Lachen oder weinen? – Wie ich die Wahl-Recherche erlebte

Von Pauline Schwarz | Das am Wahlsonntag in der Hauptstadt nicht alles rund laufen würde, war wohl jedem klar. Sonst wäre Berlin nicht Berlin – vom Marathon, bei dem schon unter normalen Umständen Chaos ausbricht, mal ganz abgesehen. Das was sich am großen Wahltag dann wirklich abspielte, übertraf meine schlimmsten Vorstellungen aber bei weitem. Als ich kurz nach der Wahl die Nachrichten las, war ich schon geschockt, doch erst jetzt blieb mir wirklich die Spucke weg. Ein Blick in die Wahlunterlagen offenbarte uns das ganze Ausmaß der Berliner Wahl-Katastrophe: schlechte Planung, Personalmangel, Überforderung, absolute Ahnungslosigkeit und sogar aktiver Wahlbetrug.

Für mich persönlich fing der große Wahltag in Berlin erstmal recht harmlos an. Ich ging morgens zu dem kleinen Kreuzberger Wahllokal bei uns um die Ecke und wartete mir -wie gewohnt, denn das war nicht meine erste Wahl- die Füße platt. Nach einer halben Stunde hatte ich es bis zur Eingangstür geschafft, als mein Handy klingelte – und mir zum ersten Mal bewusst wurde, dass es nicht überall so „rund lief“ wie bei uns. Eine Bekannte von mir meldete sich aufgebracht aus dem Prenzlauer Berg, wo sie schon seit einer gefühlten Ewigkeit auf den Einlass in das Wahllokal wartete. Unter den wütenden Leuten bei ihr in der Schlange kam das Gerücht auf, dass die Letzten abends nicht mehr wählen könnten, wenn das so weiter geht. Dass sowas wirklich möglich seien würde, habe ich bis zu diesem Moment nicht geglaubt – doch Berlin hat mir meine Naivität ausgetrieben und mich eines Besseren belehrt.

Im Laufe des Tages wurden aus immer mehr Wahllokalen und verschiedenen Bezirken extreme Schlangen und Wartezeiten von mehreren Stunden gemeldet. Doch das war noch nicht alles. In mehreren Wahllokalen gingen die Stimmzettel aus, während in anderen falsche Wahlunterlagen für Unruhe sorgten und zum Teil unbedacht oder unbemerkt an die Bürger ausgegeben wurden. Neue Stimmzettel zu besorgen war aufgrund des Marathons quasi unmöglich. Am Peak der Verzweiflung versuchten Wahlhelfer mit dem Taxi oder auf dem Fahrrad neue Stimmzettel zu holen, während man in Kreuzberg den Kopierer anschmiss. Einige Wahllokale mussten über Stunden den Laden dicht machen und die Wahl unterbrechen, weshalb zahlreiche Bürger noch weit nach 18 Uhr in den Schlangen standen – zu einer Zeit, als die ersten Hochrechnungen schon veröffentlicht wurden.

Die Meldungen über Wahlpannen rissen auch Wochen nach dem Wahltag nicht ab, im Gegenteil: Es kam immer mehr ans Licht. Von nicht gekennzeichneten Schätzungen, die als Auszählungs-Ergebnisse veröffentlicht wurden bis zur Wahl Minderjähriger oder Stimmzetteln im Müll hinterm Rathaus. Bis jetzt blieb das alles aber abstrakt und anekdotisch – umso aufgeregter war ich, als wir es schafften uns exklusiv, als Erste und Einzige, einen Blick in die Berge von Wahlunterlagen zu erkämpfen. Mit einem zehnköpfigen Team arbeiteten wir ab sofort daran, das Geheimnis – oder besser: den Skandal – der Berlin-Wahl aufzudecken. Da saßen wir nun, zwischen riesigen Aktenbergen, im Herzen des Berliner Verfassungsgerichts und konnten gar nicht glauben, was sich vor uns für Abgründe auftaten. In den Zeilen der krakeligen Protokolle, die teilweise zerknüllt, teilweise unvollständig waren, stand all das geschrieben, was schon zuvor berichtete wurde – und vieles mehr. Wirklich erschreckend war aber vor allem die Dimension des Ganzen. In Kreuzberg waren in der Hälfte aller Wahllokal, die ich innerhalb von vier Stunden durchging, Stimmen ungültig, weil man den Leuten Stimmzettel aus Charlottenburg-Wilmersdorf gegeben hatte. In einem waren sogar ein Fünftel aller Stimmen ungültig. Es wurden über hundert Leute um ihr Wahlrecht betrogen – direkt bei mir um die Ecke – das hätte auch mein Wahllokal seien können.

Bei einer Akte war ich so fassungslos, dass ich meinen Apollo-Kumpel Jerome als Augenzeugen rekrutieren musste – damit er mir sagt, dass ich mir das alles nicht einbilde. Da stand doch tatsächlich, dass die Wahlhelfer vom Bezirkswahlamt die Anweisung bekommen hatten, mit den falschen Stimmzetteln aus Charlottenburg-Wilmersdorf fortzufahren. Zwei Stunden später gabs dann die Information: Kommando zurück. Alles ungültig – 82 ahnungslose Bürger verloren ihre Stimmen, nur drei kamen von sich aus zurück und konnten neu wählen. Dafür war direkt und ohne Zweifel das Bezirksamt verantwortlich, es hatte selbst dafür gesorgt, dass die Wahl irregulär weitergeführt und verfälscht wird. Während ich mir vor Fassungslosigkeit das Lachen kaum verkneifen konnte, rätselten wir im Team inzwischen darüber, was es mit dem roten Korrekturstift auf den Kreuzberger Wahlunterlagen auf sich hatte. Nach der ersten Auswertung wurde klar: Hier wurden eine beträchtliche Anzahl ungültiger Stimmen von Zauberhand wieder für gültig erklärt – organisierte sich das traditionell rot-grüne Kreuzberg so allen Ernstes ein paar zusätzliche Stimmen? Oder war es Vertuschung?

Zunächst hatten wir nur eine Ahnung, aber noch keinen Überblick. Wir wurden von der Masse an Unterlagen, Fehlern und Wahlverfälschungen in allen Berliner Bezirken völlig überflutet. Die Arbeit – bei der wir uns ständig den misstrauischen und nicht grade wohlwollenden Blicken der Mitarbeiter des Gerichts aussetzen mussten – war verdammt anstrengend und nicht gerade spaßig, trotzdem machten wir unermüdlich weiter. Denn: Jeder von uns hatte schon nach kurzer Zeit Blut geleckt. Wir waren sauer und schockiert. Obwohl wir alle schon vorher wussten, dass es viele Pannen gab, wurde das Ausmaß erst jetzt richtig klar. Jetzt war die Wahl-Katastrophe real, wir konnten sie sehen – sie lag vor uns auf dem Tisch. Ich fühlte mich zunehmend um mein Wahlrecht betrogen und fragte mich die ganze Zeit, ob meine Stimme auch für ungültig erklärt wurde. Und so ging es nicht nur mir. Wir waren uns alle einig: Die Wahl muss wiederholt werden – alles andere wäre nicht rechtens.


Eindrücke zur Berlinwahl-Recherche: drei Autoren erzählen

Selma (16):


Am Dienstagmorgen, den 17. Mai, trottete ich nicht, wie sonst, zur Schule. Nein, an dem Tag marschierte ich zum Kammergericht in Berlin. Ich ließ 8 Schulstunden und einen Mathetest sausen und setzte mich vor sieben Ordner, mit je 500 Seiten. Haben sie schon mal 4000 Seiten am Stück fotografiert? Kamera nach links: klick!, Kamera nach rechts: klick!, umblättern, Kamera nach links: klick!, Kamera nach rechts…so ging es weiter, für neun Stunden. Nun, es war der Sinn der Sache, der mich antrieb, all diese Seiten zu fotografieren: Es geht schließlich um unsere Demokratie! Außerdem: bei der Arbeit, so dumpf sie auch klingt, gab es doch eine gewisse Spannung, denn jedes zweite Wahllokal hatte eine andere Story über eine Wahlpanne zu bieten. Neun Stunden lang arbeitete ich mich durch die Wahlunterlagen der Berlinwahl und habe alles mögliche gesehen: Protokolle auf blankem Papier, auf gelbem Papier und sogar auf einem Stück Pappe! Wahlhelfer, die kein Deutsch können, Wahlhelfer, die Leute zwei Mal wählen lassen und Wahlhelfer, die nicht verstanden haben, was sie da ausfüllen. Nicht zu fassen wie mit dieser Wahl umgegangen wird. Ich bin vielleicht erst 16 Jahre alt und war noch nie an einer Wahl beteiligt, doch selbst ich rieche, dass da was faul ist.


Laura (19):


Zwei Tage der letzten Woche verbrachte ich im Kammergericht Berlin, zwischen Kisten und Aktenstapeln, mit dem Handy in der Hand, Fotos knipsend. Statt in die Uni zu gehen, habe ich mich durch die Wahlunterlagen von Neukölln und Lichtenberg gearbeitet. Wir haben teilweise stillschweigend, konzentriert und stringent hintereinanderweg ein Foto nach dem anderen gemacht. Die Zusammenarbeit der beiden Tagen hat mich besonders beeindruckt. Anders wären diese Aktenmengen auch nicht zu bewältigen gewesen. Wir wussten stets, wie viel noch zu schaffen ist, wer welchen Bezirk gerade bearbeitet und welche Daten noch übertragen werden müssen. So trocken, wie diese Fleißarbeit klingt, hat sie doch auch sehr lustige Momente geboten. So machten wir immer wieder unterhaltsamen Entdeckungen, welche über amüsante dokumentierte Zwischenfälle bis hin zu sympathischen anonymen Wählerbriefen reichten. Am Ende beider Tage fuhr ich mit einem wirklichen Erfolgsgefühl nach Hause. Wir haben gemeinsam, als Team, lange und konzentriert aus Überzeugung gearbeitet, in der Hoffnung, auf irgendetwas zu stoßen, das die Mühe wert wäre. Bei den Auswertungen der Unterlagen zu Hause wurden unsere Erwartungen schließlich sogar übertroffen. Dieses Teamwork zu erleben und jetzt zu sehen, dass sich unsere Fotosessions gelohnt haben, ist ein sehr gutes Gefühl.

 

Jonas (20):


In den vergangenen Wochen habe ich mich, wie viele meiner Kollegen bei Apollo News, durch die tausenden digitalisierten Ordnerseiten der Berliner Wahlen aus dem vergangenen Jahr geblättert. Unregelmäßigkeiten waren bei dieser Wahl keine Ausnahme, sondern der Regelfall. In so gut wie jedem Wahllokal ergaben sich hohe Differenzen zwischen den abgegebenen Wahlzetteln und den im offiziellen Verzeichnis eingetragenen Wählern, die in den meisten Fällen unaufgeklärt blieben. Zudem kam es in etlichen Fällen zur Ausgabe von vertauschten Wahlzetteln, die in vielen Wahlgebieten zur nachträglichen Ungültigkeit tausender abgegebener Stimmen führten. In anderen Wahlkreisen erklärte man diese ungültigen Stimmen dann im Nachhinein doch wieder für gültig, selbst wenn die auf dem Stimmzettel angegebenen Kandidaten überhaupt nicht in den von Verwechslungen betroffenen Wahlkreisen ansässig waren.
Ich ziehe daher folgendes Fazit aus der Auswertung dieser Unterlagen: die Wahlen in Berlin hatten nur wenig mit der demokratischen Legitimierung unserer Volksvertreter zu tun. Sie war unprofessionell, intransparent und für den Wähler verwirrend. Das vom Apollo-Team aufgedeckte Chaos in der Hauptstadt wäre vielleicht in einem jungdemokratischen Dritte-Welt-Land zu erwarten gewesen, nicht aber im „besten Deutschland, das es jemals gegeben hat“ (Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier). Es ist daher auch skandalös und keinesfalls nachvollziehbar, dass sich Oberbürgermeisterin Franziska Giffey (SPD) eigenen Angaben zufolge nicht als eine von „denen (sieht), die sich jetzt schon Gedanken über den nächsten Wahlkampf machen.“


Berlin-Wahl: Die Rechnung, von der der Berliner Senat nicht möchte, dass Sie sie verstehen

Seit nunmehr fast neun Monaten zieht sich der Streit um die Wahlpannen in Berlin hin. Und dem Senat ist etwas Unglaubliches gelungen: Eine eindeutig notwendige Wahlwiederholung vorerst zu verhindern und mindestens soweit hinauszuzögern, bis die öffentliche Aufregung zum Thema sich gelegt hat. Sie haben sich aus der Affäre gezogen – was eigentlich unmöglich schien.

 

Denn die Wahlpannen waren in Berlin so offenkundig mandatsrelevant, dass die Wahl eigentlich sofort hätte wiederholt werden müssen – entsprechende Eilanträge lagen vor. Doch der Berliner Senat behauptete dreist das Gegenteil – und am Endergebnis wurde so herumgedoktert, dass die Pannen an einer Stelle unsichtbar wurden. 1.969 Zweitstimmen in Berlin-Kreuzberg, die auf falschen Stimmzetteln abgegeben wurden, hätten eigentlich ausgereicht, um eine Wiederholung der Wahl sofort unausweichlich zu machen.

Aber diese Stimmen verschwanden einfach – zur Begründung wurde ein Labyrinth aus juristischen Verweisen und komplizierten Rechnungen aufgebaut, die diesem Vorgang einen legalen Anschein gaben. Das System ging auf, weil niemand wirklich nachhakte – jedenfalls nicht die zuständigen Stellen. Der Berliner Verfassungsgerichtshof zeigte wenig Interesse an einer Aufklärung, genau wie die CDU als Oppositionsführer – und auch die Presse beschränkte sich zumeist darauf, die Pannen anekdotisch zu wiederholen, statt eine präzise Aufklärung gezielt voranzutreiben.

Wir sind dem Berliner Senat für Tichys Einblick ins Labyrinth gefolgt und haben es durchquert: Doch die Schatztruhe in der Mitte ist leer. Die Legitimität des Berliner Abgeordnetenhauses fusst auf einem Schneeballsystem – und das festgestellte Endergebnis basiert am Ende auf einer erfundenen Rechnung und einer gezielten Täuschung des Wahlausschusses.

Damit steht auch fest: Eine Wahlwiederholung ist auch jetzt noch unumgänglich. Dass die Vorgänge neun Monate zurückliegen, ist indes kein Argument dagegen – schließlich wurde genau diese Verzögerung von den Verantwortlichen herbeigeführt.

Und jetzt? Jetzt müsste Aufklärung folgen. Doch wieder hat der Senat einen Verbündeten: Das große Desinteresse in weiten Teilen der medialen Öffentlichkeit. Scheinbar sind die Vorgänge zu kompliziert oder zu umständlich zu recherchieren, die eigene Zustimmung mit der aktuellen Koalition beherrschend, als dass man sich weiter damit beschäftigen wollte.

Daher haben wir es hier für alle noch einmal ganz einfach gemacht. Ist das etwas, über das man einfach hinweggehen kann und möchte?

Die ganze Recherche finden Sie hier auf Tichys Einblick. 

 


Unser Team erzählt von seiner Recherche zur Berlin-Wahl

Als in unserer Redaktion die Nachricht rumging, dass händeringend Leute für das Durchwühlen der Berliner Wahlakten gesucht werden, brauchte es nicht lange, bis sich alle Apollo-Autoren aus Berlin und Umgebung Tag für Tag dazu bereit erklären. Manche fünf Tage, manche nur einen – je nachdem wie das Studium, die Schule oder sonstige Termine es zuließen. Wir waren für Tichys Einblick unterwegs und stolz endlich wie richtige Journalisten an einem Projekt teilzuhaben, von dem nichts geringeres als die Basis der deutschen Demokratie abhängt. 

Stufe 1 war das Berliner Kammergericht, doch als wir da fertig waren, war es noch lange nicht vorbei. Stufe 2: die Auswertung. Hier kamen und kommen auch Autoren dazu, die nicht vor Ort sind. Zig Tausend Dateien wurden durchgeblickt, nach Besonderheiten und Unstimmigkeiten gesucht und Zahlenberge in Excel-Tabellen eingetragen. Alle größeren und relevanteren Pfunde wurden exklusiv auf Tichys Einblick veröffentlicht. Ohne TE hätten wir weder die Ressourcen, noch das Know How gehabt, um so eine Aktion durchzuziehen. Die Akteneinsicht hatten wir Marcel Luthe zu verdanken. Er ist den Unstimmigkeiten der Berliner Wahl schon seit dem ersten Tag auf den Grund gegangen und hat sich auch von nichts aufhalten lassen, weiter nachzuhaken. Das ganze Projekt ist also eine Teamarbeit. 

Wir haben alle zusammen gearbeitet, weil es hier um viel geht. Nicht nur eine große Story oder eine Möglichkeit sich zu profilieren, sondern das Recht eines jeden Bürgers in Deutschland, an den demokratischen Wahlen teilzunehmen. Dieses Recht wurde Hunderten Bürgern allein in Berlin – der Hauptstadt Deutschlands und das Herzstück der deutschen Politik – genommen. Einige scheinen das nicht so ganz verstanden zu haben. Neben der Berliner Zeitung, dem Tagesspiegel, der BZ auch die Welt am Sonntag – sie alle stellten es als ihre Recherche dar. Statt unserem Beispiel nachzufolgen und zusammen zuarbeiten, haben sie Tichys Einblick nicht zitiert. Während Wahlmanipulation und Verstrickungen zwischen Justiz und Politik aufgedeckt werden, haben diese Medien scheinbar nichts besseres zu tun gehabt, sich um ihren Ruf zu sorgen. Korrekt zitiert werden wir dabei lediglich von Gunnar Schupelius von der BZ, der auflagenstärksten Zeitung der Hauptstadt.

Hätten wir die Akten nicht durchgewühlt t – hätten die ganzen anderen Journalisten, die diese Story vom Schreibtisch aus abgeschrieben haben, immer noch nichts besseres zu tun, als über den Erdbeerkuchen von Manuela Schwesig zu philosophieren. Verstehen Sie uns nicht falsch: wir sind stolz, dass all diese Elite-Blätter unsere Arbeit als ihre eigene ausgeben konnten – das zeigt wie gut wir sind. Und für die gute Sache kann man da mal drüberhinweg sehen. Trotzdem wollen wir doch den betreffenden Journalisten die folgende Einsicht nicht ersparen: ihr habt bei 16-27 Jährigen abgeschrieben. 

Und wenn ihr euch nicht mal bald wieder darauf besinnt, welche Aufgabe die Presse in der Demokratie spielen sollte, werdet ihr das in Zukunft noch öfter tun müssen. 

Hier die Eindrücke einiger der Apollo News-Journalisten, die an diesem Projekt mitgearbeitet haben:


40.000 Seiten Wahlprotokolle und Ärger mit der Präsidentin des Berliner Verfassungsgerichts

Von Larissa Fußer | Ich kam direkt von der Uni mit dem Auto angedüst. Während ich eine Baustelle nach der anderen slalomartig durchfuhr, ging ich in Gedanken die Anweisungen durch, die ich gerade noch von meinen Apollo-Kollegen bekommen hatte: „Du musst den Hintereingang nehmen“, hatten sie gesagt. „Dann kommst du in eine Schleuse, in der sie dich einmal durchleuchten. Sie werden dich fragen, was du hier willst. Dann sagst du deinen Namen und dass du zur Sichtung der Wahlunterlagen der Berlin-Wahl angemeldet bist“. Ich parkte mein Auto und spürte mein Herz schneller schlagen. Vor mir stand das riesige Gebäude des Berliner Verfassungsgerichts. Unwillkürlich guckte ich an mir herunter – ob die mich mit einem kurzen Kleid überhaupt hereinlassen? Ach was, bei „Drei Engel für Charlie“ kommen die drei Agentinnen ja auch mit hautengen Outfits überall rein, dachte ich mir und schmunzelte. Mir kam das alles surreal vor. Wir zehn Apollos spazieren jetzt also einfach ins Verfassungsgericht hinein und gucken uns als erste Menschen überhaupt die Unterlagen zur verpfuschten Berlin-Wahl an. Das können wir mal unseren Kindern erzählen. 

Als ich den Hintereingang gefunden hatte, richtete ich mich auf und atmete tief ein. Mit ernster Miene schritt ich durch die Tür, stellte mich in die angekündigte Schleuse und stand plötzlich vor drei Männern vom Gorilla-Typ, die mich streng beäugten. „Mein Name ist Larissa Fußer, ich bin angemeldet“, sagte ich und versuche dabei möglichst gelassen zu wirken. Der Obergorilla baute sich vor mir auf, kniff die Augen zusammen und murrte schließlich: „Madame, hier gilt immer noch Maskenpflicht“. Mir fiel ein Stein vom Herzen. „Ach so! Na das wusste ich ja nicht, tut mir sehr leid“, säuselte ich und kramte eine fusslige OP-Maske aus meiner Tasche. Sobald ich sie aufgesetzt hatte, war plötzlich Frieden und ich durfte passieren. 

Die Tür führte mich in eine riesige Eingangshalle, die das Setting für sämtliche Gerichtsserien hätte sein können. Über mehrere Etagen erstreckte sich ein symmetrisch angelegtes Arrangement aus Treppen und Balkonen aus weißem Stein. Hier und da waren Säulen angebracht, die Lampen waren von Stuck umsäumt. Es war kühl und leise – der Geruch erinnerte mich an Bibliothek. Inmitten der großen Aufgangstreppe stand mein Apollo-Kollege Jerome. Er grüßte mich und lief schnellen Schrittes los – es begann eine Labyrinthwanderung durch mehrere Stockwerke, Nebengänge und Torbögen. Ich kam kaum hinterher, so schnell wand sich Jerome durch die verzweigten Flure. Schließlich standen wir von einer schweren Holztür im Hintergang des Hinterflügels und mein Kollege drückte die Klinke mit einer Leichtigkeit, als würde er sein Wohnzimmerbetreten. Kein Wunder – Jerome steckte hier schon seit Tagen seine Nase in die Akten. Hinter der Tür verbarg sich, so schien mir, die letzte Hürde vor dem gesuchten goldenen Zimmer. Zwei Sekretärinnen blickten mich hinter FFP2-Masken skeptisch an – und schwiegen. „Hallo, ich bin Larissa Fußer, ich bin angemeldet, um die Wahlunterlagen einzusehen“, sagte ich wieder bemüht lässig. „Ausweis bitte“, murrte eine der Damen hinter dem Schreibtisch. Ich zeigte meinen Perso, die Sekretärin hakte auf einem Zettel etwas ab und zeigte dann tatsächlich auf eine offene Tür links im Zimmer, aus der bereits bekannte Stimmen zu hören waren. 

Und da saßen sie dann, meine Apollo-Kollegen. An großen Tischen, die im Kreis angeordnet waren. Vor Ihnen kistenweise Aktenordner und einzelne Wahlprotokolle. Die Fenster waren aufgerissen, von draußen schien die Maisonne herein. Doch drinnen herrschte aufgeregte Arbeitsatmosphäre, ich wurde kurz gegrüßt, doch dann vertieften sich alle wieder in ihre Akten. Max schritt derweil durch den Raum und telefonierte im bestimmten Journalisten-Tonfall. Ich ging zu Pauline, die gerade angestrengt einen Batzen Wahlprotokolle aus einer Bierkiste heraus hievte. „Das sind die Dokumente aus Kreuzberg!“, stöhnte sie und lachte. Natürlich war Kreuzberg der einzige Bezirk, der es offenbar nicht für nötig gehalten hatte, vielleicht lieber einen Umzugskarton statt einen Alkoholkiste für die Unterlagen zu verwenden. Aktenordner waren wohl auch zu bürgerlich – die Protokolle wurden einfach lose in die Kiste geschmissen. Vermutlich hatten die Wahlhelfer die Hoffnung gehabt, sie nie nie nie wieder sehen zu müssen. Aufgebracht und ein bisschen aufgeregt erzählte Pauline mir: „Die haben echt fast überall die falschen Stimmzettel gehabt! Auch bei uns um die Ecke in den Wahllokalen haben sie einfach Stimmzettel aus Charlottenburg an die Leute verteilt und sie damit wählen lassen, bis der Fehler aufgefallen ist. Dann wurden alle bisher abgegeben Stimmen für ungültig erklärt.“ Pauline und ich hatten beide in Kreuzberg gewählt. „Bist du dir sicher, dass du den richtigen Stimmzettel hattest?“, fragte sie mich. „Ich glaube schon“, sagte ich – war mir bei genauer Überlegung aber gar nicht so sicher. Immerhin hatte ich vier Zettel auf einmal in meiner kleinen Wahlkabine vor mir ausgebreitet und nicht groß überlegt, wen oder was ich wählen sollte.

Elisa und Jerome waren derweil konzentriert dabei, die Dokumente anderer Bezirke zu durchforsten. Akribisch inspizierten und fotografierten die beiden ein Blatt nach dem anderen. Dabei sahen sie aus, als hätten sie nie einen anderen Job gemacht. Elisa scherzte: „Das ist ja wie in einer großen Anwaltskanzlei hier. Und wir sind die schicken Anwaltsgehilfen mit Anzug und Kostüm!“. Doch leider hielt die gute Stimmung nicht lange an. Nach ein paar Stunden platze plötzlich eine Frau herein, die sich als wissenschaftliche Mitarbeiterin Präsidentin des Berliner Verfassungsgerichtshofs, Ludgera Selting, vorstellte. Wutentbrannt schnauzte sie unser kleines Team an, dass die Präsidentin mitbekomme habe, dass wir die Vorgänge am Wahltag aus den Akten bei TE öffentlich machen, und nun „sehr irritiert“ sei. Man prüfe sogar rechtliche Schritte, wurde uns entgegen geknallt. Für die verbleibende Zeit durften wir unsere freiwillige Recherchearbeit also unter den Augen von mehreren Mitarbeitern des Gerichts weiterführen, die jede unserer Bewegungen akribisch überwachten. Als krönender Abschluss der Einschüchterung kam dann die Präsidentin selbst noch einmal bei uns vorbei und fuhr die gesammelte Mannschaft an, was man sich hier erlaube, und dass das ja „unglaubliche Vorfälle“ seien. Tja, liebe Präsidentin, diese „Vorfälle“ nennt man Journalismus.