Am Unabhängigkeitstag feierte die Ukraine gleich zwei Jubiläen

Von Sarah Victoria | Am 24. August 1991 erklärte die Ukraine ihre Unabhängigkeit von der Sowjetunion. 31 Jahre später kämpft das Land erneut um seine Unabhängigkeit – diesmal jedoch nicht nur mit Worten. Was die letzten Jahrzehnte ein Grund zur Freude war, markiert dieses Jahr auch ein trauriges Jubiläum. Vor genau sechs Monaten begann die russische Militäroffensive. Seitdem scheint nichts mehr so zu sein, wie es einmal war.  Die russische Invasion wurde zu einem globalen Problem, das  international für Aufsehen sorgte. Der ukrainische Nationalfeiertag bewegt in diesem Jahr auf einmal eine ganze Weltgemeinschaft. Daher folgt nun ein kleiner Abriss von dem, was vor 31 Jahren einmal war und dem, was heute ist: 

Was einmal war

Vor 31 Jahren nutzte die Ukraine ihre Chance, sich von der zerfallenden Sowjetunion abzusetzen. Verantwortlich war dafür insbesondere der Politiker Leonid Krawtschuk, der im selben Jahr auch noch zum ersten Präsidenten der Unabhängigen Ukraine gewählt wurde. Er war es, der am 24. August die Unabhängigkeit der Ukraine von der Sowjetunion verkündete. Im Mai 2022 starb  Krawtschuk im Alter von 88 Jahren in München.  Zusammen mit seinem russischen und belarussischen Amtskollegen (der übrigens zwei Wochen vor Krawtschuk verstarb) schrieb das Trio im Dezember 1991 Weltgeschichte und beschloss offiziell die Einführung der Unabhängigen Staatengemeinschaft. Über 90 Prozent der Bevölkerung stimmten beim anschließenden Referendum der Unabhängigkeitserklärung zu.

In den ehemaligen Sowjetstaaten folgte daraufhin eine Zeit des Wandels, die gerade politisch sehr herausfordernd war. Armut und Korruption breiteten sich im Land aus. Mit seiner diplomatischen Außenpolitik machte sich Krawtschuk gerade im Osten der Ukraine keine Freunde, immerhin war er derjenige Präsident, der auf sowjetische Atomwaffenarsenale verzichtete und sich dem Westen annäherte. Die daraus entstandenen Ressentiments mündeten 1994 schlussendlich in der Abwahl Krawtschuks. Nachfolger wurde Leonid Kutschma, der vor allem von der ostukrainischen Bevölkerung unterstützt wurde. Dass Krawtschuk seinen Posten auch wirklich verließ war eine Besonderheit. Machtwechsel wurden seitdem, anders als in den Nachbarländern Russland und Belarus, zur ukrainischen Tradition. Nach seiner Abwahl wurde es die nächsten Jahre ruhig um den Präsidenten. 

Was heute ist 

Erneut politisch relevant wurde seine Person unter dem aktuellen Amtsträger Wolodymyr Selenskyj. Im Juli 2020, als die ukrainische Regierung sich noch eine mögliche diplomatische Lösung mit Russland erhoffte, wurde Krawtschuk zum Leiter der ukrainischen Delegation ernannt. Vor seinem Tod soll er noch gesagt haben, dass der Hauptfehler seiner Präsidentschaft das Vertrauen zu Russland war. „Mein größter Fehler ist, dass ich Russland geglaubt habe. Ich hatte kein Recht dazu. Als ich in Moskau studierte, war ich schon über 30. Ich hatte Zugang zur Lenin-Bibliothek, zu einem Archiv. Und ich wusste viel über Russland, über Lenin, über alles, was sonst niemand wusste. Ich dachte, dass sie [Anm.: Russland] sich auch endlich veränderte… sie blieb jedoch gleich.“

Der erste Präsident der unabhängigen Ukraine starb während des dritten Kriegsmonats. Natürlich weiß niemand, ob ein anderer Umgang mit der russischen Regierung tatsächlich für Frieden gesorgt hätte. Aber am diesjährigen Unabhängigkeitstag hallen die Worte Krawtschuks nochmal besonders nach. 

Internationale Glückwünsche, die verwirren 

Der Unabhängigkeitstag der Ukraine sorgt natürlich auch international für Schlagzeilen – und das nicht nur im Westen, wie man zuerst vermuten würde. Auch die Regierung Belarus gratulierte ihrem Nachbarn und hätte ihre Glückwünsche dabei nicht zynischer formulieren können. Gerade der nachbarliche Wunsch nach einem „friedlichen Himmel“ erscheint vor den jüngsten Raketenangriffen wie orwellscher Neusprech. In der Grußbotschaft des Präsidenten Aleksandr Lukashenko, die auf der Seite des Präsidialbüros nachzulesen ist, heißt es: 

„Ich bin überzeugt, dass die aktuellen Widersprüche nicht in der Lage sein werden, die jahrhundertealten, aufrichtigen und gutnachbarschaftlichen Beziehungen zwischen den Völkern beider Länder zu zerstören. Belarus wird sich weiterhin für die Erhaltung der Eintracht, für die Entwicklung freundschaftlicher und gegenseitig respektvoller Kontakte auf allen Ebenen einsetzen. Das belarussische Staatsoberhaupt wünscht den Ukrainern einen friedlichen Himmel, Toleranz, Mut, Kraft und Erfolg bei der Wiederherstellung eines menschenwürdigen Lebens.“ 

Der russische Präsident sendete seine Glückwünsche dieses Jahr in Form von Raketen, die nach ukrainischen Berichten am 24. und 25. August an Bahnhöfen eingeschlagen sein sollen und dabei mindestens 22 Menschen töteten. In besetzten Gebieten versprach Putin zudem, Eltern von Kindern zwischen 6 und 18 Jahren eine einmalige Zahlung von 10.000 Rubeln (das sind umgerechnet etwa 165  Euro) zukommen zu lassen. Ansonsten hielt sich die russische Seite bedeckt, die „Spezialoperation“ scheint auch weiterhin nach Plan zu verlaufen – zumindest wenn man General Shoigu zuhört. 

Glückwünsche aus dem Westen

Ganz anders sahen die Gratulationen aus dem Westen aus. Regierungsvertreter ließen es sich nicht nehmen, der Ukraine Videobotschaften, Photos oder noch mehr Versprechen zukommen zu lassen. Die amerikanische Regierung versprach der Ukraine ein weiteres Rüstungspaket im Wert von 3 Milliarden Dollar, der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz besuchte die 30 versprochenen  Gepard-Panzer – die sich noch in Deutschland befinden –  und Ursula von der Leyen ließ sich am Unabhängigkeitstag in Brüssel mit einer 30 Meter langen Ukraineflagge ablichten – natürlich im dazu passenden Hosenanzug.

https://twitter.com/Bundeskanzler/status/1562773025791279106?s=20&t=QRyG8tKBRKCbMtdS4pa9TA  

Selbst die englische Königin sicherte der Ukraine ihre Unterstützung zu. Für den meisten Wirbel sorgte jedoch Boris Johnson. Der scheidende britische Premierminister ließ es sich nicht nehmen, am Unabhängigkeitstag persönlich nach Kiew zu reisen, um dort auf offener Straße – und vor reichlich Kameras – mit Selenskij spazieren zu gehen. Im Anschluss hielt er noch eine Rede.

https://twitter.com/10DowningStreet/status/1562838621866049536?s=20&t=cChExwgHY9vxs1Wbw9vB1g  

Der Unahbängigkeitstag 2022 

Seit der Annexion der Krim war es ein Anliegen der ukrainischen Regierung, den Unabhängigkeitstag möglichst groß zu feiern, was dieses Jahr nicht möglich war. Großveranstaltungen und Konzerte wurden abgesagt und die Bevölkerung dazu aufgerufen, die Sirenen an diesem Tag besonders ernst zu nehmen. Nichtsdestrotrotz wurden die Ukrainer kreativ. Oleksej Soronkin, ein ukrainischer Journalist des “Kjev Independent” , teilt auf Twitter folgendes Video: 

In Kiew gibt es 2022  keine Militärparade. Stattdessen wird dieses Jahr in erbeutete Panzer gestiegen. Es ist eine neue Normalität: Kinder posieren mit blau-gelben Flaggen vor zerstörten Militärfahrzeugen, die Spielplätze sind leerer als sonst – am ersten September geht die Schule wieder los. Im Hintergrund erklingen regelmäßig Sirenen. Die Stadtbewohner versuchen, den Lärm mit Musik zu übertönen. Und auch, wenn bestimmt nicht jeder denselben Humor teilt, scheint das ukrainische Durchhaltevermögen doch beeindruckend.


Jura vs. Psychologie – das große Apollo-Battle

Lesen Sie hier: Das große Debattenduell. Psycho-Tante Pauline gegen Paragraphenreiter Simon. Für wen fiebert ihr mit: Team Freud oder Team Justizia? 

ACHTUNG: Dieser Beitrag könnte Spuren von Humor enthalten. Weder schnöselige Polo-Juristen noch verrückte Freudianer wurden bei der Produktion dieser Kolumne ernsthaft verletzt. Dieser Austausch spiegelt in keiner Weise das Arbeitsklima bei Apollo News wieder, sondern dient schlichtweg Unterhaltungs- und Ausbildungszwecken. Seelsorgerische Unterstützung stand den Autoren zu jeder Zeit zur Verfügung.


Lieber Gutmenschen, als Rowdys in Cordhosen

Von Pauline Schwarz | Wenn man endlich sein Abiturzeugnis in der Hand hält und nicht zur Sorte Genderstudies, Politikwissenschaft oder Ausdruckstanz gehört, stellt sich jedem Hochschulanwärter die eine große Frage: Was kann ich studieren, um – Achtung, Raubtierkapitalismus – irgendwann mal ordentlich Knete zu verdienen. Mein erster Gedanke war damals: Studiere ich doch einfach Jura. Dann kann ich so eine fiese, gewiefte Anwältin werden, wie die aus dem Fernsehen. Aber von dem Gedanken bin ich nach dem Gespräch mit einer echten Anwältin dann zum Glück doch wieder abgekommen – Hollywood hat mit dem echten Anwaltsberuf nämlich nicht so viel zu tun. Simon hat das leider nicht rechtzeitig gerafft. Der hat so viel Suits geguckt, dass er sich selbst schon mit Anzug und einer sexy Sekretärin auf dem Beifahrersitz seines Ferraris durch den Ruhrpott rasen sah. Jetzt hat er den Salat. Er ist zwischen Segelschuhen, endlosen Paragraphenlisten und geschwärzten Bibliotheksbüchern gefangen.

In Cordhose und Polo-Shirt an die Bücher-Front

Ich will ja gar nicht behaupten, dass die Psychologie-Studenten besonders sympathische Menschen sind – ich habe mich schon oft gefragt, ob der Kommilitone neben mir wirklich Psychologie studiert oder doch nur aus dem Behandlungszentrum gegenüber ausgebüchst ist. Aber immerhin sind sie nicht so verrückt zu denken, dass ein um die Schultern gebundener Pullover stylisch aussieht. Bei uns trägt vielleicht der ein oder andere Mann Nagellack, ich gebs ja zu, aber wenigstens sieht er nicht aus, als hätte er die Golfklamotten seines Opas geklaut. Simon habe ich zwar noch nicht mit Cordhose oder Krokodilhemdchen erwischt, aber ich glaube der tarnt sich bei unseren Apollo treffen. Abends, wenn keiner hinsieht, schlüpft der bestimmt heimlich in seinen Polo-Schlaf-Anzug und atmet dann erstmal kräftig durch.

Abgesehen vom Spießer-Style, macht die Juristen aber vor allem eines unangenehm: Das Hauen und Stechen um die besten Noten. Wenn man bei den Psychologen irgendein Problem hat, muss man nur einmal in den Uni-Chat schreiben und schon melden sich zehn Leute, die bereit sind ihr Leben zu opfern, nur um dir zu helfen. Rein menschlich ist das zwar ein bisschen komisch, aber es ist verdammt praktisch. Ohne die tausend Unterlagen, Scripte, Bücher und Tipps, die ich schon von meinen Kommilitonen bekommen habe, hätte ich an der ein oder anderen Stelle in meinem Studium echt alt ausgesehen. Bei den Juristen ist das anders – denn die lassen sich gegenseitig absichtlich alt aussehen.

 

Fraktion Ellenbogen – Und wir sind die verrückten?

Ich mag mir gar nicht vorstellen, wie oft Simon schon keuchend und mit ausgefahrenen Ellenbogen in die Bibliothek gestürmt ist, um als erster an den begehrten Lehrbüchern oder Gesetzestexten zu sein, nur um dann vor einem Buch zu stehen, bei dem die wichtigen Seiten fehlen – sofern er es überhaupt findet, es also grade kein anderer versteckt hat. Die Juristen lassen nämlich nicht nur Bücher verschwinden, sie rupfen ganze Seiten heraus oder schwärzen wichtige Stellen, nur um zu verhindern, dass die anderen gute Noten bekommen. Wenn man den Prototyp des „Kollegenschweins“ suchen würde, würde man hier einen ganzen Vorlesungssaal voll finden. Da sind mir die alten Psycho-Gutmenschen, die mir ihr Buch schenken und extra noch wichtige Stellen markieren, doch ein bisschen lieber.

Den Jura-Studenten fällt immer eine neue Gemeinheit ein – und da ist der Simon keine Ausnahme. Ich meine der verbreitet bei Apollo einfach gnadenlos das Gerücht, ich würde auf Chia-Samen stehen. Der klaut bestimmt auch Erstsemestern ihre Bücher, einfach nur, um die Kleinen weinen zu sehen und sich dabei schadenfroh ins Fäustchen zu lachen. Aber hey, vielleicht brauch man auch einfach genau dieses grausame Gen, um ein richtig guter Anwalt zu werden. Dieses Gefühl habe ich zumindest manchmal, wenn ich mir die aktuelle Gesetzgebung anschaue – wie heißt das noch? Justizia ist blind? Das würde ich aktuell unterschreiben. 

Lieber Simon, wenn du das nächste mal vor den irren Psychologen warnen willst, denk daran: Deine Sippschaft hat nicht nur einen schlechten Klamottengeschmack und einen Hang zu kriminellem Bibliotheks-Verhalten. Einige deiner Kollegen behalten zwar die Ellenbogen, vergessen nach dem Studium aber sämtliche Rechtsgrundsätze. Also: Wer ist jetzt der Verrückte hier?


Lieber Paragraphenreiten, als Psycho-Spiele 

Von Simon Ben Schumann | In Deutschland werden immer mehr Psychologen gebraucht – und das besonders jetzt nach der Corona-Pandemie. Für Pauline ist das der Jackpot, denn sie profitiert vom psychischen Leid der Menschen. Jeder Depressive oder Verrückte, bedeutet für sie ein lukratives Geschäft – mit einer eigenen Praxis in Berlin-Kreuzberg, könnte sie dementsprechend Millionen machen. Und dabei wünsche ich ihr in Zukunft natürlich alles Gute, will sie aber auch warnen. Wenn ich mir die Psychologen von früher und heute mal genauer anschaue, frage ich mich oft wer hier eigentlich der Patient ist. Nicht das Pauline noch die Stühle wechselt. 


Stanford-Prison-Experiment & Co.: „Homo sapiens“ als Versuchstier

Als staubtrockener Jurastudent muss ich mich in Zurückhaltung üben. Ehrlich: Ich hab Angst vor der Psycho-Expertin Pauline. Da ich mich ein bisschen mit Verhaltensanalyse beschäftigt habe weiß ich, dass man schon aus Kleinigkeiten viel schließen kann. Was kann eine studierte Mentalistin dann erst herausfinden? Pauline kommt bei den Apollo-Treffen wahrscheinlich in den Raum und verteilt erstmal überall Diagnosen – da muss man verdammt aufpassen was man sagt und wie man sich benimmt, sonst hat man gleich ein „Mutter-Problem“, ist ein „Narzist“ oder sollte aus irgendwelchen anderen Gründen auf die Couch. Eine Psychologin sollte man nicht verärgern, sonst hast du einmal an der falschen Stelle gelacht – und schon heißt es: „Leute, Simon ist ein Psychopath!!“ 

Außerdem hatte ich Psychologie mehrere Jahre in der Schule und was mir im Kopf blieb: Als Freud-Verehrer schreckt man nicht vor brutalen Experimenten zurück. Solange der Versuchsaufbau stimmt, ist alles erlaubt. So wurden im Stanford-Prison-Experiment von der Straße aufgegabelte Probanden in „Wärter“ und „Gefangene“ eingeteilt und ins „Gefängnis“ gesteckt. Während des Unterrichts dachte ich: Wird schon schiefgegangen sein. Leider war das Gegenteil der Fall. Irgendwie hat man es geschafft, das Experiment so aufzubauen, dass sich alle gegenseitig fertigmachten. Kein Wunder: Die „Wärter“ blieben durch Sonnenbrillen und Einheitskleidung anonym. „Gefangene“ hatten nur Krankenhaus-Oberteile an, die Zellen waren viel zu kein. Drakonische Maßregelungen durch die Wärter, Aufstände der Gefangenen und so weiter waren an der Tagesordnung.

Auch das Milgram-Experiment – in dem Menschen viel zu hohe Stromschläge verpasst wurden – ist erschreckend. Ob Pauline regelmäßig mit einem Taser durch die S-Bahn geht, um Fahrgäste auf Schockempfindlichkeit zu testen? Ich hoffe nicht. Aber wenn wir schon im Unterricht mit solchen „Versuchen“ konfrontiert wurden, wie ist das erst im Studium? Als Jurist muss man auswendig lernen, aber keinem eine Pille unters Essen mischen und gucken, was passiert. 

Lieber Staatsexamen als Versuchsperson

Ein guter Bekannter von mir studiert auch Psychologie und er muss regelmäßig in mehrtägige „Blockseminare“ zu irgendwelchen verrückten Themen. Ein Blockseminar über „Strafrecht – Besonderer Teil: Vermögensdelikte“? Gibt’s Gott sei Dank nicht. Ich bräuchte danach ein Anti-Aggressions-Training. Außerdem müssen wir uns weder als Versuchspersonen zur Verfügung stellen, noch Bachelor- und Masterarbeit schreiben, auch wenn die Examina „hard work“ sind. Als Juristen können wir aber wenigstens dafür sorgen, dass bei einem „Autounfall-Experiment“ für Paulines Promotion niemand verklagt werden kann. Und als Notar braucht man bei einer Testamentsverfügung höchstens etwas Trost, während man als praktizierende Psychologin bekanntlich selbst eine Therapie anfangen muss. Obwohl auch ein Soja Latte ein wirksames Gegenmittel gegen Trauma-Storys aus dem Görli oder das schlechte Gewissen vom letzten Experiment sein dürfte.


Linksruck in Südamerika – Gefahr für die Demokratie?

Von Leon Hendryk | In weniger als zwei Monaten wird in Brasilien gewählt. Der konservative Amtsinhaber Jair Bolsonaro tritt zwar wieder an, klarer Favorit ist aber der linke Luiz da Silva, der als „Lula“ bekannt ist. Lula war von 2003 bis 2011 schon einmal Präsident Brasiliens, wurde zuletzt aber aufgrund zahlreicher Korruptionsskandale zu mehreren langjährigen Gefängnisstrafen verurteilt. Diese Urteile wurden 2019 vom obersten Gerichtshof Brasiliens aufgehoben, allerdings ohne ihn explizit von den Vorwürfen freizusprechen. Nun ist er, immer noch populär aufgrund sozialer Geschenke während seiner ersten Regierungszeit, auf dem besten Weg die Wahl zu gewinnen und Brasilien auf der politischen Landkarte wieder rot zu färben. 

Doch nicht nur in Brasilien ändern sich momentan die politischen Verhältnisse. Auch in Kolumbien wurde dieses Jahr ein linker Präsident gewählt. Zwar gewann dieser die Wahl mit einer äußerst geringen Mehrheit (50,24%), hat es aber dafür in sich: Gustavo Petro war früher Mitglied einer linksterroristischen Guerilla und nimmt es mit demokratischen Umgangsformen noch immer nicht so genau. Und auch Chile hat seit letztem Jahr einen linken Präsidenten, Gabriel Boric. Dieser schiebt momentan ein Verfassungsreferendum an, welches der Exekutive und insbesondere ihm selbst weitreichende Befugnisse verschaffen würde.

Zwei der Nachbarländer Chiles, Peru und Bolivien, haben in den letzten Jahren ebenfalls linksgerichtete Präsidenten bekommen. Beide sind Marxisten und beide haben, vorsichtig ausgedrückt, ein eher autoritäres Verständnis von Demokratie und Gewaltenteilung. Dazu kommt die Mitte-Links Regierung in Argentinien, einem Land welches sich seit 3 Jahrzehnten in einer Wirtschaftskrise befindet. In der sozialistischen Diktatur Venezuelas unter Präsident Maduro hat man die Wirtschaftskrise mittlerweile hinter sich gelassen, allerdings nur weil es mit der Wirtschaft schlichtweg nicht mehr weiter abwärts gehen kann. Stattdessen befindet sich das einst wohlhabendste Land Südamerikas nun in einer Hungerkrise und hat zudem die zweifelhafte Ehre, das Land mit der weltweiten höchsten Mordrate zu sein.  

Droht dieses Schicksal nun auch anderen Staaten in Südamerika? Schließlich äußerten sich viele der oben präsentierten neugewählten Präsidenten positiv zu sozialistischen Diktaturen wie in Venezuela oder auch Kuba, was allen intelligenten Menschen eigentlich Anlass zur großen Sorge geben sollte. 

Dazu kommt, dass in manchen Ländern Südamerikas die neu gewählten linken Präsidenten bereits linke Vorgänger hatten. Ihre Ideologie ist also schon in den Institutionen verankert. So beispielsweise in Bolivien, wo der heutige Präsident Luis Arce der Partei „Movimiento al Socialismo“ angehört, genau wie der frühere Präsident Evo Morales. Dieser hatte in den letzten Jahren den autoritären Umbau Boliviens stark vorangetrieben und die demokratischen Institutionen geschwächt. Es sieht so aus, als ob sein Nachfolger diesen Kurs nun weiter fortsetzt. Ob es in ein paar Jahren noch freie Wahlen in Bolivien geben wird, kann bezweifelt werden. 

Immerhin ist es nicht überall so dramatisch: Die weltweit schwierige ökonomische Lage wird es vielen der linken Präsidenten nicht ermöglichen, großzügig steuerfinanzierte Geschenke an die Armen zu verteilen und damit autoritäre Vorgehensweisen zu kaschieren. Zudem ist die öffentliche Zustimmung der neuen Präsidenten eher mäßig, die meisten wurden mit kaum mehr als 50% der Wählerstimmen ins Amt gehoben und ihre Parteien verfügen oft nicht über absolute Mehrheiten in den jeweiligen Parlamenten. Dies ist anders als bei vorherigen linken Regierungen, zum Beispiel in Venezuela, wo komfortable Mehrheiten den Abbau der Demokratie beschleunigten. Zu guter Letzt sind auch die Wähler etwas wachsamer als sie es in den vergangenen Jahrzehnten waren. Die Südamerikaner sind zwar immer noch anfällig für sozialistische Heilsversprecher, doch das Scheitern von Ländern wie Venezuela hat auch dort zu einer gewissen Skepsis gegenüber allzu machthungrigen Regierungen geführt. 

Trotz dieser Voraussetzungen besteht die Gefahr, dass zumindest einige der Länder Südamerikas sich zu autokratischen Staaten entwickeln. Auch liberale Publikationen wie „Americas Quarterly“, die mit konservativen Politikern wie Bolsonaro oft hart ins Gericht gehen, teilen diese Befürchtungen eines „democratic backsliding“ durch die neue Dominanz linker Machthaber. Für den freien Westen wäre ein solches Szenario höchst unangenehm. Denn mit China lauert schon eine Weltmacht, die großes Interesse daran hat mithilfe autokratischer Herrscher dort Fuß zu fassen und die politische Landschaft im oft als „Hinterhof der USA“ bezeichneten Südamerika zu gestalten. Auch der Rohstoffreichtum südamerikanischer Länder, insbesondere an Lithium und anderen wertvollen Mineralien, wird dabei eine Rolle spielen. Es lohnt sich also die weitere politische Entwicklung Südamerikas, und insbesondere den Ausgang der Wahlen in Brasilien, genau zu beobachten. Was dort passiert wird über lang oder kurz auch für Europa große Relevanz haben.




Holodomor – der bolschewistische Genozid am ukrainischen Volk

Von Boris Cherny | Zu den größten Verbrechen des Kommunismus zählt die Behandlung der (insbesondere ukrainischen) Bauern in der Sowjetunion. Der mörderische Akt der Aushungerung ganzer Landstriche sorgte für Millionen Opfer und prägt die Ukraine noch bis heute. Der sogenannte „Holomodor“ war eine organisierte Hungersnot – und auch ein Genozid, um den Widerstand der Ukrainer gegen den russischen Bolschewismus zu brechen. 

Als 1917 die bolschewistische Revolution in Russland Einzug hielt, wurden schnell von ihren Führern die Klassenfeinde des kommunistischen Regimes ausgemacht. Neben den Intellektuellen und der wirtschaftlichen Elite, zählten auch wohlhabenden Bauern, die sogenannten Kulaken zu den größten Klassenfeinden. Vor allem in der Ukraine, die als „Brotkorb Europas“ bekannt ist, waren Kulaken ein wichtiger Bestandteil der Wirtschaft. Sie waren meist die Produktivsten Bauern der Regionen die sei bewohnten. Schon früh hatten sie unter verschiedensten Schikanen zu leiden. Aber auch die restlichen Bauern wurden von den Kommunisten mit Misstrauen betrachtet. Lenin hielt die kleinen privaten Betriebe der Bauern als Keim für Kapitalismus und die Bourgeoisie  und Stalin hielt die Bauern für eine größten Gefahren für seine Macht.

 

Gewaltsame Kollektivierung und Entkulakisierung

 

11 Jahre nach der Revolution hatte die Nachfrage nach Getreide ein so hohes Niveau erreicht, dass Stalin den staatlichen Einzug von Getreide als eine Art Steuer einführte. Die Bauernschaft widersetzte sich diesen Maßnahmen größtenteils. Den Widerstand der Bauernschaft sah Stalin als  Akt der politischen Sabotage an. Um bessere Kontrolle über die Bauern zu erhalten, wurde 1929 letztendlich die Kollektivierung der gesamten Landwirtschaft angeordnet. Alle Bauern sollten enteignet und in kollektive Farmen, die sogenannten „Kolchose“, integriert werden. Aus diesen politisch überwachten Kolchosen konnte Getreide direkt an den Staat abgegeben werden, zumindest in der Theorie.

 

Kombiniert mit der Kollektivierung wurde auch die Entkulakisierung beschlossen. Dieses drakonische Programm sollte reiche Bauern zuerst enteignen, und daraufhin sollten sie in entlegene Regionen für Zwangsarbeit deportiert werden. Da die meisten „Kulaken“ sowieso schon durch die massive Steuerlast verarmt waren traf die Entkulakisierung die gesamte Bauernschaft. Der Begriff „Kulak“ wurde deshalb auch ausgeweitet. Bauern konnten schon als Kulaken deportiert werden, weil sie früher einen Mitarbeiter in ihrem Betrieb beschäftigt hatten, oder im Sommer Korn auf dem Markt verkauften. Die Enteignungen wurden von den Dorfbewohnern (organisiert in sogenannten „Aktivistengruppen“) selbst durchgeführt, was oft zu Denunziationen und persönlichen Racheakten führte. Wurde nun eine vermeintliche Kulakenfamilie enteignet, wurde ihr meist alles genommen, selbst die Kleidung (Unterwäsche ausgenommen) zogen die Aktivistengruppen manchmal ein. Durch die chaotischen Bedingungen der Deportationen und Enteignungen starben mehrere Hunderttausend Menschen.



Widerstand der Bauern erfolglos – noch mehr Repressalien als Folge

 

Die grausamen Gewaltakte gegen die Bauernschaft führte zu einem großflächigen Bauernaufstand. In vielen Bezirken übernahmen Bauernräte für Wochen die Macht, bis die Macht der Bolschewisten gewaltsam wiederhergestellt wurde. Zu den Forderungen der Bauern gehörten Wiederherstellung einer freien Landwirtschaft und Beendigung des Sowjetischen Systems. Vor allem in der Ukraine, wo die Bauernaufstände besonders groß waren, waren die wirtschaftlichen und politischen Forderungen meist noch mit dem Ruf nach einer unabhängigen Ukraine gepaart. Die Niederschlagung der Revolte und die nachfolgenden Repressalien gegen die Landbevölkerung der revoltierenden Regionen (neben der Ukraine auch die Regionen des Nordkaukasus und Kasachstan) forderte weitere tausende Menschenleben.

Doch auch der Beendigung der offenen Konfrontation leisteten die nun meist in Kolchosen organisierten Bauern passiven Widerstand gegen Kollektivierung und die immer erdrückender werdende Steuerlast (allein vom Jahr 1931 auf 1932 stieg die eingezogene Getreidemenge durchschnittlich – mit Unterschieden je nach Region – um etwa ein Drittel an). Ganze Dörfer, samt Mithilfe des örtlichen Parteiapparats, entzogen sich den Steuern, indem sie falsche Zahlen an die Zentralverwaltung lieferten. Die Staatsführung reagierte prompt.

 

Große Hungersnot und Holodomor als „letzte Lösung“ der Regierung

 

1932 beschloss die Parteispitze, die aufständischen Regionen aushungern zu lassen. So wollte Moskau den Widerstand der Bauern brechen. Sogenannte Schwarze Listen für unbeugsame Dörfer wurden eingeführt. Die Versorgung dieser Dörfer wurde abgeschnitten, alle „Konterrevolutionäre“ wurden verhaftet, verschleppt oder hingerichtet, und im Falle dass die Maßnahmen „nicht wirkten“, wurde die gesamte Bevölkerung der Ortschaft deportiert. Die drakonischen Steuern und Repressalien führten dazu, dass kaum noch Getreide produziert wurde. Viele Dörfer in der UdSSR hatten überhaupt keine Nahrungs- oder Anbaureserven, da diese durch den Staat eingezogen.

 

In ihrer Verzweiflung versuchten viele Bauern in die besser versorgten Städte zu fliehen. Doch auch die Landflucht wollten die Kommunisten verhindern. Deshalb wurden ein Inlandspass und eine Zwangsregistrierung verordnet. Fast alle flüchtenden Bauern konnten somit in ihre Heimatregionen zurückgebracht werden – und wurden zum Sterben zurückgelassen. Verzweifelte Eltern versuchten zumindest ihre Kinder in den Städten zu verstecken, doch auch die wurden durch speziell organisierte Dienste wieder deportiert. Zusätzlich zum staatlichen Morden, verbreiteten sich Krankheiten wie Typhus rasant unter der Bevölkerung. Die unmenschlichen Lebensbedingungen führten auch zu Kannibalismus. Die Sowjetische Regierung sah sich sogar gezwungen Plakate drucken zu lassen, die Bevölkerung daran erinnern sollten, dass das Essen der eigenen Kinder falsch ist. Der besondere Zynismus der Regierung lässt sich an ihrer Handelspolitik ablesen. Während im eigenen Land Millionen Menschen verhungerten, exportierte die Sowjetunion 1933 18 Millionen Doppelzentner Weizen an das Ausland.



Zwischen 5,7 und 8,7 Millionen Menschen starben während der großen Hungersnot 1932/33, davon  3,3 bis 5 Millionen alleine in der Ukraine. Manche Ortschaften mit einst mehreren Tausend Einwohnern hatten Ende 1933 nur noch einige Dutzend Bewohner. Auch wenn nicht ausschließlich die Ukraine von der Aushungerung betroffen war, wurde insbesondere die ukrainische Nationale Bewegung durch den Holodomor gezielt angegriffen. Dieses beispiellose Verbrechen führte aber langfristig zu einem Erstarken des ukrainischen Nationalgedanken, und ist auch ein Grund für die starke Ablehnung einer Union mit Russland, immerhin hat die letzte Vereinigung solcher Art zum Tod von 5 Millionen Ukrainern geführt.


Die Vereinigten Staaten von Europa: Warum sie ein Traum bleiben

Von Jonas Aston | Schon 2011 als Ursula von der Leyen noch Arbeitsministerin war, forderte sie als Konsequenz aus der Euro-Krise den Ausbau der politischen Union in Europa: „Mein Ziel sind die Vereinigten Staaten von Europa“, erklärte sie voller Überzeugung. Heute ist von der Leyen Kommisionspräisdentin und arbeitet mit Hochdruck an ihrer Vision. Und natürlich hängt auch die Ampel-Regierung dem Traum des europäischen Bundesstaates an. Laut Koalitionsvertrag möchte die Bundesregierung sich für einen verfassungsgebenden europäischen Konvent einsetzen, um die Europäische Union „zu einem föderalen europäischen Bundesstaat“ weiterzuentwickeln. Doch die deutsche Politik und auch weite Teile der Gesellschaft jagen einer Chimäre nach.

Der Historiker Heinrich August Winkler schreibt, dass Europa nach dem zweiten Weltkrieg für viele Deutsche eine Art Ersatzvaterland geworden ist. Aus der Selbstzerstörung des eigenen Staates habe man geschlussfolgert, dass der Nationalstaat als solches obsolet ist. Die Deutschen versuchen sich der Schmach von zwei verlorenen Weltkriegen und der Auslöschung von 6 Millionen Juden durch die Flucht nach Europa zu entfliehen

Die Definition dessen, was Europa ist, stammt aus der Antike. Der Grieche Herodot bezeichnete im 5. Jahrhundert damit das Territorium der damals bekannten Welt zwischen Asien und Afrika. Der Begriff hatte eine rein geographische Konnotation. Eine politische oder kulturelle Identität ging mit dem Begriff Europa nicht einher. Zwischen den europäischen Völkern gibt es keinerlei einenden Kitt. Das zeigt paradoxerweise auch die Einführung des Euros. Im Römischen Reich war das Abbild des Kaisers Augustus auf den Münzen Symbol für Zusammenhalt und Zusammengehörigkeit. Die Konstrukteuere des Euros fanden offenbar kein vergleichbar symbolkräftiges Gebäude, geschweige denn eine in ganz Europa angesehene Persönlichkeit.  

Zusammenhalt stiftete die Religion, zumindest in einem gewissen Maße. Europa ist das christliche Abendland. Dennoch trennte sich das orthodoxe Byzanz vom katholischen Weströmischen Reich nicht zuletzt aus religiösen Gründen. Die Grenze zwischen griechisch-othodoxen und römisch-katholischem Glauben ist heute noch spürbar. Eine zweite kulturelle Grenze erstarkte durch die Reformation. Bis heute sind die protestantischen Staaten wirtschaftlich erfolgreicher als die katholischen Staaten. In der Entwicklung war der Norden dem Süden Europas stets einige Jahrzehnte voraus.

Die Feindschaft zwischen den christlichen europäischen Staaten ging sogar soweit, dass gelegentliche Kooperationen (z.B. Frankreich) mit dem Osmanischen Reich zustanden kamen. Aus zwei Schlachten könnten die Europäer heute aber eine gemeinsame Identität ziehen. Bei der Schlacht von Tours & Poitier und der Belagerung Wiens standen die Europäer zusammen und verhinderten die Arabisierung und Islamisierung des Abendlandes.

Doch bei wachsenden muslimischen Minderheiten in Westeuropa und diversen Parteien, die genau diese Zuwanderung befürworten (und zwar gerade jene, welche die Einigung Europas anstreben), ist eine Einigung Europas als christlicher Okzident als Gegenmodell zum islamischen Orient völlig undenkbar. 

1945 war die Chance für die Einigung Europas so hoch wie nie zuvor. Mitte des 20. Jahrhunderts standen die Zeichen in ganz Europa auf Neuanfang. Hinzu kommt, dass die EU der 6 ziemlich genau in den Grenzen des einstigen Frankenreichs liegt. Als die Franzosen sich dann aber den Plänen zur Errichtung einer gemeinsamen Armee verweigerten wurde klar, dass es mit der europäischen Einigung schwer werden würde. 1973 wurde die Möglichkeit mit der Erweiterung von Großbritannien, Irland und Dänemark dann endgültig ausgeräumt. Die EU der 6 war mit diesen Ländern nie zuvor staatlich vereint.

Die nun in aller erster Linie stark aufkeimenden Wünsche nach einem vereinten Europa widersprechen dem seit dem 19. Jahrhundert anhaltenden Trend in Europa völlig. Im Abendland erwachte das Nationalbewusstsein. 1821 probten die Griechen den Aufstand gegen die osmanische Herrschaft. Später strebten auch die Serben, Bulgaren und Rumänen ihre Loslösung aus dem Vielvölkerstaat an. 1866 endete die Dreiteilung Italiens in sizilianisches Königreich, Kirchenstaat und den nördlichen Staaten (die abgesehen von Venedig einst zum Heilig-Römischen-Reich deutscher Nation gehörten. 1871 machte Bismarck es Grimaldi (dem italienischen Einiger) nach und ermöglichte den Deutschen durch sein geschicktes Handeln die Reichseinigung. 

Auch im hohen Norden war der Wunsch nach nationaler Selbstbestimmung groß. Norwegen lebte seit über 500 Jahren entweder in einer Union mit den Schweden oder mit den Dänen. 1905 entschied sich Norwegen dann für die Unabhängigkeit und löste sich aus der schwedischen Personalunion. Nach dem ersten Weltkrieg zerfielen die Vielvölkerstaaten von Österreich-Ungarn und dem osmanischen Reich in ihre nationalen Einzelteile. Böhmen und Mähren, die seit 895 erst Teil des ostfränkischen Reiches, dann Teil des Heiligen Römischen Reich deutscher Nation und seit 1526 lebte Böhmen und Mähren in einer Personalunion mit den Habsburgern. Nichtsdestotrotz strebten die Tschechen seit Ende des 19. Jahrhunderts die nationale Souveränität an, die sie 1918 auch erreichen sollten.

Tschechien ist auch ein gutes Beispiel dafür, dass der Trend zur Selbstbestimmung und eher kleinen staatlichen Einheiten ungebrochen ist. Die Tschechoslowakei, die in Folge der Pariser Vorortverträge entstand, wurde 1993 wieder aufgelöst. Der Vielvölkerstaat Jugoslawien scheiterte und zerfiel in Folge eines blutigen Krieges. Spanien kämpft heute mit Autonomiebewegungen in Katalonien und Im Baskenland. In Belgien wollen die Wallonen nicht mit den Flamen in einem Verbund leben. Nachdem sich 1921 bereits Irland von Großbritanien abspaltete, gibt es Schottland rund 100 Jahre später dieselben Bestrebungen. Die heutige Lega-Partei entstand einst aus Unabhängigkeitsbestrebungen von Norditalien.

Wer also heute fordert, dass die Tschechen mit den Zyprioten in einem Staat leben sollen, obwohl die nicht einmal mit den ihnen sehr ähnlichen Slowaken zusammenleben, der rennt einer Utopie nach. Jürgen Habermas schreibt: „Die anhaltende politische Fragmentierung in der Welt und in Europa steht im Widerspruch zum systemischen Zusammenwachsen in einer multikulturellen Weltgesellschaft und blockiert Fortschritte verfassungsrechtlichen Zivilisierung der staatlichen und gesellschaftlichen Gewaltverhältnisse“.

Damit verkennt Habermas die Realität, denn Völker und Menschengruppen fühlen sich nicht aus objektiven Gründen zueinander zugehörig, sondern aus Gründen der Sprache der Ethnie und/oder gemeinsamen Geschichte. Und das wird sich auch nicht ändern, wenn sogenannte Intellektuelle dies für rückschrittlich und ewiggestrig halten.




Zukunft akut in Gefahr – wo sind die Klimakinder jetzt?

Von Selma Green |  „Hey, Hey – wer nicht hüpft, der ist für Kohle!“ Vor gerade einmal drei Jahren sprangen hunderte deutsche Schüler auf Straßen herum und schrien: „Kohleausstieg jetzt!“ Tja, jetzt sitzen die Grünen in der Regierung und verwirklichen genau diesen Traum. Das erwartbare Ergebnis dieser Träumerei kam noch schneller, als man erwartet hat:

Strompreise, die durch die Decke gehen, und keine sichere Energieversorgung für den Winter. Uns könnte sogar ein Blackout drohen – und da diskutiert  man allen Ernstes immer noch über die Laufzeitverlängerung der AKWs. Liebe Regierung – habt ihr vergessen, dass ihr dafür verantwortlich seid, im Wohle des Volkes zu handeln?

So scheint es zumindest, wenn man sich den ganzen Energiespar-Quatsch anschaut – der soll jetzt ernsthaft die Lösung der Energiekrise sein. Statt AKWs am Netz zu halten, sollen wir uns „Energiespar-Duschköpfe“ zulegen, wie Habecks Wirtschafts- und Klimaministerium überall plakatiert. Unsere Regierung will laut einem neuen Entwurf von Anfang September bis Ende Februar, dafür sorgen, dass es überall kalt und dunkel wird. Denkmäler und Gebäude sollen nicht mehr beleuchtet werden, es gibt kein warmes Wasser oder Temperaturen über 19 Grad mehr in öffentlichen Gebäuden und die Werbeanlagen dürfen von 22 bis 6 Uhr nicht mehr leuchten. Durchgänge wie Flure und Foyers sollen nicht mehr beheizt werden und Türen im Einzelhandel geschlossen bleiben. Und jetzt denken Sie ja nicht, dass Sie in Zukunft zumindest noch private Pools beheizen dürfen.

Wir sollen im dunklen frieren, um das Ziel zu erreichen bis zum Frühjahr 2023 20 Prozent der Energie einzusparen. Das kündigte genau der Robert Habeck an, der sich gegen eine Laufzeitverlängerung der AKWs aussprach. Das Volk soll eher frieren und sparen, bevor die Grünen sich eingestehen müssen, dass Deutschland ohne AKWs und Kohlekraftwerke aufgeschmissen ist. Die Freitage-für-die-Zukunft-Kinder werden bald hüpfen müssen, um sich warm zu halten.

Ihre Rufe nach einer guten Zukunft sind jetzt plötzlich verstummt. Komisch – sind sie jetzt nicht mehr dafür, dass wir eine Zukunft haben sollen? Ist es nicht gerade diese Energiepolitik, die unsere Zukunft zerstört? Ich will jedenfalls nicht wie ein Höhlenmensch leben müssen. Ich will auch nicht in der Schule oder zu Hause bei den Hausaufgaben frieren müssen.Was kommt in Wirklichkeit auf uns zu, wenn es zum Blackout kommt? Gewiss mehr als nur ein bisschen frieren, da hilft bestimmt auch kein Waschlappen. Aber ich will mir das gar nicht ausmalen, welches Elend uns erwarten könnte. Dazu bin ich zu jung. Aber auch ohne Blackout preschen die Strompreise jetzt schon so stark in die Höhe, dass es sich manche Bürger gar nicht mehr leisten können. Gerade im Winter ist genügend Energie lebenswichtig. Und der von den Grünen aufgetischte Plan zu sparen ist nichts weiter als ein schlechter Witz. Meine unmittelbare Zukunft ist jetzt akut in Gefahr – doch FFF und co. können sich wohl nur um eine ferne, hypothetische Zukunft sorgen, die auf unnahbaren, theoretischen Modellen dargestellt wird. 

Ernsthafte Lösungen sind gesucht, die uns aus der Krise holen. Aber so etwas gibt es offenbar in Deutschland nicht mehr. Wirkliche Lösungen sind out, man klebt nur noch Pflästerchen. Wenn dicke Löcher in den Straßen sind, dann werden sie nicht mehr repariert, sondern man stellt ein Schild auf: „Achtung Straßenschäden“, so läuft es überall.

Die Antwort der grünen Politiker zeigt, wie die Arroganz mit ihnen durchgeht und dass ihre Ideologie ihnen wichtiger als das Wohl des Volkes ist. Dazu passt der Satz von Marie Antoinett kurz vor der französischen Revolution, “Wenn sie kein Brot haben, dann sollen sie doch Kuchen essen”.

Und überhaupt: Früher oder später müssen wir uns an die AKWs wieder heranwagen, also warum nicht jetzt? Nicht der Klimawandel zerstört unsere Zukunft, nein es ist die grüne Energiepolitik und die grünen Politiker, denen wir egal sind.


Lichter aus für grüne Energiepolitik

Von Luca Tannek | Im Winter 2020/21 beschloss die damalige Bundesregierung unter CDU und SPD, dass erneut ein bundesweiter Lockdown in Kraft tritt. Einzelhändler, Gastwirte und Hoteliers mussten ihre Geschäfte dicht machen. Viele Geschäftsleute gingen Pleite, andere wiederum mussten sich hoch verschulden, um über die Runden zu kommen. Ein Alptraum für jeden Unternehmer. Zurück blieben nasse, kalte, und vor allem dunkle Straßen.

Solch eine Dunkelheit wird mit hoher Wahrscheinlichkeit diesen Winter ein Comeback feiern. Ab dem 1. September gilt nämlich die Energieeinsparverordnung. Das Bundeswirtschaftsministerium – geleitet von Bundesmisswirtschaftsminister Robert Habeck- will dem Einzelhandel vorschreiben , dass von 22 Uhr abends bis 6 Uhr morgens die Schaufenster nicht beleuchtet sein dürfen. Ebenso dürfen Türen und Fenster nicht dauerhaft geöffnet sein.

Diese Verordnung ist an Absurdität nicht fassen. Deutschland, die viertgrößte Volkswirtschaft weltweit, muss Energie sparen. Und warum? Weil Dank inkompetenter Regierungen weder eine sichere, noch eine kostengünstige Energieversorgung gewährleistet wurde. Das ist sie nun also, die „Energiewende“. Von Rot und Grün eingeleitet – und nun praktiziert.

Ob durch grüne Ideologie nun Strompreise explodieren, Deutschlands Straßen wegen fehlender Beleuchtung unsicherer werden, oder der Staat Unternehmer plötzlich zum Strom sparen nötigt, interessiert wohl nur den Normalbürger. Für Regierungsvertreter läuft alles nach Plan. Es ist ja fürs Gute, oder nicht? Weil wir wollen ja die Energiewende nicht aufgeben, nicht die bösen Atomkraftwerke anlassen. Es ist also gut, wenn Frauen mit mulmigem Gefühl nachts durch dunkle Straßen spazieren müssen. Es ist gut, wenn Einzelhändler nachts nicht für ihre Produkte werben können. Es ist gut, wenn düstere Straßen nicht mit Weihnachtsbeleuchtung geschmückt sind und Fußgänger beim Anblick einer beleuchteten Krippe kein hoffnungsvolles und warmes Gefühl bekommen.  

Wer das kritisiert, ist rechtsradikal. Oder Verschwörungstheoretiker. Oder gar beides. Mit dem GroKodil lernten wir bezüglich Covid-19 das Konzept „nationale Kraftanstrengung“ bereits kennen. Die Ampel setzt nun unsere trainierten Verzichts- und Bevormundungskompetenzen voraus. Also: Sollten Sie diesen Herbst zu später Stunde nach 22 Uhr einen Spaziergang unternehmen, vergessen Sie bitte nicht eine Taschenlampe. 


Deutsche Medien vs. amerikanische Realität – Ein Reisebericht

Von Johanna Beckmann | „Ein doppelter Lichtblick für die Welt“ und „Jetzt sind wir Futter für die Raubtiere“, dies sind Artikelüberschriften aus dem deutschen Magazin „DER SPIEGEL“. Ticken wirklich alle Amerikaner so? Wie viele der Menschen in Ohio denken, lernte ich in meinen diesjährigen Sommerurlaub. 

Dieses Jahr verbrachte ich zwei Wochen meiner Sommerferien auf einem Roadtrip durch Ohio. Und es war nicht so langweilig, wie man es von einem Bundesstaat, der zu 44 % aus Ackerland besteht, erwartet hätte. Natürlich war es nicht immer spannend, da oft nur Felder und vereinzelte Häuser von Farmern zu sehen waren, aber den Lebensstil und die Einstellungen der Menschen zu sehen war keines Wegs langweilig. Während ich im Auto saß, wurde mir der riesige Unterschied zwischen diesem einsamen Ort und Städten, wie zum Beispiel Washington DC erst so richtig bewusst. Mir wurde klar, wie unterschiedlich der Lebensstil eines Farmers, zu dem der Städter ist. Für mich war es unvorstellbar, dass in einem Land, Menschen leben deren Lebensstil sich wie Tag und Nacht unterscheidet. Dadurch, dass mir das Leben der Menschen in Ohio sehr abgeschottet vorkam, war ich ziemlich überrascht, als ich erfuhr, dass sogar einflussreiche Persönlichkeiten aus Ohio stammten, darunter sind sieben ehemalige US-Präsidenten, Neil Armstrong, Steven Spielberg und Thomas Edison. Aus dem einsamen Ohio kommen also nicht nur Farmer und die Menschen, die ich getroffen habe, stehen deswegen beispielhaft für Personengruppen, die es genau so in fast jedem Bundesstaat gibt.

Und trotzdem ist alles sehr weiträumig und wir konnten die langen Autofahrten nicht umgehen. Während dieser langen Fahrten erblickte ich am Straßenrand auf Feldern immer wieder große Trump Plakate. Schilder mit der Aufschrift „Trump 2024!“ schmückten auch Vorgärten und Scheunen. Meine Überraschung wurde vor allem davon hervorgerufen, dass ich in Deutschland immer wieder Artikel laß, die Überschriften, wie „Ein doppelter Lichtblick“ trugen. Einer dieser Lichtblicke soll Joe Biden sein. Vom benannten Lichtblick habe ich in den gesamten zwei Wochen kein einziges Plakat gesehen. Das verwunderte mich sehr. Ich wusste zwar, dass die Wahrnehmung von anderen Ländern auf die USA positiver geworden ist seit Biden regiert. Die Wahrnehmung hat sich laut der Spring 2021 Global Attitudes Survey sogar um 28 % verbessert. Wie die Amerikaner Biden wahrnehmen, wusste ich nicht.

Ist Biden für die Amerikaner auch ein Lichtblick? Und warum stellen sie so viele „Trump 2024!“-Schilder auf? Ohio hat zwar bei der letzen US- Wahl republikanisch gewählt, das kann aber keine Begründung, dafür sein, dass ich keine demokratischen Plakate gesehen habe, da Ohio einer der wichtigsten Swing States der USA ist. Von 1964 bis 2021 galt sogar der Spruch: „Wer Ohio gewinnt, gewinnt die US-Wahl. Seit 1964 wurde immer der Kandidat Präsident, der Ohio gewann, das galt aber nur bis Biden kam. Es würde sich daher sogar lohnen Werbung für die demokratische Partei zu machen, denn dort ist es nicht so wie in Utah, wo seit 1964 nicht mehr mehrheitlich demokratisch gewählt wurde. Dann fand ich heraus, dass laut einer Studie von GALLUP die US-amerikanische Bevölkerung nach 552 Tagen im Amt, Trumps Arbeit zu 41 % guthieß und Bidens nur zu 38 %. Das ist zwar ein sehr geringer Unterschied, dennoch würde Trump nach der aktuellsten Umfrage von Real Clear Politics eine erneute Wahl gegen Joe Biden sogar mit fünf Punkten Vorsprung gewinnen. Es könne also sein, dass Biden für die Amerikaner gar nicht der Lichtblick ist, für den wir Deutschen ihn halten und sie deswegen so viele Trump Plakate aufstellen. Außerdem ist sehr wahrscheinlich, dass ich die gleichen Beobachtungen auch in anderen Staaten hätte machen können.

 Da die Amerikaner Meister im Plakate aufstellen und politische Statements nach außen tragen sind, begegneten mir auf den langen Autofahrten nicht nur Trump Plakate, sondern auch sehr viele Schilder mit der Aufschrift „Choose Life!“. Zuerst nahm ich die Plakate nur wahr und verglich sie mit den Artikeln, die ich in Deutschland sah, wie zum Beispiel „Jetzt sind wir Futter für die Raubtiere.“, aus dem Magazin „DER SPIEGEL“. Im Spiegel-Artikel wurde die Entscheidung des obersten Gerichtshofs ein früheres Urteil, dass ein Recht auf Abtreibung eingeführt hatte, wieder zu kippen durch interviewte Frauen aus Texas kritisiert.

Als ich dann ein Museum besichtigte, in dem Menschen, die in der Bibel thematisierte Arche Noah nachgebaut hatten, begann ich über das Thema nachzudenken. Ich fand es verwunderlich, dass die Menschen Pro Life Oberteile trugen und man diese auch erwerben konnte. Ich staunte, dass sie weder komisch noch überhaupt besonders angeguckt wurden. In Deutschland wäre das undenkbar. Und dann als ich gerade das Museum verlassen wollten, erfuhr ich von einem Konzert der „3 Heath Brothers“. Ich beschloss, dort hinzugehen. Die „3 Heath Brothers“ sind drei Jugendliche, die christliche Musik spielen. Als ich in den Saal kam, der mehr Sitzplätze als eine durchschnittliche Kirche in Deutschland hatte, war es voll und ich bekam einen Platz in der vorletzten Reihe. Ich war selbst schon oft in Gottesdiensten, aber den Enthusiasmus der amerikanischen Christen sucht man in Deutschland vergebens. Um so spannender wurde es als der Titel „We choose life“ gespielt wurde. In dem Lied ging es darum, dass die Sänger finden, dass Abtreibung nicht richtig ist. Die Menschen standen auf, hoben ihre Hände und am Schluss bejubelten sie die Sänger sehr laut.

Es war keine kleine Menschenmenge, es waren mehr als es in meiner Gemeinde Gottesdienstgänger gibt. Bevor ich das erlebte war mir nicht klar, wie viele Menschen dem obersten Gerichtshof mit der Entscheidung das Abtreibungsgesetz zu kippen zu stimmten. Die klatschenden Frauen sahen glücklich aus und keines Wegs, wie das Futter von Raubtieren. Ich bin sehr dankbar dafür, dass ich diese Erfahrung machen durfte und dennoch stand ich nicht und riss auch nicht meine Arme nach oben. Ich wollte es zu diesem Zeitpunkt nicht und möchte mich auch immer noch nicht zu diesem sehr schwierigen Thema positionieren. Ich finde aber, dass in den deutschen Medien nicht vergessen werden darf, dass es Menschen gibt und das nicht wenige, die der Entscheidung des obersten Gerichtshofs zustimmen.

Es ticken also nicht alle Menschen so wie in „DER SPIEGEL“ thematisiert und einige dieser Menschen habe ich während meines Sommerurlaubs getroffen. Überraschend fand ich eher weniger, dass es die Menschen gibt, die nicht so ticken, wie die deutschen Medien. Was mich überraschte, war die Vielzahl dieser Menschen. Das zu lernen wäre für mich in den deutschen Medien fast unmöglich gewesen, da die Berichterstattung in Deutschland sehr einseitig ist. Es gibt zum Beispiel das Interview mit der Texanerin, die sich als Futter für die Raubtiere betitelt, aber gibt es im Magazin „Der Spiegel“ auch ein Interview mit einer Frau, die glücklich über die Entscheidung des obersten Gerichts ist. Nein! Man sollte nicht erst in die USA reisen oder amerikanische Medien zur Hilfe nehmen müssen, um die amerikanische Realität kennenzulernen. Ich würde mir wünschen, dass wir dafür Gebrauch von den deutschen Medien machen können.

 


 Stromausfall auf Korfu oder: Wie man eine Apokalypse plant

Von Larissa Fußer | Mein Handyladung stand auf 10 Prozent. Das Nachrichtenlesen auf unser griechischen Sonnenterasse hatte mir meinen Akku leergesaugt – genervt suchte ich nach meinem Aufladekabel und steckte schließlich mein Handy an die weiße Vorrichtung. Nichts. Hatte sich Sand in meinem Ladezugang angesammelt? Konnte eigentlich nicht sein, wir haben hier ja Kiesstrand. Ideenlos pustete ich trotzdem auf die Unterseite meins Handys. Doch es fing immer noch nicht an zu laden. Jetzt war ich langsam genervt. Ein Wechsel der Steckdose, ein anderes Ladekabel, ein Neustart des Handys – nichts half. Als ich schließlich einigermaßen gereizt den Kühlschrank öffnete, um mir einen Saft zu holen, stockte ich. Im Kühlschrank war das Licht aus und er kühlte auch kaum noch. Ich lief zu verschiedenen Lichtschaltern im Apartment und versuchte, sie anzuschalten. Nada. Kein Strom. Nirgends. Da ging mir ein Licht auf beziehungsweise aus: Wir hatten einen Stromausfall.

Es war nicht der erste. Schon zwei mal hatten in den letzten Tagen die Cafébesitzer am Strand plötzlich nur noch Salate statt Buletten verkauft, weil ihnen für ein paar Stunden der Strom fehlte. Abends, wenn ich vom Strand zurück in den Ort lief, war aber immer wieder alles normal gewesen. Nun erlebte ich den Stromausfall zum ersten Mal abseits des Strands. Mürrisch putze ich mir in einem stockdüsteren Bad die Zähne und schloss mein Handy an die Powerbank an. Das funktionierte dann. 

Auf dem Weg zum Strand ging ich in einen kleinen Supermarkt, um mir Essen zu kaufen und sah die griechische Ladenbesitzerin schimpfend mit Verlängerungskabeln hantieren. Als sie schließlich zwei Kabel zusammensteckte ging das Licht im Laden und in den Kühlregalen wieder an. Offenbar hatten die Supermärkte Notstromaggregate. Anklagend hob die alte Griechin die Arme in die Höhe. Ich versuchte ihr auf Englisch zu sagen, dass bei uns auch der Strom ausgefallen war. Sie hob kurz den Kopf, um mich anzusehen, dann aber kam ein alter Grieche in den Laden, auf den sie sich sofort schimpfend stürzte.

Ich verließ den Supermarkt und ging ein paar Meter weiter in ein Reisebüro, das nur deshalb nicht komplett dunkel war, weil durch die große Glasfassade noch genug Licht fiel. „What’s going on?“, fragte ich den Herren am Schalter. Aufgebracht erzählte er mir, dass es diesen Sommer ständig Stromausfälle gebe. Die Ursachen seien nicht ganz klar. Man munkle, dass ein Brand im Nachbarort Schuld sei, er halte von dieser Theorie aber nichts. „Früher gab es hier sowas nie“, sagte er. „Ich kann nicht arbeiten, ich habe kein WLAN, selbst das mobile Internet funktioniert nicht mehr richtig.“ Wütend deutete er auf seinen schwarzen Computerbildschirm. „Meistens werden wir vorher angerufen, wenn sie den Strom cutten. Dann sagen sie, es muss was repariert werden, deswegen gibt es morgen zwischen 8:00 und 13:00 Uhr keinen Strom. Aber heute wurden wir überrascht.“ Er telefoniere schon den ganzen Tag herum, um zu erfahren, was los sei, aber niemand wisse was. Deswegen könne er mir leider überhaupt nicht helfen.

So langsam machte sich ein mulmiges Gefühl in meiner Magengegend breit. Als ich wieder auf die Straße ging und in Richtung Meer spazierte, sah ich über die ganze Strecke nur dunkle Läden. Überall schlugen Griechen die Hände über dem Kopf zusammen, schimpften und telefonierten. Der Strom war offenbar im ganzen Ort futsch. Meine Hand bewegte sich zum Handy in meiner Tasche, das immer noch an der Powerbank hing. Für ein bis zwei Handyladungen würde der Akku noch reichen, dann aber war Sense. Kurz flackerte die Angst in meinem Bauch auf. Erwartet uns so etwas demnächst auch in Deutschland? Hier in Griechenland ist es ja immerhin warm und die Supermärkte sind offenbar an Stromausfälle angepasst – doch was mach ich denn im Dezember in Berlin?

Ein paar Momente später saß ich mit meinen Freundinnen im Strandcafé. Bei einem griechischen Salat planten wir die Apokalypse. „Wir müssen einfach schnell sein“, sagte meine eine Freundin. „Am besten buchen wir sofort ein Flugticket – solange unsere Handyladung das noch mitmacht.“ „Aber funktionierten die Flughäfen überhaupt noch ohne Strom?“, fragte die andere. Kurz guckten wir uns starr an. „Dann fahren wir halt Auto, das Benzin reicht bis nach Polen – und da gibt’s wieder Strom“, sagte ich. „Die Idee werden auch andere haben“, merkte eine Freundin an. „Wir sollten dann unbedingt Schleichwege nehmen.“ Mir war zum Lachen und Weinen gleichzeitig zumute. 

„Wir werden dann Krisenberichterstatter“, sagte meine Apollo Kollegin Pauline später zu mir, als wir vom Strand in den Himmel blinkten. „Ja“, schmunzelte ich. „Aber von Malle aus. Wir können dann ja Drohnen nach Berlin schicken und uns die Lage per Video ansehen. Das wird schon.“ Nach fünf Stunden kam der Strom zurück. Die Apokalypse war vorerst aufgeschoben. 


Meine Reise durch Dunkeldeutschland

Von Leon Hendryk | Als verantwortlicher Bürger dieses Landes konsumiere ich ausschließlich unsere deutschen Qualitätsmedien. Qualitätsmedien sind die Medien, die dafür sorgen, dass der Zuschauer oder Leser immer die richtige Meinung hat und niemals die falsche. Falsche Meinungen sind nämlich gefährlich. Nur was von unserem öffentlich-rechtlichen Rundfunk und den anderen großen Mainstreammedien veröffentlicht wird, kann uneingeschränkt Glauben geschenkt werden. Alle anderen Medien sind hingegen gefüllt mit rechten Verschwörungstheorien und sonstigen dummdreisten Unwahrheiten. Woher ich das weiß, obwohl ich sie gar nicht lese? Na, aus unseren Qualitätsmedien natürlich!

Die Qualitätsmedien leisten einen wichtigen Beitrag zum Schutz der Demokratie des besten Deutschlands aller Zeiten. Als Westdeutscher lebe ich in diesem besten Deutschland aller Zeiten und bin sehr froh, dass meine Demokratie geschützt wird. Denn leider gibt es auch noch ein anderes Deutschland: Dunkeldeutschland. Dunkeldeutschland, wie es unser ehemaliger Bundespräsident nannte, umfasst ganz Ostdeutschland, mit Ausnahme von Berlin, und ist ein erschreckender Ort. Bevölkert wird es von springerstiefeltragenden Nazihorden, die nicht nur dumm, sondern auch faul sind. Nachdem sie gegen elf Uhr morgens ihr Bett verlassen haben, gönnen sie sich ein paar Dosen Billigbier als Frühstück und fahren dann im Dieselauto zur nächsten Nazi-Demo, auf der sie lauthals „Ausländer raus!“ grölen. Warum sie dies tun ist mir nicht ganz klar. Schließlich soll es in Dunkeldeutschland ohnehin keine Ausländer geben, denn auf diese werden regelmäßige Hetzjagden veranstaltet, so wie etwa in Chemnitz. Woher ich all das weiß, obwohl ich dort noch nie war? Na, aus unseren Qualitätsmedien natürlich!

 

Trotz all dem hatte ich den Entschluss gefasst, dieses mir fremde Land einmal zu bereisen. Das 9-Euro Ticket bot mir daher die perfekte Gelegenheit den „braunen Sumpf“, wie Vice Dunkeldeutschland in einem Artikel nannte, zu besuchen. Vice nimmt es zwar mit der journalistischen Qualität eigentlich nicht so genau, ist aber sehr links und deshalb ohne Zweifel ein Qualitätsmedium, zu dem ich vollstes Vertrauen habe. Im gleichen Artikel wurde vor „Horden von Glatzköpfen, die durch ostdeutsche Kleinstädte marschieren“ gewarnt. Ein bisschen mulmig war es mir nach dieser Beschreibung schon, aber ich nahm all meinen Mut zusammen als ich an diesem Tag in die erste von vielen überfüllten Regionalbahnen stieg und mich in Richtung Osten aufmachte. Allzu schlimm würde es schon nicht werden. Vielleicht wäre es mir sogar möglich den ein oder anderen Dunkeldeutschen zu den Qualitätsmedien zu „bekehren“. Möglicherwiese könnte ich sie sogar davon überzeugen, die „Zeit“ zu abonnieren. Konnten Dunkeldeutsche eigentlich überhaupt lesen? Nun ja, ich würde es herausfinden.

 

Die ersten Tage meiner Reise verbrachte ich in Gotha, einer schmucken Kleinstadt im Westen Thüringens. Trotz ihrer relativ geringen Bevölkerungszahl hat Gotha eine große Geschichte als ehemalige Residenzstadt. Selbst das englische Königshaus hat Vorfahren aus Gotha und trug bis 1917 noch den Titel „von Sachsen-Coburg und Gotha“.
Was mich wunderte, als ich am frühen Abend vom Bahnhof kommend durch Gotha schlenderte war, dass ich nirgendwo braune Horden erblicken konnte, die samt Baseball-Schlägern und Hakenkreuzflaggen über das mittelalterliche Kopfsteinpflaster marschierten. Lediglich ein paar andere Touristen irrten wie ich in der fast leeren Innenstadt herum, während sich eine uralte Straßenbahn rumpelnd und quietschend die Hauptstraße entlang schob. „Nun ja, vielleicht sitzen die Nazis gerade in einer heruntergekommenen Kneipe am Stammtisch und versaufen ihr Arbeitslosengeld“, dachte ich mir. Stammtische, das hatte ich in den Qualitätsmedien gelernt, sind Orte in denen sich „das Pack“ (frei nach Sigmar Gabriel) abends versammelt und gegen Ausländer, Frauen und andere Minderheiten hetzt.

 

 

Die frühere Bedeutung der einstigen Residenzstadt lässt sich an der Architektur Gothas noch erahnen

Seltsamerweise konnte ich auch in den kommenden Tagen keine Nazis in Gotha entdecken. Ganz im Gegenteil, die Menschen in Gotha sahen eigentlich ganz normal aus und waren freundlich und zuvorkommend. Als ich eines Abends an einer großen Gruppe junger Afrikaner vorbeiging die sich, dem Geruch nach zu urteilen, gerade ein paar Joints widmeten während sie mich mit feindseligen Blicken musterten, fühlte ich mich sogar fast wie zuhause im Westen. Wie konnte es sein, dass diese Fachkräfte noch keiner Hetzjagd zum Opfer gefallen waren? Vielleicht war Gotha einfach die Ausnahme, sozusagen ein heller Fleck mitten in Dunkeldeutschland. Und das, obwohl in Gotha ein AfD Politiker als Direktkandidat in den Bundestag gewählt worden war. Verwundert und fast ein wenig enttäuscht machte ich mich einige Tage später auf den Weg nach Erfurt.

Ostdeutsches „Drei-Gänge-Menü“: Bockwurst, Brötchen, Senf – zum moderaten Preis

Erfurt ist nicht nur die Hauptstadt Thüringens und bekannt für seine malerische Altstadt, sondern auch Schauplatz des größten Tabubruchs der deutschen Geschichte seit 1945. Jeder, der regelmäßig unseren Qualitätsmedien folgt weiß jetzt natürlich wovon ich rede: Der Wahl von Thomas Kemmerich zum Ministerpräsidenten. Dieser war zwar FDP Politiker, hatte aber alles Ernstes die Dreistigkeit besessen, sich von der AfD mitwählen zu lassen. Der „Skinhead Kemmerich“ (so die TAZ) hatte damit ganz klar rote Linien überschritten. Wo kämen wir denn hin, wenn Politiker einfach so Wahlen annehmen, ohne ihre Wähler davor einen Gesinnungstest zu unterziehen? Demokratie bedeutet schließlich Herrschaft des Volkes, nicht Herrschaft des rechten Pöbels.

Der „Anger“ im Zentrum von Erfurt.

Glücklicherweise ließ Angela Merkel, die beste Kanzlerin die das beste Deutschland aller Zeiten je hatte, die Wahl kurzerhand rückgängig machen und rettete so unsere Demokratie. Dadurch wurde wieder ein echter Menschenfreund zum Ministerpräsidenten, nämlich Bodo Ramelow. Der stammt aus einer absolut demokratischen Partei, genauer gesagt der Linken. Früher hieß die Linke mal PDS und davor „Sozialistische Einheitspartei Deutschlands“, kurz SED. Ramelows Partei hatte früher die Menschen in Ostdeutschland, noch bevor es Dunkeldeutschland hieß, durch einen antifaschistischen Schutzwall vor widerlichem Nazi-Gedankengut geschützt. Gut, dass so jemand nun wieder an der Spitze des Staates Thüringen steht!

Juri-Gagarin-Denkmal in Erfurt: Die sozialistische Vergangenheit der Stadt ist an vielen Ecken noch sichtbar

Vermutlich war es Bodo Ramelow und seinen edlen Regierungsgenossen aus SPD und Grünen auch zu verdanken, dass ich in Erfurt nicht einen einzigen grölenden Neonazi zu Gesicht bekam. Selbst als ich mich für einen Tagestrip aus der Stadt wagte, um das südlich von Erfurt gelegene Freilichtmuseum Hohenfelden zu besuchen, konnte ich keine derartigen Umtriebe entdecken. In meiner lokalen Tageszeitung, einem echten Qualitätsmedium, hatte ich allerdings gelesen, dass der Osten „abgehängt und verunsichert“ sei und die Menschen dort oft arbeits- und perspektivlos. Wo, wenn nicht in der thüringischen Provinz würde ich dies nun endlich beobachten können? Leider wurden meine Hoffnungen, in Ruinen hausende und nach Bier stinkende Hartz-4-Ossis zu Gesicht zu bekommen, bitterlich enttäuscht. Stattdessen, schaukelte sich der Linienbus, der mich durch das ländliche Dunkeldeutschland beförderte, durch schöne Dörfer voller gepflegter Einfamilienhäuser.

Historie statt Hetzjagden, Idylle statt „IB“: Das Freilichtmuseum Hohenfelden

Ich muss schon sagen, dass mich diese Reise bis jetzt ein wenig irritiert hatte. Nichts von alldem was ich über Dunkeldeutschland gelernt hatte schien zu stimmen. Konnte es etwa sein, dass die Qualitätsmedien mich belogen hatten? „Nein!“ sagte ich mir schnell und erschrak, dass mir dieser Gedanke überhaupt in den Sinn gekommen war. Möglicherweise hatte Dunkeldeutschland schon auf mich abgefärbt? Medienkritik war bekanntlich rechts, und so gesehen war schon der Gedanke die Unfehlbarkeit unserer Qualitätsmedien in Frage zu stellen, ein erster Schritt auf dem Weg ins Vierte Reich.

 

Mir gruselte es davor, doch es blieb mir nur ein Weg um endlich die glatzköpfigen Nazi-Horden zu finden die mir in den Qualitätsmedien versprochen wurden. Ich musste in den dunkelsten Teil Dunkeldeutschlands, das „Herz der Finsternis“ um es in den Worten von Joseph Conrad zu sagen. Nach Sachsen. Und nicht irgendwo in Sachsen, sondern nach Bautzen. Bautzen ist als Stadt nicht nur für ihren Senf und ihr ehemaliges Stasi-Gefängnis bekannt, sondern wurde vom ARD Monitor kürzlich als „Hochburg der Verschwörungsmythen“ bezeichnet. Gemeint sind dabei natürlich die Verschwörungsmythen der Corona-Leugner, die ihrerseits moralisch so in etwa zwischen Klima- und Holocaust-Leugnern rangieren, wie ich aus anderen Sendungen unserer Qualitätsmedien wusste. Es musste sich also um eine durch und durch rechtsextreme und wahrscheinlich völlig verwahrloste Stadt handeln.

 

Der Leser kann sich also meine Enttäuschung vorstellen, als ich in Bautzen ankam. Nicht ein einziger Neonazi lief mir über den Weg, als ich mir meinen Weg durch die baumgesäumte Hauptstraße in Richtung Stadtzentrum bahnte. Versteckten sich die Nazis vor mir? Gab es möglicherweise zwei Bautzens in Deutschland und ich war mit meinem 9-Euro Ticket ausversehen ins falsche gefahren? Doch nein, ein kurzer Blick auf Google Maps bestätigte meine Befürchtungen. Ich war tatsächlich im sächsischen Bautzen, dem Herz der dunkeldeutschen Finsternis (die seltsamerweise gar nicht so finster war).

Von wegen postkommunistische Tristesse: Im Zentrum Bautzens mischen sich historische Bauten mit moderner Architektur

Was mir am nächsten Morgen auffiel war, wie sauber die Stadt war. Und dies, obwohl in Bautzen laut Wikipedia nur 3% der Einwohner keine deutschen Staatsbürger waren. Ich hatte in den Qualitätsmedien gelernt, dass großangelegte Migration für das Überleben Deutschlands absolut notwendig war. Schließlich brauchte man fleißige Ausländer, die die Jobs erledigen, die faule Deutsche nicht machen wollen, zum Beispiel Müllwerker. Wobei ich mich dabei fragte, wie es möglich war, dass in Deutschland vor dem Beginn der ersten Einwanderungswellen in den 1960er Jahren überhaupt irgendetwas funktioniert hatte? Oh nein, da waren sie wieder die Zweifel am System! Schnell öffnete ich die ZDF-Mediathek App, und schaute mir eine Folge der Heute-Show an. Dabei konnte ich förmlich fühlen wie mein IQ sank und das Vertrauen in die Qualitätsmedien wieder stieg. „So“, dachte ich mir, „irgendwo in dieser Stadt wird doch ein verdammter Nazi zu finden sein!“ und begann Bautzen systematisch zu durchkämmen.

 

Ich startete mit der Altstadt – schön war es ja, dieses Bautzen, aber eigentlich war ich auf der Suche nach Nazi-Mobs vor verfallenden Plattenbauten. Doch die Passanten die durch das idyllische Stadtzentrum Bautzen schlenderten sahen ganz und gar nicht nach arbeitslosen Wutbürgern aus. Trotzdem beschloss ich zwei von ihnen anzusprechen und zu fragen wann denn die nächste Hetzjagd stattfinden würde. „Hetzjagd?“ erwiderten sie mit fragendem Gesichtsausdruck. „Naja, auf Ausländer, so wie in Chemnitz“ führte ich weiter aus und sah wie sich der Gesichtsausdruck meines Gegenübers ins ungläubige veränderte. „Ich hoffe, dass sie das nicht ernst meinen…“ sagte der Herr mit dem ich sprach, während seine Frau neben ihm energisch nickte. Auch ich war nun verwirrt. Am leichten Sächseln in der Stimme der beiden hatte ich erkannt, dass es sich um Einheimische handeln musste. Warum taten sie so, als gäbe es nicht mindestens ab und zu mal eine Hetzjagd in Bautzen? Was ging hier eigentlich vor sich? Machte sich irgendjemand ein Spiel daraus, mich zu täuschen? War ich in eine Folge der Sendung „Verstehen Sie Spaß?“ geraten?

Innerstädtische Idylle: Die Altstadt Bautzens ist aufwendig restauriert

Ich war in der dunkelsten Stadt Dunkeldeutschlands, und alles schien ganz normal. Die Straßen waren sauber, die Menschen freundlich und gut gekleidet, in den Cafés tranken die Einheimischen tatsächlich Kaffee und kein Dosenbier. Nicht einmal eine einzige Hakenkreuzschmiererei war an den Gebäuden zu entdecken. Vielleicht hatte die Corona-Epidemie einfach allen Nazis und Verschwörungstheoretikern den Gar ausgemacht? Schließlich war in den Kommentarspalten der Qualitätsmedien schon lange unverhohlene Freude darüber geäußert worden, dass sich die ungeimpften „AfD-Wähler und Covidioten“ durch ihre Impfverweigerung nun allesamt selbst ausrotten würden. Aber auch das konnte kaum sein, denn noch vor wenigen Monaten hatte die AfD hier fast 34% der Stimmen bei der Bundestagswahl erzielt.

Nazipropaganda gefunden! Na gut, historisch eingeordnet im Museum.

Es war zum Verzweifeln. Ich war doch nicht nach Dunkeldeutschland gereist, um auf romantischen Marktplätzen Pizza zu essen und barocke Kirchen zu besichtigen. Ich war hier um mein Überlegenheitsgefühl gegenüber den Dunkeldeutschen zu bestätigen. Warum war hier alles so normal? Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich fast denken, dass Dunkeldeutschland eigentlich gar nicht so dunkel ist. Möglicherweise konnte ich als privilegierter weißer Mann aber einfach nicht erkennen, wie schlecht es wirklich um Dunkeldeutschland bestellt war. Ich nahm mir vor, sobald wie möglich ein paar Dokumentationen der Qualitätsmedien über „White Privilege“ zu schauen und schämte mich innerlich. Auf der anderen Seite – konnte meine Sicht auf die Realität überhaupt so verschoben sein? Am nächsten Tag beschloss ich frustriert, genug von Dunkeldeutschland gesehen zu haben und entschied mich meine Reise zu beenden. Es war schlimm genug, dass die Reise mein westdeutsches Überlegenheitsgefühl ins Wanken gebracht hatte. Jetzt auch noch mein Vertrauen in die Qualitätsmedien zu verlieren kam gar nicht in Frage. Es würde mein gesamtes Weltbild in Frage stellen, denn andere Informationsquellen hatte ich nie genutzt. Und, seien wir mal ehrlich – was war wahrscheinlicher: Dass sich 46.000 Mitarbeiter des öffentlich-rechtlichen Rundfunks irren, oder dass ich mich irrte?

Außerdem war da noch eine Sache. Sollte ich öffentlich das Narrativ des Naziverseuchten Hetzjagd-Ostens anzweifeln, würde das wohl Konsequenzen für mich haben. Wer die Qualitätsmedien anzweifelte, wurde selbst zum Feind. Siehe Hans-Georg Maaßen. Denn, so hatte ich es oft gehört: Wer Nazis verharmloste, der war im Zweifel selbst einer. Wobei ich ja gar nicht vorhatte sie zu verharmlosen, sondern nur keine gefunden hatte. Naja, egal. Im besten Deutschland aller Zeiten legt man sich besser nicht mit den Qualitätsmedien an.