Israel positionieren und nicht den ach so bösen Zionisten die Schuld am Nahostkonflikt zuschieben.

„From the river to the sea…“

Das makabre Schauspiel ging auf der Demo weiter. Das Jüdische Forum war vor Ort und berichtete von Sprechchören, die ein Palästina vom Mittelmeer bis zum Jordan und damit die Vernichtung Israels forderten. Eine Rednerin bezeichnete das Land als „koloniales Siedlungsprojekt“. Transparente und Schilder wetterten gegen Unternehmen, die irgendwie mit Israel zusammenarbeiten. „Zionism is racism“, „Queer as in free Palestine“, „No pride in Apartheid“ waren nur einige der Slogans. Auch eine weitere Intifada wurde von Demonstranten „vorgeschlagen“. 

Man muss sich wirklich wundern, wie eine Queer-Pride-Demo sich so gegen den einzigen jüdischen Staat stellen kann – und dass, während Sex zwischen Männern im Gazastreifen mit bis zu zehn Jahren Haft bestraft wird. 2019 forderte die Palästinensische Autonomiebehörde Bewohner auf, „verdächtige Aktivitäten“ zu melden, was bedeutet, dass Schwule, lesbische, bisexuelle und transsexuelle Palästinenser in ständiger Angst vor Entdeckung und Verfolgung leben müssen. Wie wäre die Demo wohl ausgegangen, wenn man sie in Palästina veranstaltet hätte?

Die Berliner LGBTQI-Community sollte sich also mal fragen, wie ehrlich es ist, die eigene Marginalisierung zu beklagen und allumfassende Toleranz zu fordern, während man gleichzeitig aggressiven und gewaltbereiten Antisemitismus auf die Straße trägt – und das von Leuten, die für die Rechte von schwulen, Lesben und Transsexuellen wenig übrig haben. 


Zugausfälle, kaputte Klima und mehr: Dauerkatastrophe bei der Deutschen Bahn 

Von Simon Ben Schumann | Ende Juni war ich zu Gast beim Apollo-Seminar in der Nähe von Berlin. Bei der Rückfahrt wollte ich etwas sparen und nahm das 9-Euro-Ticket. „Wird schon klappen, steht ja auch in der DB Navigator App“: berühmte letzte Worte.

Wenn die Bahnfahrt zur Odyssee wird

Klar: Es ist schon ein Risiko, nur mit Regionalbahnen von Brandenburg ins Ruhrgebiet zu fahren. Aber da ich mir vorher fein säuberlich einen Fahrplan in der DB-hauseigenen App „Navigator“ erstellt hatte, waren meine Befürchtungen eher gering. Die Fahrt sollte planmäßig ca. 8 1/2 Stunden dauern – für lau, weil das 9-Euro-Ticket im Semesterticket der Uni enthalten ist.

In Erkner, wo das Seminar stattfand, stieg ich erstmal mit zwei Apollo-Kollegen in den Regionalexpress. Der war brütend heiß. Die Klimaanlage war entweder ein naiver Wunschtraum, ausgefallen oder ein Minigerät aus dem 1-Euro-Shop. Immerhin waren wir pünktlich am Berliner Hauptbahnhof. Hier trennten sich unsere Wege – meine Kollegen nahmen den ICE.

Ich musste aber unbedingt den Schnäppchenjäger mimen. Mit einer Verspätung von ungefähr einer halben Stunde bestieg ich also den RE nach Rathenow, von dort aus ging es weiter nach Stendal. Hier durchschritt ich das Tor zur Hölle.

Es war nicht nur heiß auf Bahngleis 7, sondern auch voll. Den Zug nach Wolfsburg wollten eine Menge Leute nehmen, eine richtige Alternative gab es nicht. Zunächst hieß es, der Zug würde sich verspäten. Dann kam die Nachricht über einen der Bildschirme: Zug fällt aus.
Die Stimmung auf dem Wartesteig kippte, auch ich war jetzt schlecht drauf. Die Fahrt nach Hause verlängerte sich mal eben um 4 Stunden. Der Umweg über Magdeburg verlief zwar problemlos, doch der Zugausfall brachte weiteres Umplanen mit sich. Erst um Fünf Uhr morgens fiel ich völlig kaputt ins Bett. Froh war ich, nicht von mitten in der Nacht am Bahnhof in Hamm „abhängenden“ Leutchen attackiert worden zu sein.
Bilanz des Ganzen: 80,00 € gespart, 80 Millionen Nervenzellen durch den Stress verbraten.

Missmanagement – keiner will verantwortlich sein

Egal, welche Reiseform der Deutschen Bahn es auch ist: Irgendwas stimmt nicht. Sogar der prestigeträchtige ICE trägt scheinbar ein Kainsmal.

So fuhr ich den Hinweg nach Berlin mit dem „FlixTrain“, die Zug-Sparte der bekannten Firma „FlixBus“. Der ICE nach Berlin vom selben Bahnhof fiel einfach ganz aus; hätte ich mich für die DB entschieden, wäre das Apollo-Seminar für mich flachgefallen. Dass Züge ausfallen, ist zugegebenermaßen nicht die Regel. Aber auch keine Ausnahme mehr. Gerade bei den im Vergleich hohen Ticketpreisen der Deutschen Bahn (der ICE kann One-Way locker 100,00 € kosten) ist der Unmut von Fahrgästen nachvollziehbar.

Am 22. Juli berichtete das Handelsblatt über mehrtägige Ganzausfälle in NRW. Betroffen sind vier (!) S-Bahn-Linien und auch eine Regionalbahn, die in unserer Region oft genutzt

wird und seit Ewigkeiten nicht mehr verlässlich fährt. Grund ist laut der Bahn ein „hoher Krankenstand“. Der Fahrgästeverband „Pro Bahn“ hält solche Totalausfälle für nicht mehr akzeptabel, nicht einmal einen Stundentakt könne die DB anbieten. Die entschuldigt sich und bietet z. B. Sammeltaxis als Alternative an.

Neben Ausfällen kommt es häufig zu Verspätungen. Mitte Juli 2022 wurden „geheime“ bahninterne Dokumente geleakt, welche sich mit „Langsamfahrstellen“ auseinandersetzen. Sie liegen dem Magazin „Spiegel“ vor. Bei Langsamfahrstellen handelt es sich um Streckenabschnitte, auf denen Züge nur noch mit etwa 20 km/h fahren dürfen. Gründe können Unfälle, Bauarbeiten oder ähnliches sein. Von diesen Stellen gab es Anfang Juni ca. 331 Stück. Davon waren 225 schon seit einem Monat nur mit Schneckentempo befahrbar. An die Öffentlichkeit sollten diese Zahlen nicht kommen. Jemand, der sich des Ganzen annimmt – Fehlanzeige. Stattdessen gibt es Entschuldigungen, Rechtfertigungen und Chaos im Schienenverkehr.

Ökonomische Misere und leere Versprechen?

Die Nettoschulden der Deutschen Bahn beliefen sich 2021 auf satte 29,1 Milliarden Euro. Das ist fast eine Verdopplung seit 2011. Dennoch will die Politik die Bahn weiter für die Klimaentlastung, bürgerfreundlichen Nahverkehr und so weiter einspannen. In der Corona-Krise verzeichnete sie Milliardenverluste, jetzt will sie 24.000 neue Mitarbeiter einstellen, um den Problemen Herr zu werden.

Ob das funktionieren wird? Ich hoffe es zwar. Früher war die Bahn Deutschlands Vorzeigeprojekt, bekannt für ihre Pünktlichkeit und Ingenieurskunst. Wir alle wollen entspannt und zufrieden herumreisen können.

Andererseits: Eine Verspätung gibt es bei der Bahn – kein Witz – erst ab 5 Minuten und 59 Sekunden. Davor gilt ein Zug als pünktlich. Wenn mit derselben Großzügigkeit die Probleme der DB behoben werden sollen, heißt es wahrscheinlich auch in Zukunft: „Dieser Zug hat leider Verspätung. Wir bitten um Entschuldigung.“


Horrorerlebnisse auf Tinder & Co: Die Schattenseiten des Online-Datings

Von Simon Ben Schumann | „Auf seinem Profilbild sah er richtig gut aus, wirkte beim Chatten sympathisch. Als mir abends im Dämmerlicht eine verschlagene, nicht wiederzuerkennende Gestalt entgegenkam, rutschte mir das Herz in die Hose“ –  klingt wie der Beginn eines Krimis oder schlechten Horror-Streifens? Finde ich auch, aber weit gefehlt. Es ist eine Szene aus dem Alltag der Gen Z – meiner Generation. Einer, die selbst ihr Liebesleben ins Online-Universum verlegt hat.

Was das für Konsequenzen haben kann, wird in Geschichten, wie der meines Bekannten deutlich: „Statt dem netten Typen, den ich auf Grindr kennengelernt hatte, kam mir ein alter Mann entgegen. Bei weitem nicht so attraktiv, wie auf seinem angeblichen Foto. Warum er sich mit mir vor einer Sparkasse treffen wollte, war für mich zunächst unerklärlich. Er fragte mich sofort, ob ich mit ihm schlafen wolle. Nachdem ich das ablehnte, wurde mir der Grund für unseren sonderbaren Treffpunkt klar. Er zückte 50,00 € in Bar, die er vorher abgehoben hatte. Hielt der Mann mich für einen Hobbyprostituierten? Sein Geld konnte der Betrüger sowas von behalten. Schlecht gelaunt zog ich wieder ab. Den Rest des Abends verbrachte ich dann zuhause, mit ein paar Kugeln Eiscreme.“

Ich dachte wirklich ich höre nicht richtig – ist das diese Welt aus Tinder, Grindr und Co? Nach dieser Story war ich mehr als heilfroh, dass ich mich bisher erfolgreich daraus gehalten hatte – und dass meinem Bekannten da nicht mehr passiert ist. Fake-Profil plus ein kleines „Taschengeld“ für die Nacht – so stellt sich niemand einen gelungenen Abend vor. Und falls sie sich jetzt fragen, ob das ein Einzelfall war: Ich hab mich umgehört und noch mehr solcher Geschichten auf Lager – „Hey, mein Freund ist jetzt spontan auch hier, aber das ist doch kein Problem für dich oder?“. Auch hier wurde schonmal ein kleines „Taschengeld“ angeboten. Klingt für mich nicht nach Spaß und erst recht nicht nach Liebe – ist beim Online Dating aber traurige Realität. Solche Geschichten untermauern, dass das Kennenlernen in der realen Welt doch seine Vorzüge hat.

 

Wenn Menschen nur noch ein „Swipe“ sind 

Dating Apps sind bei vielen meiner Artgenossen nicht mehr aus dem Alltag wegzudenken. In Deutschland teilen sich „Lovoo“ und „Badoo“ (stammen die Namensgeber aus der Krabbelgruppe?) die Marktführung mit Tinder. „Tindern“ ist sogar zu einem neuen Verb geworden.

Auf Tinder werden einem erstmal nur Fotos potenzieller Dating-Kandidaten vorgeschlagen. Gefällt einem das Bild, swipet man nach rechts – wenn nicht, nach links. Haben zwei Menschen sich gegenseitig nach rechts gewischt, kommt man per Chat ins Gespräch. Ähnlich funktionieren auch viele andere Dating-Apps.

Dass das einfache „wegswipen“ eines Menschen bei Nichtgefallen durchaus unmenschlich genannt werden kann, möchte ich hier mal außen vorlassen – ich finds zwar ziemlich hart, aber man macht ja freiwillig bei dieser Prozedur mit.

Ich finde es viel schlimmer, dass die  romantische Ader dabei völlig verloren geht. Es mag auch Ausnahmen und fantastische Liebesgeschichten auf Tinder geben, aber grundsätzlich ist es doch viel aufregender, sich im echten Leben kennenzulernen und zu merken, dass die Chemie stimmt – oder eben auch nicht. Ob im Sportverein, an der Uni oder meinetwegen im Coffeeshop: Überall menschelt es mehr als im Tinder Chat. 

Wenn Männer sich darüber austauschen, mit welchen „Ice-Breakern“ sie bei möglichst vielen „Weibern“ landen und sie ins Bett kriegen konnten, nur um danach die „nächste Chaya zu klären“ kann einem echt übel werden. Das klingt jetzt vielleicht altbacken, aber sollten wir Männer uns nicht besser im Griff haben und Verantwortung übernehmen? Oder wenigstens stilvoller auf die „Jagd“ gehen?

 

Leben ohne Liebe – (k)eine gute Idee?

Wenn es nur das Dating und Kennenlernen wäre, was über den Touchscreen ziemlich kaltschnäuzig daherkommt, könnte man ja noch sagen: Was ein Luxusproblem. Das ganze Tindern hat sich aber zu einer regelrechten „Hook-Up-Culture“ entwickelt. Darunter versteht man, dass das Verhältnis zwischen Mann und Frau oder auch Mann und Mann auf den „Spaß im Bett“ beschränkt ist. Die emanzipierte Frau von heute verabredet sich zu – Achtung, Vulgärsprache – sogenannten „Dick Appointments“ über ihr Smartphone. Zumindest in den Augen mancher third-wave Feministen ein Ausdruck sexueller Befreiung, aber ich sehe hier „Haramstufe Rot“. 

Früher wäre man dafür am Pfahl verbrannt worden! – Nicht, dass ich da dafür wäre. Aber Spaß beiseite: Sowohl aus rein rationaler als auch aus seelischer Perspektive führt das Ablehnen von emotionalen Bindungen in eine kranke Gesellschaft. Wer sich über Dating-Portale mit zig Partnern vergnügte, wird es wahrscheinlich schwerer haben, eine aufrichtige Liebesbeziehung zu führen oder eine Familie zu gründen. Allein, dass das Gegenüber zur austauschbaren „Ware“ wird, ist folgenschwer für das eigene Menschenbild.

Daher plädiere ich für den absoluten Wahnsinn: Den Glauben an Liebe, Bindung und auch an eine Portion Selbstaufopferung nicht aufzugeben. Klar ist es verlockend, einfach Spaß zu haben und auf alles andere nicht viel zu geben. Aber gerade als junge Menschen sind wir gefordert, moralische Werte zu finden, die die Zukunftsfähigkeit unserer Gesellschaft absichern.


Generation G8: Schüler als Laborratten?


Von Simon Ben Schumann | G8 spaltet die Gemüter – sollte die Schullaufbahn aus Grundschule und Gymnasium 12 Jahre dauern, oder doch lieber altbewährte 13? Weder unter Schülern noch unter Eltern gibt es einen eindeutigen Konsens, die Mehrheit tendiert zu G9. Mittlerweile wurde G8 in mehreren Bundesländern wieder abgeschafft.

Ich hatte 12 Jahre Schule, davon 8 am Gymnasium – und habe eher negative Erfahrungen gemacht. Klar, es ist cool, ein Jahr früher das Abi zu bekommen. Doch dafür habe ich, nach eigenem Empfinden, weniger Bildung ins spätere Leben mitgenommen.


Warum eigentlich 12 Jahre?

Ab dem Jahr 2003 wurde in Deutschland bundeweit die Abiturzeit an Gymnasien auf 8 Jahre verkürzt. Was vorher nur im Nationalsozialismus und der DDR gegolten hatte, war vor allem in Westdeutschland eine große Neuerung; dort waren seit Kriegsende 13 Jahre Gesamtschulzeit die Regel.
Die Gründe werden kontrovers diskutiert und kritisiert. Denn hinter der Schulzeitverkürzung steckte nicht etwas das Wohl der Schülerschaft, sondern wirtschaftliche Motive. Stiftungen und Gremien wiesen darauf hin, dass die Schulzeit deutscher Gymnasiasten länger als im Ausland sei. Der demographische Wandel bot einen weiteren Grund, Abiturienten schneller auf den Arbeitsmarkt bringen zu wollen.

Eine längere „Lebensarbeitszeit“ sollte die Nachwuchsprobleme der deutschen Bevölkerung abfedern. Wer früher die Schule beendete, würde im Schnitt länger arbeiten und Leistung für die Wirtschaft bringen. Der Nebeneffekt: Mehr Steuern und Sozialabgaben für Staat und Rentenkasse. Diese Argumentation wirkt auf mich ein bisschen wie aus einer Dystopie entnommen; in einem Film sollte an dieser Stelle wohl jemand aufhorchen und sagen „Das ist absolut keine gute Idee.“
Auch damals schon gab es Kritiker, die das Offensichtliche ansprachen: Muss ein Jahr Schulzeit nicht irgendwie kompensiert werden, ohne dass die Schüler deswegen Probleme bekommen? Die Antwort darauf war, die Wochenstunden zu steigern. Besonders der Nachmittagsunterricht würde dafür sorgen, dass kein „Stoff“ unterginge. Mehr Ganztagsschulen mit Mensa und Freizeitangeboten würden ihr Übriges tun, damit die ohne Not eingeführte Reform glatt ginge. Schließlich hätte das Ganze in der ehemaligen DDR auch funktioniert.


Der Abiturient: taugliche Arbeitskraft?

Trotz warnender Stimmen ging die bundesweite Reform an den Start. Sie wurde auch zur Zeit der Einführung als Experiment begriffen; was passieren würde, war unklar. Bald fingen die Probleme an. Schüler und Lehrer klagten darüber, dass Jugendliche einfach keine Lernmaschinen seien, die man nur bis zum Nachmittag in den Unterricht schicken müsste, um den Bildungsstand zu heben. Ich erinnere mich selbst noch gut, wie an meiner Schule in der 6. Und 7. Klasse „ausgesiebt“ wurde – so bezeichneten das sogar die Lehrer. Statt individueller Förderung und wirklicher, intrinsisch motivierter Bildung hieß es: Wer nicht paukt, fliegt raus. Manche meiner Mitschüler überstanden das nicht und ernteten dafür nur wenig Verständnis. Mehrmals in der Woche gab es damals schon Nachmittagsstunden, die Schule dauerte öfter bis 15:10 Uhr. Das hieß auch weniger Freizeit; gegessen wurde in der Mensa, später durften wir auch in die Innenstadt zum Dönermann.


Schlimm wurde es für viele G8-Versuchskaninchen, als sie in die Oberstufe kamen. Die Wochenstunden erhöhten sich. Bei uns war es so, dass die Schule jetzt immer lange dauerte, mit 34 bis 36 Wochenstunden. Meistens hatten wir bis 16:00 oder 16:50 Uhr Schulzeit – im Winter war es dunkel, wenn man in die Schule kam, und dunkel, wenn man sie wieder verließ. Ebenso düster waren die Aussichten, auf diesem Weg eine tiefsitzende, humanistische Bildung zu erhalten. Manche Lehrer gaben sich viel Mühe – Sternstunden waren unser Geschichts-Leistungskurs – aber meistens plätscherte der Unterricht vor sich hin. Das Curriculum wurde in vielen Fächern durchgepeitscht.


Die Wendung „Wir müssen mit dem Stoff weiterkommen!“, die viele G8ler kennen, drückt ein Grundproblem des Feldversuchs aus. Statt sich der wirklichen Förderung der einzelnen Menschen zu widmen, war das System schon intentionell darauf ausgerichtet, Arbeitskräfte mit Abiturzeugnis zu „produzieren“. Meine Freunde und ich bestätigten uns gegenseitig, dass der für Klausuren gepaukte Stoff das Gehirn danach fluchtartig verließ. Eine Bindung an den Inhalt gab es nicht; eher schon an die Note unter dem Erwartungsbogen.

Rückblickend ist es aus meiner Sicht schade, dass die G8-Reform in Deutschland eingeführt wurde. Viele Schüler waren oft gestresst, erfuhren qualitativ unzureichende Bildung und wurden manchmal sogar ihrem Abitur beraubt, weil Interessenvertreter aus Wirtschaft und Politik nur an sich selbst dachten.
Für die Zukunft können wir aus dieser Erfahrung aber etwas mitnehmen. Als junge Leute und irgendwann als Eltern müssen wir darauf Acht geben, was unsere Vertreter in Berlin und den Landeshauptstädten mit den Schulen und unseren Kindern vorhaben. Denn die Verantwortung und die Konsequenzen solcher Entscheidungen werden im Endeffekt nicht von Politikern oder Wirtschaftsvertretern getragen, sondern von uns Bürgern.


„Am Ende der Tage…“: Die theologischen Wurzeln des Zionismus

 

Von Simon Ben Schumann | Beim Wort „Israel“ denkt man an Vieles – gutes wie schlechtes – aber eher selten an die Jüdische Religion. Ihr Glaubensinhalt ist allerdings enger mit der Existenz des modernen Staates Israel verknüpft, als oft vermutet. Sie ist sogar ein bedeutender Meilenstein in der Geschichts- und Heilstheologie des Judentums.

Eine Gemeinschaft aus Worten

Seit dem Jahr 70 n. Chr. gab es keinen jüdischen Staat mehr. Die Zerstörung des zweiten Jerusalemer Tempels durch das römische Militär infolge des Jüdischen Krieges 66 n. Chr. leitete die jüdische Diaspora ein, welche beinahe 2.000 Jahre anhalten sollte.

Ohne einen Nationalstaat, ein Territorium, ohne ein Staatswesen blieb den Juden weltweit nicht viel gemeinsames übrig. Deswegen besann man sich auf das, was alle kannten und miteinander verband: Die Schriften. Vor allem die Thora wird im Judentum hochgeschätzt; Heinrich Heine nannte sie einmal das „portative Vaterland“ der Juden. Ebenso der babylonische Talmud, welcher eine Schriftsammlung von Rabbinern aus dem „babylonischen Exil“ bis 539 v. Chr. darstellt.

Das Leben im Exil war facettenreich. Im goldenen Zeitalter des Islam um 1000 n. Chr. gab es großen Wohlstand und ein friedliches Zusammenleben mit den Muslimen. Zur selben Zeit konvertierte in Europa ein ganzes Nomadenvolk, die sogenannten Chasaren aus Westrussland, zum Judentum. Sie sind ein Teil der Vorfahren der heutigen Aschkenasim – den Juden aus Europa. Das Jiddische als Sprache entstand im Mittelalter als Mischform aus Deutsch und Althebräisch; in den sogenannten „SchUM“-Städten – Speyer, Worms und Mainz – lag das pulsierende Zentrum des jüdischen Deutschlands. Andererseits kam es weltweit zu brutaler Gewalt; so gab es immer wieder Pogrome mit Zehntausenden Todesopfern und tyrannische Vertreibungen wie in Spanien 1492.

Die prophezeite Rückkehr

In der Neuzeit, aber auch in anderen guten Tagen, empfanden viele Juden die Diaspora nicht immer als bedrückend. Im Gottesdienst betete man dennoch täglich für die Wiederkehr der Juden ins „versprochene Land“. Im Achtzehnbittengebet des Judentums nehmen die Sammlung der Zerstreuten und der Wiederaufbau des Jerusalemer Tempels, den einst der legendäre Salomo errichten ließ, eine zentrale Stellung ein.

Gerade von Rabbinern wurde die Diaspora als unnatürlicher, nicht dauerhafter Zustand betrachtet. Der berühmte Rabbi Jehuda Löw aus Prag meinte im 16. Jahrhundert, dass die Juden zurückkehren würden – wenn die Zeit reif sei. Die Meinungen über das „Wann“ und „Wie“ divergierten dabei. Heute sind die allermeisten orthodoxen Vertreter des Judentums pro-zionistisch eingestellt, während wenige ultra- orthodoxe die Existenz Israels als Affront an Gott ablehnen – dieser müsse die Rückkehr selbst herbeiführen. Auch jüdische Reform-Gemeinden in der Tradition der „Haskala“ – das jüdische Pendant zur Aufklärungsbewegung in Europa – stehen dem Zionismus nicht ausschließlich positiv gegenüber. Ein Vertreter dieser Strömung ist der US-Historiker und Publizist Norman Finkelstein, welcher den Siedlungsbau im Westjordanland heftig kritisiert.

Die Religionslehrer berufen sich unter anderem auf Propheten, welche im Judentum wie im Christentum Teil des Kanons sind – sie folgen gleich auf die Fünf Bücher Mose.
So heißt es zum Beispiel in Jesaja 11,11: „Und der HERR wird zu dieser Zeit zum andern Mal seine Hand ausstrecken, dass er das übrige Volk freikaufe […] von den Inseln des Meeres.“ Der Prophet Jesaja und andere versprachen nicht nur eine göttlich verfügte Sammlung der Juden in Israel, sondern das Erreichen des „Endes der Zeitgeschichte“: Israel als Zentrum der Welt solle Ursprungsort von geistigem wie auch materiellem Wohlstand sein. „Es wird keiner Kinder mehr geben, die nur einige Tage leben; und wenn einer mit Hundert Jahren stirbt, wird man sagen, er sei als junger Mann gestorben.“

Aufbruch nach „Altneuland“

Seit 70 n. Chr. gab es immer wieder diverse Versuche von Juden, nach Israel zurückzukehren. Keine davon waren von Erfolg gekrönt. Nur kleine Gemeinden hielten sich im Land am Jordan, die dort eine geringe Minderheit der Bevölkerung darstellten.
Erst Mitte und Ende des 19. Jahrhunderts kam Bewegung in den Rückkehrwunsch in das von den Römern als „Palästina“ getaufte Gebiet. Der deutsche Philosoph und Frühsozialist Moses Heß erdachte die Errichtung eines modernen jüdischen Staates, dessen Religion ebenfalls reformiert werden müsse. Sogar freie Liebe als Selbstverständlichkeit in der im Überfluss lebenden, vollkommenen Zukunftsgesellschaft, war für den Frühzionisten kein Problem. 

In seinem Roman „Altneuland“ beschrieb der Initiator des Zionismus, Theodor Herzl, um 1900, wie in einigen Jahrzehnten ein jüdisches Staatswesen entstehen würde. Als Initiator der Zionistenkongresse und Führungsfigur der jüdischen Nationalbewegung sollte er Recht behalten. Die von ihm begründete Organisation des praktischen Zionismus war mal mehr, mal weniger religiös. Während der Schoah schrieb der spätere Präsident Israels, Chaim Weizmann, an den Widerstandskämpfer gegen den Völkermord, Chaim Weissmandl in Slowenien: „Only a remnant will remain. We must accept it.“ – eine Anspielung auf die Propheten Jesaja, Hesekiel und Sacharia, die die Rückkehr nach Israel nur unter der Bedingung einer großen Tragödie für möglich hielten.
Die bekannteste Figur des religiösen Zionismus ist wohl Rabbi Abraham HaKohen Kook aus Russland. Er war Chefrabbiner im bis 1948 britischen Mandatsgebiet Palästina. Für ihn war die bevorstehende Gründung Israels nichts anderes als die Erfüllung eines göttlichen Planes. Dass in diesem Menschen mehr oder weniger freiwillig mitwirken mussten – eine Selbstverständlichkeit. In seinem Buch „Lichter der Thora“ heißt es: „Und das Licht des Mondes wird sein wie das Licht der Sonne […] an dem Tage, da JHWH den Bruch seines Volkes verbinden wird […]“ Er befürwortete nicht nur alle verschiedenen Strömungen des Zionismus als Teil göttlichen Wirkens, sondern auch den illegalen Siedlungsbau im Westjordanland, den er aktiv förderte. Für ihn bewegten wir uns im 20. Jahrhundert auf „das Ende unserer Tage“ zu.

Bis der Messias kommt

Im jüdisch-theologischen Erlösungsdenken ist die Existenz des israelischen Staates ein Novum, welchem endzeitliche Bedeutung zukommt. Denn anders als im Christentum steht die Ankunft eines menschlichen Erlösers von allem weltlichen Leid zumindest im orthodoxen Judentum noch aus. Die Überwindung von Leid durch freiwilliges Leiden, wie sie viele Christen vertreten, weicht hier einer eher „empfangenden“ Haltung: Die Erlösung kommt von außen. Der „Sohn Davids“ (hebräisch „ben David“), ein Teil des Stammes Juda und direkter Nachfahre von Salomo, würde der Welt den Frieden bringen, die Toten auferstehen lassen und den dritten Tempel in Jerusalem errichten.
Diese Messiaserwartung kommt nicht von ungefähr: Seit Jahrtausenden lassen sich Juden auf dem Jerusalemer Ölberg bestatten. Von dort soll der Messias kommen und die Gerechten zurück ins Leben holen. Am Ende, wie es auf Hebräisch heißt, stehe die „olam haba“ – die vollkommene Welt.


„Götzen“: Eichmanns vergessene Autobiographie

Von Simon Ben Schumann | Am 1. Juni jährte sich der Todestag von Adolf Eichmann, genannt „Architekt des Holocaust“ zum 60. Mal. In der Nacht vom 31. Mai auf den 1. Juni 1962 wurde Eichmann in einem Gefängnis in Ramla, Israel durch Erhängen hingerichtet. Ein durchaus umstrittenes Urteil, ist es doch das einzige Todesurteil welches jemals im modernen Israel vollstreckt wurde. Gerade aufgrund des geistigen Charakters, die der jüdische Staat in Kultur und Religion innehat, gingen vor Eichmanns Tod zahlreiche Gnadengesuche auch von Juden beim damaligen Staatspräsidenten Jitzchak Ben Zwi ein. 

Einer traurigen Ironie entbehrt das nicht. Denn der weltweit beachtete „Eichmann- Prozess“ in Jerusalem brachte einiges über das Wirken von „Hitlers Henker“ ans Licht. Unter anderem, dass er selbst nie Gnade walten ließ. So berichtet der Ankläger Gabriel Bach, dass Eichmann jegliche Gesuche zum Verschonen Einzelner ablehnte. Beispielsweise: Ein Wehrmachtsgeneral und gleichzeitig der Kommandant von Paris wollte einen jüdischen Professor aus Frankreich, der sich besonders gut mit Radar auskannte, vor der Deportation bewahren. Aus rein militärischen Gründen. Dennoch, Eichmann lehnte ab. „Aus prinzipiellen Erwägungen“, wie er sagte.
Später meldete sich die überlebende Tochter Alisa bei Gabriel Bach. Professor Weiss und seine Frau waren nicht mehr. Sie wollte ein Foto, hatte noch nicht einmal eine Erinnerung an die Gesichter ihrer beiden ermordeten Eltern. „Aus prinzipiellen Erwägungen.“ 

Über ein unbekanntes Stück Zeitgeschichte

Der Eichmann-Prozess wurde filmisch festgehalten und ist der Nachwelt so zugänglich. Doch ein – wie ich finde – beinahe spannenderes Zeitdokument ist der Öffentlichkeit so gut wie unbekannt. Zwischen dem Ende des Prozesses und der Urteilsvollstreckung verfasste Eichmann nämlich seine Autobiographie. Sie war bis zum Jahr 2000 unter Verschluss und wurde dann vom Israelischen Staatsarchiv ins Web gestellt. Außerdem existiert eine kommentierte Ausgabe von Historiker Raphael Ben Nescher (Metropol Verlag, 2016). Der unkommentierte Text ist auf schoah.org, einer Webseite des deutsch- jüdischen Nachrichtenportals „haGalil“, bequem abrufbar. 

Durch die Autobiographie lässt sich die Innensicht des Nazi-Täters auf unangenehm nahbare Weise begleiten, von Kindheit und Jugend über die Anfänge bei der SS bis hin zum Völkermord.
Eichmann verlieh seinen Memoiren keinen festen Titel; stattdessen gab er späteren Herausgebern zwei Möglichkeiten. Die erste: „Götzen“. Unter diesem Namen ist das Werk dann auch erschienen. Ein ungewöhnlicher Titel; Eichmann wollte damit auf seine Vorgesetzten anspielen, welche er in der Biographie immer wieder als von ihm verehrte „Götter“ bezeichnet. Erst später sei ihm klar geworden, dass er in Wahrheit „Götzen“ gedient habe. Wie echt diese Reue war, ist zweifelhaft. Der andere Titel wäre „Gnothi seauton“ gewesen – griechisch für „Erkenne dich selbst.“ 

Jugend eines Massenmörders 

Bereits im Anfang der Biographie gibt Eichmann den Geläuterten. Er habe mittlerweile einen zeitlichen Abstand von 16 bis 29 Jahren zu den Geschehnissen; sie seien für ihn nun „das kapitalste Verbrechen in der Menschheitsgeschichte“. Unglaubwürdig, denn: Noch wenige Jahre zuvor sagte er im argentinischen Exil, er bereue nur, nicht alle 10,3 Millionen europäischen Juden ermordet zu haben. „Dann wäre ich befriedigt und würde sagen: Gut, wir haben einen Feind vernichtet.“, erklärte er Ende der 1950er seinem SS- Kameraden Willem Sassen in einem Interview. 

Dieser Widerspruch stört Eichmann nicht. „Den größten und gewaltigsten Totentanz aller Zeiten. Den sah ich. Und ihn zu beschreiben, zur Warnung schick ich mich an.“ – so schließt der Organisator der sogenannten „Endlösung der Judenfrage“ sein Vorwort. 

Danach setzt er zu einer Beschreibung seiner Jugend an. Als Kind von Wolf und Maria Eichmann am 19.3.1906 in Solingen (Rheinland) geboren, schildert er sein Aufwachsen in Österreich. Dorthin zog seine Familie kurz nach seiner Geburt. Eichmann malt den Ort seiner Kindheit und Jugend in den buntesten Farben, „Diesen herrlichen Fleck der Erde durfte ich meine zweite Heimat nennen.“, sagt Eichmann. Ein krasser Gegensatz zu den Zügen voller Menschen, die er später in die Gleichgültigkeit der Gaskammern von Auschwitz, Treblinka und anderen Vernichtungsstätten schickte. 

Die politische Sozialisation als junger Mann sei nationalistisch gewesen. „Ich war durch die Schule und Gesellschaft […] zur nationalistischen Richtung hin gelenkt worden. […] Und man erzähle einem jungen Menschen in dieser Richtung tendierend, von nationaler Schmach, von Verrat, vom Dolchstoß, welcher der deutschen Armee zuteil ward, von nationaler Not und Elend; Herrgott, da packt es einen halt, da gerät das Blut in Wallung.“ Von Jude und Judentum sei damals aber keine Rede gewesen; ernst genommen habe er den Antisemitismus der NSDAP nicht. Das passt ins Bild des zwar nationalistischen, aber eher neutralen Beamten, das Eichmann während des Prozesses vermitteln wollte. Nur ein Befehlsempfänger und Fahrplan-Ersteller – mehr sei er ja nicht gewesen. 

Im Herbst 1934 fing Eichmann beim Sicherheitsdienst-Hauptamt in Berlin an. Es sei eine Zeit voller Strapazen gewesen, mit deutlich zu wenig Schlaf und ständigem „Exerzieren“. Er habe sogar überlegt, zu gehen: „[…] ja großer Herrgott, wenn ich irgendwo gegen mein Wollen mit einer Arbeit, welche mir gegen den Strich geht, als freier Mensch, eingespannt werden soll, da macht man einfach Schluß damit, oder man ist ein Waschlappen, dem eben nichts besseres gebührt. […] Genau dieselben Gedanken hatte ich auch um jene Zeit und mit mir eine Anzahl meiner Stubengefährten. Aber da waren die Götter, denen ich ja dienen wollte.“ Leider entschied er sich dagegen, „auf den Tisch zu hauen und aus dem Tempel rauszuwetzen“, wie er formuliert. Adolf Eichmann blieb – und wurde einer der Hauptverantwortlichen für einen Völkermord. 

Eichmann und der Antisemitismus 

Vom offensichtlichen Vorwurf, dass Adolf Eichmann als Ausführer des Holocaust ein brutaler Antisemit war, versucht er sich tatsächlich freizumachen. Das wirkt aus heutiger Sicht mehr als abenteuerlich; doch Eichmann meinte es ernst. 

„Ja, und wie war es mit der Judenfrage jener Zeit und wie stand ich zu ihr. […] Meine erste Mutter starb sehr früh, mein Vater heiratete zum zweiten Mal. […] Mit der zweiten Mutter, die selbst keiner jüdischen Familie entstammte, kam aber jüdische Verwandtschaft in unsere Familie. Tanten, Onkel, später Cousinen. […] Es war ein fröhliches, herzliches Verbundensein […]. Egal, ob Jude, jüdisch versippt oder Nichtjude.“ Der gute Familienmensch Eichmann, herzlich, tolerant und weltoffen – so stellt er sich ernsthaft dar. Dass er seine eigene Familie getrost ermordet hätte, lässt er aus – angenommen, dass diese Angaben überhaupt stimmen. Die SS war, was Stammbäume angeht, sehr wählerisch – jüdische Tanten und Onkel wären womöglich ein Ausschlusskriterium gewesen. Eichmann fährt fort, indem er jüdische Freunde aus Kindheit und Jugend erwähnt, mit denen er auch später noch verbunden geblieben sei. „Und warum sollte ich meine bildhübsche zwanzigjährige halbjüdische Cousine nicht küßen […]; so was kann doch unmöglich Reichsverrat sein.“ Am Millionenfachen Mord ändert der angeblich freundliche Privatmann Eichmann überhaupt nichts. Dennoch schreibt er, als würden seine Familien- und Freundschaftsbande irgendetwas wetmachen. Schockierend. „So also konnte ich sagen, ich bin nie ein Antisemit gewesen, denn es stimmt.“ 

Wirken bei der SS 

Adolf Eichmann begann im „SD-Hauptamt Abteilung II 111: Freimaurer“. Diese beschäftigte sich mit der Verfolgung des Freimaurerbundes, welchen die Nationalsozialisten für seine liberale Anschauung verachteten. Ähnlich wie später für Juden, wurde hier eine „Freimaurerkartei“ aufgebaut, mit der die Mitglieder identifiziert werden sollten. O-Ton Eichmann: „Meine dienstliche Tätigkeit war auch – wie ich zu sagen pflegte – zum Knochenkotzen. Tausende von Freimaurersiegeln und Münzen mußte ich katalogisieren und einordnen […]“ In einem Freimaurermuseum in der Wilhelmstraße 102 in Berlin stellten Eichmann und Komplizen gestohlene Freimaurer-Memorabilia aus und hetzten vor Besuchern gegen den Bund. 

Später kam er dann in die „Abteilung II 112: Juden, Referat Zionisten“. Dort bearbeitete er ab 1936 das Thema Judentum. Von hier an ging es Stück für Stück auf die Schoah zu. Sogar Hebräisch brachte sich Eichmann bei, um jiddischsprachige Zeitungen analysieren zu können. „Also ging ich eines Tages daran und kaufte mir in einer Buchhandlung ein Lehrbuch zum Studium der hebräischen Sprache.“ 

Jahre zogen ins Land. Eichmann beschäftigte sich damit, Juden aus Wien zur Auswanderung zu zwingen. Mittels Repressalien und Drohungen wurden sie enteignet, konnten aber zumindest noch fliehen. Die Reichskristallnacht am 9. November 1938 war ein Vorbote dessen, was noch kommen sollte. Nach dem Einmarsch in Polen 1939 würde sich alles endgültig verschlimmern. 

Am 30.10.1939 ergeht der erste Deportationsbefehl für alle Juden in Polen. Sie werden in Ghettos zusammengepfercht, in Arbeitslager gebracht und zu einem großen Teil in Vernichtungslager. Am 10.10.1941 verbietet Heinrich Himmler allen Juden die Auswanderung – Flucht ist jetzt unmöglich. 

Wenn Sie Eichmanns Darstellung folgender Ereignisse, einschließlich des Besichtigens von „improvisierten“ Gaskammern im Vernichtungslager Chełmno und vielen weiteren Einzelgeschehnissen des Holocaust interessiert, Sei Ihnen  die Lektüre von „Götzen“ sehr ans Herz gelegt – ein Buch, welches Ihren Blick auf die beschriebene Vergangenheit und ihre Akteure schärft und bereichert. Es ist ein Stückweit, wie Hannah Arendt sagte, die Banalität des Bösen – Eichmann war eben ein Mensch. Und das ist vielleicht das Erschreckendste an ihm und seinen Taten. 

 


Lufthansa & Co: Turbulentes aus der Luftfahrt 

Von Simon Ben Schumann | Früher war die Luftfahrtbranche von einer gewissen Romantik beflügelt. Über den Himmel gleiten wie die Vögel – lange ein Traum der Menschheit, heute Normalität. Doch vom einstigen Charme ist leider nicht viel übriggeblieben. Stattdessen jagt ein Skandal den nächsten. Das bekannteste Beispiel ist der Flughafen Berlin-Brandenburg, der längst ins Repertoire der Running Gags aufgenommen wurde. Dauert etwas mal zu lange, heißt es schnell: „Sind wir hier am BER, oder was?“. Kostet etwas zu viel: „Das ist ja wie am BER.“ 

Wie man einen Flughafen verhaut 

Die Eröffnung des BER wurde, optimistisch gerechnet, um insgesamt 14 Jahre verschoben. Der Hauptgrund: Es kamen während der Bauplanung immer wieder Änderungswünsche dazu, die eine termingerechte Umsetzung sabotierten. So wurden z. B. neue Stockwerke geplant, die gar nicht vorgesehen waren. Politiker und Fluggesellschaften wollten den perfekten Airport. Das brachte neue Probleme mit sich, an die keiner gedacht hat. Am bekanntesten hierbei: Außer Rand und Band geratene Brandschutzmaßnahmen. Die gescheiterte Entrauchungsanlage wurde von den Planern – kein Witz – „Das Monster“ getauft, weil sie zu wenig Leistung brachte und komplett überarbeitet werden musste. 2013 gab es fast 15.000 einzelne Brandschutzmängel. „Das Monster“ kostete mehrere Milliarden Euro, die Fertigstellung verzögerte sich dadurch um 7 Jahre. Außerdem geriet das System der Raumnummerierung völlig durcheinander. Auch die Kartierung des Flughafens war nicht mehr zuverlässig. Und es wurde noch absurder: Der Brandschutz funktionierte schon mal nicht. Jetzt noch das Abfackelrisiko zu erhöhen, schafft man nur am BER. Denn: Aufgrund der neuen „Ideen“ von Wowereit und Co. wurden mehr Kabel gebraucht. Diese verliefen nebeneinander in vollgestopften Kabelschächten, welche durch Überhitzung einen Brand hätten auslösen können. Deswegen musste auch die Kabelverlegung umgeplant werden; sie stand sowieso teils unter Wasser. Und selbst, nachdem all das gelöst war, wollte die Realsatire nicht abreißen. Immerhin standen schon mal die Mülleimer, so dass man seine Hoffnungen auf einen reibungslosen Flug schnell entsorgen konnte. Doch die waren alle zu klein. Kurz vor der Eröffnung am 31.10.2020 mussten mindestens 300 Stück ausgetauscht werden. 

Lufthansa: Eine Airline mit Antisemitismus-Problem? 

Zugegeben: Über die Lufthansa habe ich mich etwas aufgeregt. Unter dem Eindruck der fallenden Corona-Maßnahmen bin ich davon ausgegangen, dass meine Call-Optionen an Wert gewinnen würden. Das Einzige, was die Lufthansa machen müsste, ist: Fliegen. Aber weit gefehlt. 

Erst vor wenigen Wochen lieferte die Fluggesellschaft mit dem Kranichlogo einen scheinbaren Antisemitismusskandal ab. Mehrere Juden waren auf dem Weg von Berlin nach Budapest.  An der Kleidung waren sie als religiös zu erkennen. So weit, so normal. Doch, oh Schreck: Drei der Passagiere weigerten sich, auf dem vorherigen Flug von New York nach Berlin Masken zu tragen. Außerdem „störten“ sie angeblich durch ein Morgengebet. Daher verweigerte das Personal direkt ca. 100 jüdischen Passagieren den Weiterflug nach Budapest. Zitat eines Lufthansamitarbeiters: „Everybody has to pay for a couple. It was Jewish people who were the mess, who made the problems“ – Alle müssen für ein paar bezahlen. Es waren Juden, die das Chaos waren und die Probleme verursacht haben.  Wären sie Afrikaner oder Polen gewesen, hätte sich die Lufthansa nach Eigenaussage genauso verhalten – als ob das die Situation gerettet hätte. 

Daraufhin stürzte nicht nur die Lufthansa Aktie ab. Auch das Vertrauen in die Airline hat zurecht gelitten. Zwar gehen die unternehmerischen Erwartungen durch mehr Reisen und ausgebuchte Flüge hoch, menschlich betrachtet aber zeugt dies von unterster Schublade. Schon in den Vorjahren hatte sich die Airline nicht mit Ruhm bekleckert: An den Pilotenschulen soll es entwürdigende Aufnahmerituale geben, bei denen Auszubildende erniedrigt und teilweise sogar gewaltsam misshandelt werden. 

Vielleicht ist der Weg von AirBerlin da noch der beste: Auch diese Fluggesellschaft hat den Steuerzahler ordentlich Geld gekostet. Zumindest aber wurden dabei weder Juden diskriminiert noch ein Großbrand riskiert. Die bekannte Fluglinie ging 2018 endgültig insolvent, in den Folgejahren wurde sie von anderen übernommen. 

Insgesamt scheint die deutsche Luftfahrtindustrie konstant von Turbulenzen durchgerüttelt zu werden. Ob ihr eine Landung noch gelingen wird? „Tower warning: bad weather.“ 


Viren aus dem Affendschungel: Sind wir jetzt endgültig geliefert? 

Von Simon Ben Schumann | Nach den massiven, weitgehend akzeptierten Grundrechtseinschränkungen der letzten Jahre würde so mancher Deutschland getrost zur “Bananenrepublik” erklären. Die vom Namen her passende Pandemie, um mit Mann und Maus unterzugehen, könnte zumindest schon vor der Tür stehen. Game over. Denn: Die Affenpocken sind los. Doch was ist dran an der behaupteten Gefahr?

Lauterbach als bekehrter Panikmacher?

20. Mai 2022, G7- Pressekonferenz: Erzengel Lauterbach blies in die Posaune, um das Weltenende einzuläuten. Beim letzten Mal, vor zwei Jahren, war der grünliche Dunst, der vom Görlitzer Park über das Regierungsviertel zog, wohl zu benebelnd, um alle aufrütteln zu können. Doch jetzt war es soweit. Gespannte Journalisten, mit brandneuen Masken gewappnet, hatten die Stifte bereit, um die Apokalypse schriftlich zu fixieren – für die entvölkerte Nachwelt.

Man dürfe die Situation nicht unterschätzen und müsse „hart und früh“ reagieren, verlautbarte der Gesundheitsminister. Einzelne Meinungsmacher vom „Spiegel“ johlten und klatschten bereits.

„Die aktuellen Affenpocken-Fälle sind nicht der Beginn einer neuen Pandemie“, beruhigte Karl Lauterbach versuchsweise die Gemüter. Was eigentlich eine gute Nachricht sein sollte, rief aufgewühltes Gerede unter der Mehrzahl der Pressevertreter hervor. Nachdem ein unbekannter Journalist entrüstet „Affenleugner!“ ausgerufen hatte und aus dem Raum gestürmt war, schnappte Lauterbach unter seiner FFP3-Maske vergeblich nach Luft.

Eine sachliche Analyse über die Affenpocken

Zugegeben, da habe ich etwas überzeichnet. Jetzt aber genug der Panik! Die genannte  Pressekonferenz verlief nämlich tatsächlich ruhig und überraschenderweise war Karl Lauterbach weniger in Endzeitstimmung als erwartet. Die Affenpocken seien mittlerweile auch in Deutschland angekommen, erklärte unser Gesundheitsminister. Und tatsächlich sind mehrere Fälle bestätigt worden. Der erste kam in München auf – in Verbindung mit einer Auslandsreise. Momentan gibt es laut dem RKI deutschlandweit 65 Fälle (Stand 3.6.2022). Der Patient 0 wurde in München isoliert im Klinikum Schwabing behandelt, die Symptome sind glücklicherweise eher mild – typisch für die Krankheit. „Eine Gefährdung der Gesundheit der breiten Bevölkerung in Deutschland” ist nach Angaben des Robert-Koch-Instituts gering, wie es in einer Lageeinschätzung vom 2. Juni heißt.

Auf der Haut entstehen pustelartige, juckende Entzündungsstellen, woher auch der Name „Pocken“ rührt. Sie fallen den Patienten oft selbst auf, sind störend und helfen bei einer Diagnosestellung. Weitere Beschwerden können Schluckstörungen und Fieber sein. Außerdem sind als Symptom auch Körperschmerzen anzutreffen, bspw. Kopfschmerzen. All das ist selbstverständlich unangenehm und behandlungsbedürftig – aber kein Grund zur Panik. 

Erleichternd kommt hinzu, dass die Affenpocken grundsätzlich nicht sehr ansteckend sind. Die Infektion erfolgt häufig durch einen intensiven Körperkontakt, wie der englische Epidemiologe Paul Hunter dem ZDF berichtete. Auch der deutsche Virologe Hendrik Streeck sagte in einem Interview mit RP Online: „Das Virus ist deutlich schwerer übertragbar als zum Beispiel das Coronavirus. Beim Infektionsweg von Mensch zu Mensch muss ein enger Körperkontakt stattfinden. Aerosol-Übertragung spielt vermutlich kaum eine Rolle.” Eine solche Infektion kann beispielsweise bei sexuellen Handlungen vorkommen, weswegen Gesundheitsminister Lauterbach ein erhöhtes Risiko bei homosexuellen Männern postuliert. Ein Medikament für die Affenpocken ist in Europa bereits zugelassen: Tecovirimat wird seit 2022 zur Behandlung von Pockenerkrankungen eingesetzt. Ansonsten heilt die Krankheit aber grundsätzlich nach einigen Wochen von selbst ab.

Das Impfstoff-Hamstern hat schon begonnen

Jetzt könnte man meinen, alles halb so wild. Lauterbach macht zwar etwas Panik, aber im Vergleich zu seinen Verdiensten während Corona ist das nichts. Das dachte ich auch, bis es mal wieder um das Thema „Impfung“ ging. Unser Gesundheitsminister hat nämlich bereits 40.000 Dosen Impfstoff gegen Affenpocken gesichert, die in den USA zugelassen sind. Verträge und Kosten sind selbstverständlich nicht in die Öffentlichkeit vorgedrungen. Mit etwas Panikmache wurde vermutlich wieder eine Menge Geld verdient. Dabei ist noch nicht einmal klar, wer sich impfen lassen will und ob die Affenpocken bei uns irgendeine relevante Gefahr darstellen.

Nur wer zahlen darf, ist unstrittig: Die Bürgerinnen und Bürger.


Was wir aus Heldengeschichten lernen können

Von Simon Ben Schumann | Was haben Jesus Christus, Harry Potter und Donald Trump gemeinsam? Klar, sie alle gehören zum cis-male Patriarchat, welches unseren Planeten nach wie vor in Angst und Schrecken versetzt. Aber außerdem sind sie alle die Helden ihrer geistigen Welten – oder eben Antihelden, je nach Standpunkt.

Ob im Israel des 1. Jahrhunderts, in JK Rowlings „Wizarding World“ oder aber in der US-Politik: Sagen, Legenden und Geschichten über (vermeintliche) Helden prägen die Menschheit seit Anbeginn. Es sind nie bloße Ideologien, sondern stets Individuen, die die Welt wirklich prägen. Von ihren Anhängern werden sie verehrt, von den Gegnern angefeindet – es scheint ein Teil der menschlichen DNA zu sein, zu Einzelpersonen aufzusehen. Das kann natürlich in der Hölle auf Erden enden, beherrscht von König Herodes, Lord Voldemort oder Karl Lauterbach. Es bleibt dennoch Realität.

Gilgamesch: Der erste Held der Menschheit?

Der Anbeginn von komplexen menschlichen Gesellschaften wird, aufgrund der erhaltenen Zeugnisse, von modernen Archäologen im antiken Sumer verortet. Die alten Sumerer sind die erste bekannte Zivilisation, welche eine komplexe Kultur auf die Beine stellte. Es gab Ackerbau, Viehzucht, Mathematik, Schrift, Militär und so weiter.

Und, besonders spannend: Die ersten niedergeschriebenen Geschichten der Menschheit sind uns von den Sumerern erhalten. Und selbst hier begegnet uns ein immer wiederkehrendes Schema: Protagonist, Antagonist und mehrere Wegbegleiter. Der bekannteste ist Gottkönig Gilgamesch, der als egoistischer Herrscher um 3.000 v. Chr. seine Stadt terrorisiert. Daher geben ihm die Götter einen Freund namens Enkidu zur Seite, was die Brutalität des Königs mildert und zu einem weisen Herrscher heranwachsen lässt. Gemeinsam stellen sich die beiden vielen abenteuerlichen Kämpfen und begeben sich auf die Suche nach ewigem Leben.

Natürlich war das Patriarchat damals noch nicht global verbreitet, so dass es mal ausnahmsweise weibliche Hauptcharaktere gibt. Ein Beispiel ist hier das Buch Ester im Alten Testament. Es erzählt, wie Heldin Ester um 500 v. Chr. nach einem gewonnen „Beauty-Contest“ mit dem persischen König verheiratet wird. Damit ist sie zwar „First Lady“, dass sie Jüdin ist verschweigt sie aber zum Glück. Denn blöderweise ist ein enger Berater des Königs extremer Antisemit und plant mal eben, alle Juden in Persien zu ermorden. Fast kommt es zum Völkermord. Doch da es in der Ehe einigermaßen läuft, kann Ester den König bewegen, sich von seinem Berater loszusagen – der Genozid bleibt aus. Die uralte Geschichte wurde mehrfach verfilmt, unser anderem 2006 in „One Night with the King“.

Die Heldenreise als literarisches Motiv

Aus den Heldengeschichten der Antike, aber auch den modernen Geschichten wie Harry Potter, Star Wars oder Avengers hat sich in der Literaturwissenschaft ein schematischer Aufbau der Heldenreise ergeben. Dieser wird auch „Monomythos“ genannt, da stets eine Einzelperson im Mittelpunkt steht und verschiedene Phasen an Charakterentwicklung durchläuft.

Phase 1 hierbei: Der oder die Protagonistin befindet sich in einer gewöhnlichen Alltagssituation und genießt mehr oder weniger ihr Leben. Die Dinge gehen einfach ihren Gang. Im zweiten Schritt offenbart sich durch einen „Herold“ eine gewisse Mission oder Abenteuer, welches zu beschreiten ist. In der bekannten Harry Potter Story ist das Hagrid, der die Tür kaputtschlägt – nach dem Motto: „Übrigens, du kannst zaubern und so.“ Doch dann wird es ernst, die Antagonisten betreten die Bühne. Jetzt trifft der Protagonist auf Freunde und Mentoren, die ihn unterstützen. Mehrere Prüfungen sind zu absolvieren, die schwerste dabei: Eine Konfrontation mit dem Tod selbst. Diese kann verschieden ausgehen, meistens aber überlebt der Hauptcharakter knapp und kehrt mit den gewonnenen Erkenntnissen in einen anderen, besseren Alltag als zuvor zurück. Die Welt ist gerettet, da wird man sich ja wohl mal entspannen dürfen.

Von Helden, Antihelden und Alltagshelden

Die „Heldenreise“ ist der Stoff, aus dem die Träume sind. Sie findet sich so und in abgewandelter Form in beinahe jeder fiktiven Geschichte. Je besser sie umgesetzt ist, desto erfolgreicher ist z. B. eine Filmreihe. Die populären Marvel Filme, welche momentan die Unterhaltungsbrache dominieren, sind ein Beispiel dafür. Doch können wir daraus etwas für den Alltag lernen?

Ich denke: Ja! Denn bei der charakterlichen Entwicklung eines Individuums, das die Welt retten muss, sind wir als nicht-fiktive Menschen auf keinen Fall außen vor. Nicht umsonst gibt es in jeder geistigen Tradition Äquivalente zum literarischen Epos. Seien es beispielsweise die Gradwanderung in der Freimaurerei, der „echte Helden“ wie George Washington entstammen oder der christliche Erlösungsweg durch die Spendung verschiedener Sakramente: Wir alle sind gefordert.

Natürlich muss und kann nicht jeder die ganze Welt retten. Dafür fehlt uns ja bei bestem Willen auch die Superkraft. Aber reicht es nicht schon, wenn wir da aufstehen, wo wir es können? Wenn beim Brunch mit Bekannten gegen nicht geimpfte Stimmung gemacht wird, kann jeder etwas sagen und dazwischenfunken. Unseren Kindern können wir die Werte vermitteln, welche wir in einer manchmal ziemlich dunklen Welt vermissen – und diese so etwas bereichern.

Gegen Lord Voldemort in den Endkampf ziehen müssen die meisten von uns nur beim Gaming. Aber durch eine an guten Vorbildern orientierte Weiterentwicklung unseres Selbst können wir vielleicht zu den wirklich wichtigen Helden werden – den Helden des Alltags.


Hat jeder Wohlstand ein Ende? Deutschlands Parallelen zu Japan

Von Simon Ben Schumann | Die Corona-Krise scheint sich langsam zu verflüchtigen. Mit ihr fallen weltweit starke Einschränkungen von Grundrechten, Hass gegen Andersdenkende ist zumindest momentan weniger zu vernehmen. Der digitale Impfnachweis als Voraussetzung zur Teilnahme am alltäglichen Leben ist vorerst keine Realität mehr, auch die allgemeine Impfpflicht wurde abgelehnt. 

Doch wo Mitternacht vorbei ist, muss noch lange nicht die Sonne scheinen. Unsere Gesellschaft steht vor großen Problemen – und das, obwohl so vieles nach Besserung aussieht. 

Die Spaßgesellschaft 

„Die Geschichte wiederholt sich nicht, aber sie reimt sich“ – das soll Mark Twain einmal gesagt haben. Und tatsächlich: Zivilisationen, Kriege und sogar Dekaden lassen sich manchmal gut vergleichen. Mit den Goldenen Zwanzigern haben wir z. B. eine Pandemie Anfang des Jahrzehnts, steigende Inflationsraten und technischen Fortschritt gemeinsam. Kommt euch bekannt vor? Aber hallo!

Eine Parallele, in der wir heute den Menschen in der Weimarer Republik in nichts nachstehen, ist der Hedonismus. Für alle, die im Philosophie-Unterricht zufällig auf der Toilette waren: Das bedeutet Streben nach Lustbefriedung und Schmerzvermeidung als höchster Lebenszweck. In den „Roaring Twenties“ gab es viel davon: Luxus verbreitete sich, Nachtclubs mit Tänzerinnern à la Josephine Baker öffneten, teure Autos befuhren die Alleen der Großstädte. Ein krasser Gegensatz zur prüden monarchischen Gesellschaft. 

Heute findet das alles in weit größerem Rahmen statt: Sei es die Hook-Up-Culture auf Tinder & Co, „Blackout Saufen“ am Wochenende, starke Sexualisierung und Gewaltverherrlichung in der Pop-Kultur, Ehe- und Kinderlosigkeit etc. Auch der Hype um gewisse Themen kann als ein Merkmal einer „Spaßgesellschaft“ betrachtet werden: An der Börse wird oft in das investiert, was im Reddit „Wallstreetbets“ angesagt ist (wobei ich keine Ausnahme bin). Die neueste Diät, der neueste Sneaker, die neueste Uhr – iced out, versteht sich. All das macht das öffentliche Leben immer mehr aus – und den Alltag junger Leute Stück für Stück belangloser. 

Die Kirchen als althergebrachte Kulturstifter haben oft ausgedient. Man könnte sagen, unsere Zivilisation steht am Zenit ihrer Entwicklung, aber wie lange wird sie sich dort halten können? 

Golden Twenties forever? 

Ein gutes Beispiel dafür, wohin eine zwar wohlhabende, aber perspektivlose Gesellschaft abdriften kann, ist das Land Japan. 

Früher bekannt für brutalste Kriegsführung und Expansionismus an der Seite der Nazis, hat sich das Land nach dem 2. Weltkrieg mit dem Westen versöhnt. Innerhalb einiger Jahrzehnte boomte die Wirtschaft, Japan war auf dem Weg, die USA zu überholen. Doch in den späten 1980er Jahren und besonders in den 1990ern platzte die Seifenblase. Der Leit-Börsenindex Japans ist der Nikkei 225. Er stand 1989 bei fast 40.000 Punkten. Danach stürzte er ab und hat sich seitdem nie mehr erholt. Heute steht er bei noch knapp 27.000 Punkten. 

Genauso verhält es sich mit der Bevölkerungsentwicklung in Japan. Wir in Deutschland diskutieren seit Jahrzehnten über das Thema demographischer Wandel – ein Blick nach Japan zeigt, wie es bald bei uns aussehen könnte. Die Bevölkerungspyramide dort hat bereits die gefürchtete „Urnenform“ angenommen. Die Geburtenrate lag 2016 bei 1,44 – bei uns beträgt sie aktuell ca. 1,5. Das heißt, Rentner und ältere Arbeitnehmer stellen den Großteil der Menschen, während deutlich weniger Kinder als früher nachkommen. Die Belastung liegt bei den Jüngeren, die mit immer mehr Druck, Stress und Abgaben zu kämpfen haben. Logisch: Um Renten zu zahlen. In Japan gibt es sogar ein Wort dafür: „Karōshi“, was sinngemäß „zu Tode gearbeitet“ bedeutet. Wohlstandsverlust ist weit verbreitet. Um das System aufrechtzuerhalten, sind die Zinsen schon lange im Nullbereich; die japanische Zentralbank kauft Staats- und Unternehmensanleihen auf. 

Die einzig boomende Branche ist der Unterhaltungssektor. Manga, Videospiele, Karaoke und Co. sind willkommene Ablenkung. Und auch wir beobachten bei uns immer mehr Eskapismus in Entertainment aller Art, wobei Moral und Realität oft auf der Strecke bleiben, siehe Corona. 

Erwartet uns also eine Zukunft wie in Japan? Ich hoffe doch nicht. Und wenn es einer in der Hand hat, dann wir jungen Leute.