Von Jerome Wnuk | Für junge Menschen ist das Leben aktuell hart. Das Corona-Virus und die daraus resultierenden Maßnahmen schränken zum erneuten Male das öffentliche Leben enorm ein. Man kann nicht raus, ohne immer an Maske, Impf-/ oder Testnachweis zu denken, überall gilt 2G und andauernd wird man von Warnungen vor der Infektionsgefahr beschallt. Bestimmte Dinge, wie über den Weihnachtsmarkt schlendern oder nach Weihnachtsgeschenken gucken, machen daher meistens nur halb so viel Spaß wie früher. Clubs, Fußballstadien oder andere Veranstaltungen wie Festivals oder Konzerte, die im Sommer für ganz kurze Zeit wieder möglich und offen waren, sind inzwischen wieder geschlossen oder abgesagt.
Zudem kommt hinzu, dass bei vielen ein alljährlicher Winter-Blues einsetzt. Es wird früh schon nachmittags dunkel, morgens ist es, wenn man zur Schule oder zur Uni fährt, immer noch dunkel und das Wetter lädt nicht ein, um sich in den Park zu setzen oder im Kiez zu flanieren. Aktivitäten wie draußen mit Freunden die Zeit verbringen oder Sport betreiben, fallen aktuell entweder wegen den Corona-Maßnahmen oder dem winterlichen Wetter weg oder werden seltener. Da bleibt einem oft nur übrig, es sich zu Hause gemütlich zu machen und den Winter auszusitzen, wenn man kann.
Doch auch wenn diese Winterphase hart ist, so hat sie auch nicht nur schlechte Seiten. Denn desto kälter und ungemütlicher es draußen wird, umso mehr freut man sich dafür auf die Weihnachtszeit. Zumindest geht es mir so. Denn, wenn der Alltag ab und an eintönig wirkt, dann sorgt Weihnachten für Vorfreude. In diesem Jahr herrscht bei vielen schon eine Art Sehnsucht nach den Weihnachtstagen und dem Jahreswechsel, um mal wieder ein bisschen Ruhe zu finden und zumindest an den Festtagen, mal von Corona und Schulstress abgelenkt zu sein.
Vor allem als Schüler freut man sich ganz besonders auf die Weihnachtstage. Der Beginn der Weihnachtsferien markiert das Ende der anstrengenden Klausurenphase und die Freude, mal wieder auszuschlafen und zu entspannen, macht sich breit. Weihnachten verbindet man deswegen auch immer mit dem Gefühl herunterzukommen und den ab und an eintönig wirkenden Alltag abzuschütteln. Dieses Herunterkommen hat immer schon mit Beginn der Weihnachtsferien begonnen.
In den elf Jahren Schulzeit, die ich bisher erlebt habe, war dieser erste Ferientag meistens um den 21. Dezember herum, mal auch schon am 19. Dezember, immer aber schon ein paar Tage vor Weihnachten. Das kam einem unveränderbar vor. Dieses Datum als Ferienbeginn hatte den Vorteil, dass man am Weihnachtsabend nach drei bis vier freien Tagen, die man im Vorhinein schon hatte, schon wirklich entspannt war und den Weihnachtsabend, ohne noch den Stress der Schule im Kopf zu haben, genießen konnte. Dieses Jahr sollte es aber zum ersten Mal anders sein. In vielen Bundesländern, darunter auch Berlin, beginnen die Schulferien dieses Jahr erst am 23. Dezember, da Weihnachten ungünstiger Weise an einem Freitag liegt.
Ein Tag vor Weihnachten noch in der Schule? Für viele Schüler wie mich eine befremdliche Vorstellung. Man kann sich natürlich streiten, inwiefern der Unterricht einen Tag vor Weihnachten generell überhaupt Sinn ergibt, wenn sowohl Schüler als auch Lehrer schon in Gedanken beim nächsten Tag sind. So wie man letzte Schultage kennt, wird die Motivation bei allen Beteiligten nicht sonderlich groß sein. Aber darum geht es mir gar nicht. Für mich gehörten die freien Tage vor Weihnachten schon irgendwie zu Weihnachten dazu. Nun fallen diese Tage aus. Jegliche Weihnachtsvorfreude wird jetzt erstmal verpuffen, wenn man an diesen Tagen noch zur Schule geht. Wie soll auch im Matheunterricht beim Thema Vektoren irgendwie eine Weihnachtsstimmung aufkommen?
Wirklich bedauerlich, dass man den Schülern diese Vorfreude nimmt. Natürlich – man sollte nach den Schulschließungen zu Beginn des Jahres nun jeden Tag möglichst gut nutzen, um den Stoff wiederaufzuholen. Das kann ich gut nachvollziehen, gerade auf Grund der Tatsache, dass ich eigentlich sehr gerne zur Schule gehe. Aber, dass man genau hier diese Tage von den Ferien wegnimmt, nimmt mir auch einen großen Teil von Weihnachten. Weihnachten bedeutet nicht nur Geschenke an Heiligabend. Es bedeutet Vorfreude, Spannung, Heimlichkeit. Lieber gebe ich dafür die sowieso unnötigen Winterferien im Januar oder die ganzen Feiertage, die sich der Berliner Senat aktuell ausdenkt, ab, als auf diese Tage zu verzichten.
Immerhin haben jetzt schon einige Schulen schulintern beschlossen, die Ferien ein wenig vorzuziehen und den Schulbetrieb am 23. ausfallen zu lassen. So bleibt wenigstens ein bisschen Weihnachtsfreude und Zeit für Entspannung. Aber einige Schüler werden am 23. Dezember zur Schule gehen müssen. Denen nimmt man ein Stück der Weihnachtsvorfreude weg. Und klar, das klingt nicht wie eine Riesensache, schließlich werden wir später einmal an Heiligabend arbeiten müssen. Vor zehn Jahren wäre das vielleicht auch noch nicht so skandalös gewesen, doch wir reden hier von der Regierung von Berlin.
Weihnachten ist das wichtigste Fest für die meisten Deutschen und vielleicht auch auf der ganzen Welt. Es ist ein christlich geprägtes Fest in der Familie, bei dem Zusammenhalt und Besinnlichkeit im Mittelpunkt stehen. Dass ausgerechnet an den Weihnachtsferien herumgepfuscht wird, ist da wohl kaum ein Zufall. Sondern erscheint wie eine bewusstes Wirken gegen die Weihnachtstradition. Diejenigen, die in Berlin zur Schule gehen, können sich dann wenigstens mit dem freien Tag am 8. März trösten. Da ist nämlich Weltfrauentag. Berliner Schüler haben an diesem Tag zuverlässig frei. Darauf freue ich mich natürlich schon ganz, ganz doll…
Von Marikka Wiemann | „Kommt her zu mir, alle, die ihr mühselig und beladen seid; ich will euch erquicken.“ Alle? Das sieht die Kirche derzeit etwas anders. Man sollte diesen Bibelvers aus Matthäus 11,28 umformulieren in: Kommt her zu mir, alle, die ihr geimpft, genesen oder getestet seid – der Rest muss draußen bleiben. Denn genau dieses Vorgehen ist derzeit in Deutschlands Kirchen gang und gäbe und kaum im Sinne der christlichen Nächstenliebe. Ich habe mir den Orientierungsplan der evangelisch-lutherischen Kirche Sachsen angeschaut und muss ehrlich gestehen: Ich bin verwirrt. Regelungen sind Empfehlungen und es wird nur auf die derzeit geltenden allgemeinen Maßnahmen hingewiesen. Die tatsächliche Ausführung obliegt den einzelnen Gemeinden. Getestet werden soll auch erst ab der Überlastungsstufe (3G+!).
Außer in Sachsen ist man in Mecklenburg-Vorpommern, Rheinland-Pfalz und Thüringen verpflichtet, den Impfstatus abzufragen. Ich bin gespannt, in wie vielen Gemeinden Ungeimpfte dieses Jahr den Weihnachtsgottesdienst besuchen dürfen. Da die Gemeinden selbst entscheiden dürfen, ist 2G oder 2G+ für einige eine Option. Mich persönlich erschreckt der Umstand, dass so etwas überhaupt möglich ist. Momentan scheint man dieser Idee noch abwartend gegenüberzustehen. Dabei müsste doch eigentlich klar sein: In einem Gottesdienst ist 2G ein offensichtlicher Verstoß gegen das Recht zur freien Religionsausübung. Das Tragen einer Maske, eine Testpflicht oder eine Anmeldung sind natürlich nicht unbedingt angenehm, hindern aber nicht am Gottesdienstbesuch. Mit 2G aber werden nicht nur diejenigen ausgeschlossen, die sich nicht impfen wollen, sondern auch diejenigen, die es nicht können. Es bleibt zu bezweifeln, ob dieses Verhalten ein Zeichen der christlichen Nächstenliebe ist. Die Nächstenliebe wird gleichgesetzt mit absoluter Solidarität.
Am Nikolaustag hat Beatrice von Weizsäcker (Tochter von Richard von Weizsäcker) auf der Internetseite evangelisch.de einen Kommentar veröffentlicht, der vor Aggression und Wut nur so überschäumt. Die Überschrift „Schluss mit der Nächstenliebe!“ hätte sie nicht besser auswählen können. Sie schimpft auf die „Impfgegner“, die das Leben anderer Menschen gefährden würden. Sie fühle sich „wie Moses, dessen Zorn entbrannte, als er vom Berg Sinai herabgestiegen war, um den Israeliten die Gesetzestafeln Gottes zu bringen… und sie beim Tanz um das Goldene Kalb sah: Er schleuderte die Tafeln fort und zerschmetterte sie am Fuß des Berges. (2. Mose 32,19)“. Um Gottes Willen! Das Goldene Kalb war eine Ersatzgottheit der Israelis und hat wirklich nichts mit einer Ablehnung oder Skepsis gegenüber der Impfung zu tun. Ich würde es eher umdrehen: das goldene Kalb ist die Hoffnung auf die Erlösung von der Pandemie in Form einer Impfung.
Es ist wirklich zum Fürchten, dass die Dame Ungeimpfte als Mörder hinstellt und ihnen die Schuld an der Situation in der Pflege sowie an den Coronatoten zuschiebt. Weitere Details erspare ich euch lieber. Nur noch so viel: am Schluss fordert sie einen Lockdown für Ungeimpfte – im drastischsten Fall sogar für alle – und natürlich eine allgemeine Impfpflicht. Ich habe zunehmend den Eindruck, dass vorauseilender Gehorsam und unbedingte Staatstreue zum Kennzeichen der evangelischen Kirche in Deutschland geworden sind. In der Heimatgemeinde meiner Eltern hing zum Beispiel ein Schild, auf dem stand, man müsse den Mund-Nasen-Schutz unbedingt die ganze Zeit aufbehalten – auch beim Niesen, Husten oder Nase putzen. Beim Niesen oder Husten leuchtet mir noch ein. Aber beim Nase putzen? Wie ekelhaft ist das bitte? Am Schluss noch ein kluger Hinweis: zur Not solle man nach draußen gehen, um die Nase zu putzen. Oh herzlichen Dank! Darauf wäre ich von allein nie gekommen.
Doch wie sollen sich die Kirchen am besten verhalten? Auf der einen Seite können sie sich glücklich schätzen, dass Gottesdienste überhaupt noch stattfinden dürfen – zumindest angesichts der aktuellen staatlichen Agenda und des erhöhten gesellschaftlichen Drucks. Auf der anderen Seite wäre das die Chance der Kirche zu zeigen, dass sie eben nicht weltlich orientiert ist und andere Maßstäbe besitzt. Dadurch würde sie sich Feinde schaffen und möglicherweise auch Spaltung innerhalb von Gemeinden provozieren. Ein Effekt dieser Reaktion wäre aber auch das Provozieren der allgemeinen Aufmerksamkeit. Die große Chance der Kirche besteht darin, als einzige größere Institution in der Lage zu sein, einen öffentlichkeitswirksamen Unterschied zu machen. Aber genau das scheint nicht zu passieren. Eher das Gegenteil ist der Fall.
Der MDR berichtete vor Kurzem, dass Pfarrer aus dem Erzgebirge, wie z.B. aus Schneeberg oder aus Zwönitz, zur Impfung aufrufen und es sogar Impfaktionen der Kirche gebe. Private Einstellungen der Pfarrer sind mir persönlich egal, aber als Kirchenoberhäupter tragen sie Verantwortung und sollen das Wort Gottes verkündigen. Menschen von einer Impfung zu überzeugen, liegt definitiv nicht in ihrem Aufgabenbereich. Ich habe keine Interesse an einer Kirche ohne Rückgrat, die sich nur noch am weltlichen Geschehen orientiert und keine eigenen bibeltreuen Werte vorzuweisen hat.
Die Kirche als Institution hat mehr Macht, als man vermuten könnte. Es ist noch gar nicht solange her, dass sich die Oppositionellen zu Friedensgebeten in der Kirche versammelt haben. Vielleicht wäre Deutschland ohne diese Gebete und die anschließenden Demonstrationen immer noch geteilt. In der DDR haben sich die Regierungsskeptiker in der Kirche versammelt, weil sie der einzige Ort war, an dem ein offener Austausch möglich gewesen ist. Wenn meine Eltern mir von der Wende erzählen, kann ich mir kaum vorstellen, dass in der Kirche Diskussionen und Debatten geführt werden konnten, ohne dass man Angst haben musste, etwas „Falsches“ zu sagen. Ich würde mir wünschen, dass die Kirche wieder ein Ort wird, an dem es möglich ist, seine Meinung frei zu äußern. Es wäre schön, wenn sie sich nicht mehr als politisches Organ, sondern wieder als Zufluchtsort für Regierungskritiker verstehen würde.
Von Pauline Schwarz | Wenn das Corona-Virus gerade nicht dafür sorgen würde, dass wir uns gegenseitig die Köpfe einschlagen, Tobsuchtsanfälle bekommen und uns über unseren Impfstatus zerstreiten, wäre jetzt vor allem eines: die Vorweihnachtszeit. Dann würde es darum gehen, wo dieses Jahr die Familienfeier stattfindet, wer die schönste Weihnachtsgans macht und wo man noch schnell ein 08/15 Geschenk für die Tante dritten Grades bekommt, die man eigentlich sowieso nie leiden konnte. Die Gedanken wären ganz bei Glühwein, Leberpasteten, Schlittenbahnen, Weihnachtsbäumen und vielleicht noch bei Winterreifen und Frostschutzmittel – nicht bei Inzidenzzahlen, Zwangsimpfung und Testknappheit. Gerade Kinder sollten jetzt doch vor allem an den Weihnachtsmann und ihr nächstes Schnee-Abenteuer denken können. Für mich gab es früher jedenfalls nichts Tolleres als Rodeln, Schneemännerbauen, Weihnachtsengelformen und das ungeduldige Warten auf die heiß ersehnten Geschenke. Selbst in Berlins berühmt berüchtigten Bezirk Kreuzberg gab es mal eine Zeit, in der man die frostige Winterzeit und Weihnachten nahezu genießen konnte. Damals war allerdings alles noch ein bisschen anders als heute.
Als Kind habe ich den Winter geliebt. Sobald der erste Schnee fiel, sauste ich raus in den Hof und lief so lange barfuß durch die weißen Flocken, bis mich meine Mutter wieder einfangen konnte und in einen kleinen Schneeanzug oder zumindest eine Schneehose stopfte. Ich war im Gegensatz zu heute nicht besonders kälteempfindlich und mochte die dicken unbeweglichen Hosen nicht – ließ mich nach anfänglichem Meckern aber trotzdem gerne in ein kleines Michelin-Männchen verwandeln. Weil ich genau wusste, was als nächstes kam: Ab in den Keller und hoch mit dem geliebten alten Holz-Schlitten! Ich weiß noch, wie meine Schwester und ich mit Liebe die Kufen geschliffen und eingefettet haben, damit wir ja die schnellsten auf der Rodelbahn sind – naja, und um unser tägliches Vorankommen zu sichern. Sobald genug Schnee lag, bewegte ich mich freiwillig nämlich keine fünf Meter mehr zu Fuß. Meine arme Mutter musste uns überall auf dem Schlitten hinziehen. Zum Auto, zum Einkaufen, zur Schule und zur nächsten Rodelstrecke. Und da gab es für mich als Kind eigentlich nur eine einzig wahre in Berlin: Die große Kuhle im Görlitzer Park. Die meisten werden es mir wohl kaum glauben, aber damals gab es noch keinen einzigen afrikanischen Drogendealer weit und breit.
Zu dieser Zeit war es im Görli sogar richtig schön: der weiße Schnee bedeckte Hundehäufchen und Abfall, als hätten sie nie existiert. Alles wirkte sauber, sicher und friedlich – zumindest, wenn nicht gerade die traditionelle Schneeballschlacht zwischen Kreuzberg und Neukölln durch den Park tobte. Da ging´´‘s immer heiß her – für einen kleinen Möpp wie mich, war das noch nichts. Ich jagte in meinem Schlitten lieber den ganzen Tag schreiend und quietschend den kleinen Abhang hinunter, nur um Sekunden später mit pochendem Herz und keuchendem Atem wieder heraufzukrabbeln. Kurz vor Weihnachten war der Görlitzer Park ein echtes Winter-Wunder-Land für uns Mini-Kreuzberger – eine Erinnerung, die mir heute richtig surreal erscheint. Da, wo früher Kinder durch den Schnee tobten und Schneemänner bauten, denen sie Karotten als Nasen und kleine Steine für Mund und Augen ansteckten, stehen heute überall Drogendealer – die keine Hemmung haben, selbst Zehnjährigen Kokain anzubieten. Auf den Spielplätzen liegt Spritzenbesteck und Alufolie. Familien sieht man nur noch sehr vereinzelt. Dasselbe Bild zeigt sich auch um den Park, etwa am Spreewaldplatz.
Seit ich denken kann werden vor der Schwimmhalle jedes Jahr Nordmann-Tannen verkauft – dieses Jahr, habe ich zum ersten Mal gesehen, dass der Baumverkäufer Werbung machen musste. Das hat er früher nie nötig gehabt. Wir haben unseren Weihnachtsbaum, wie jeder andere, immer am Spreewaldplatz gekauft. Jeden Tag herrschte Trubel – heute sieht man kaum jemanden die Bäume begutachten, an den Zweigen rütteln oder um den Preis feilschen. Aber das ist auch kein Wunder, wenn zehn Meter weiter die ersten Drogendealer auf Kundenfang gehen und vorbeieilende Familien anzischen. Jeder, der noch etwas bei Verstand ist, meidet die Ecke großflächig – vor allem wenn man kleine Kinder hat. Für mich war es mit den Nordmann-Tannen aber schon vorbei, bevor die ersten ominösen Gestalten den Platz belagerten. Die Tannen wurden irgendwann einfach zu teuer, der Verkäufer war so verwöhnt mit Kunden, dass er wahre Wucherpreise verlangte. Davon kann er heute wahrscheinlich nur träumen. Die Kreuzberger machen es den Dealern sei Dank wohl so, wie wir damals: Ab ins Auto, auf zum Baumverkauf am Ostbahnhof.
Mit unserem kleinen, roten Auto zu fahren, war im Winter immer ein Abenteuer. Man wusste nie genau, ob „Rudi Rotnase“ genug Kraft aufbringen konnte, um seinen Motor auch bei Minusgraden in Fahrt zu bringen. Und selbst wenn er ansprang, musste man erstmal irgendwie aus der verschneiten Parklücke rauskommen. Das konnte ein echtes Problem werden, wenn die Räumfahrzeuge mal wieder regelrechte Mauern vor den Autos aufgebäumt hatten. Dann mussten schonmal ein paar kräftige Männer von der Straße zum Schieben rekrutiert werden – und im schlimmsten Fall half selbst das nichts. Ich bin mehr als einmal zu spät zur Schule gekommen, weil wir uns allen Mühen zum Trotz nicht vom Fleck bewegen konnten. Kam der alte Rudi tatsächlich in Bewegung, war der Spaß aber noch nicht vorbei. Einmal war es so kalt, dass die Türen über Nacht eingefroren waren und, nachdem wir sie mit Gewalt auf und wieder zu gemacht hatten, bei voller Fahrt mitten auf der Straße plötzlich aufsprangen. Ich kann mich noch genau erinnern, wie ich panisch versucht habe, die Tür neben mir wieder einzufangen, während meine Mutter am Steuer wahrscheinlich fast einen Herzinfarkt erlitt. In den Tagen danach mussten wir die Hintertüren immer mit einem Fahrrad-Spanngummi sichern, das von einer zur anderen Seite reichte – Impro auf Kreuzberger Art. Ich saß in der Mitte und hielt die selbstgebastelte Konstruktion fest. Das war vielleicht ein „ganz kleines bisschen“ gefährlich, aber ich fand’s mit meinen neun Jahren ziemlich lustig.
Am aller spannendsten war aber natürlich der Weihnachtsabend – da kam keine Schneeballschlacht, keine noch so wilde Schlittenfahrt und auch kein Abenteuer mit Rudi ran. Bevor wir am Abend unsere Geschenke bekamen, wurden meine ungeduldigen, kindlichen Nerven immer auf die Probe gestellt. Nachdem wir diverse Spiele und das Weihnachtsessen hinter uns hatten, war es immer noch nicht so weit. Meine Schwester und ich mussten immer erst etwas Kleines leisten, bevor wir etwas bekamen – meine Schwester sang meistens ein paar Lieder vor, während ich „Ihr Kinderlein kommet“ auf der Blockflöte performte. Und dann war es endlich dunkel. Wir mussten auf unser Zimmer und solange warten, bis wir die Weihnachtsglocke hörten, die „der Weihnachtsmann“ immer läutete, bevor er mit seinem Schlitten weiter zu den nächsten Kindern zog – eine nette Geschichte, aber ich wusste natürlich, dass in echt meine Mutter klingelte. Doch völlig Wurscht. Ich flitzte ins Wohnzimmer und bestaunte meine Geschenke unter unserem hübsch geschmückten Baum. Ich wütete immer wie ein kleiner Berserker, während meine Schwester mit Engelsgeduld ganz vorsichtig jedes Geschenk öffnete – und mich damit zur Weißglut trieb.
Weihnachten war bei uns immer mit einigen Streitigkeiten und Stress verbunden, insgesamt freute ich mich aber und genoss die ganze Vorweihnachtszeit – zu Hause, im Schnee und in der Schule. Auch meine Grundschule war nämlich trotz Multi-Kulti-Indoktrination zu dieser Zeit in voller Weihnachtsstimmung. Das ging aber wahrscheinlich nur, weil fast alle meine türkischen Klassenkameraden auch Weihnachten feierten – nicht, weil sie so super toll integriert waren oder sich an die christlichen Werte anpassen wollten, sondern weil sie die Festlichkeit einfach schön fanden und die Kinder unbedingt auch Geschenke haben wollte. Das waren noch Zeiten – Weihnachtsstimmung, keine Dealer, kein Corona. Heute bin ich froh, wenn ich über Weihnachten aus Kreuzberg, und auch generell aus dem ganzen Wahnsinn in Deutschland, wegkomme. Ich liege lieber tausende Kilometer entfernt am Strand und lass mir die Sonne auf den Pelz scheinen – ein kleines Geschenk und gutes Essen gibt’s am Weihnachtsabend trotzdem.
Von Simon Rabold | Meine Apollo-Kollegen staunten nicht schlecht und wurden glaube ich sogar ein bisschen neidisch, als ich berichtete, dass es in Frankfurt am Main noch einen Weihnachtsmarkt „für alle“ gibt. In Bayern, aber auch in Sachsen wurden diese ja untersagt – und noch besser – in Frankfurt galt weder 2, noch 3G auf dem Weihnachtsmarkt. Ob die Bayern aber weiterhin neidisch sein müssen und der Weihnachtsmarkt einen Besuch wert ist, kann jeder nach meinem Bericht selbst entscheiden.
Aufgrund des Hygiene-Konzeptes ist der Weihnachtsmarkt in der ganzen Stadt verteilt, am schönsten ist wohl der Bereich am Römer. Als ich etwa 200 Meter entfernt war, fielen mir allerdings nicht die weihnachtlichen Lichter oder die Weihnachtsmusik auf. Ins Auge stach eine Kolonne von sieben großen Polizeieinsatzwagen. Kurz dachte ich an einen Anschlag oder ähnliches, doch dafür war es zu ruhig. Auf dem Markt angekommen, wurde ich so dann auch sofort von drei Polizisten angesprochen: „Maskenpflicht einhalten!“. Warum man dafür so viele Polizisten braucht, ist mir unerklärlich. Zumal noch neben den Polizeibeamten die gleiche Anzahl an Mitarbeitern einer Sicherheitsfirma auf dem Markt war, die genau die gleiche Aufgabe hatte, nämlich jeden ansprechen, der keine Maske trug oder dem sie verrutscht war. Sonst schien die Maskenpflicht allerdings niemanden zu stören, so ziemlich jeder hielt sich penibel daran, die meisten sogar sehr vorbildlich mit FFP2-Maske.
Möchte man etwas essen, ist Vorsicht geboten. Ich wollte gerade – etwas abseits vom Geschehen – in meine Currywurst beißen, da wurde ich erneut von drei Polizisten angesprochen. Ich könne nicht einfach hier essen, es gäbe extra „Verzehrbereiche“, da sei Essen und Trinken gestattet. Mir war bis zu diesem Moment noch kein Verzehrbereich aufgefallen, geschweige denn wusste ich, dass es so etwas gab und brauchte. Letztendlich fand ich einen und durfte dann meine Currywurst zwischen einem Dutzend unmaskierten Menschen, dicht an einem Stehtisch gedrängt, verzehren. Ob dies aus epidemiologischer Sicht besser war, wage ich zu bezweifeln.
Danach fing der Abend ja erst richtig an, also galt es, einen Glühwein zu trinken. An dem Glühweinstand war der Zugang besser geregelt, eine Art Türsteher mitsamt Absperrband stand wie vor einem Club vor dem umzäunten Gehege und achtete darauf, dass nicht zu viele Menschen sich dort drin befanden. Dann jedoch wurde ich erneut angesprochen, diesmal aber nicht von drei Polizisten, sondern vom Glühweinverkäufer. Wenn ich mein Pfand noch haben wollte, müsste ich jetzt mein Glas leertrinken und zurückbringen. Ich guckte auf die Uhr. Es war gerade einmal 21 Uhr, doch rundherum wurden die Stände bereits abgebaut. „Tut mir Leid, aber wir müssen jetzt bereits schließen. Corona eben!“, sagte mir der Glühweinverkäufer. Ich exte meinen Glühwein, der Türsteher ließ uns wieder raus und ich fuhr neben sehr vielen Polizeiautos nach Hause. Ach wie schön ist doch die Weihnachtszeit.
Von Michael Friese | Das Fest des Jahres steht vor der Tür – alte, weiße Männer nennen es „Weihnachten“. Es ist das Fest der Nächstenliebe, des Teilens und des Friedens. Alle Menschen sollen an diesem Fest zusammenkommen und harmonisch miteinander feiern. Und auch bei diesem Fest der Liebe scheint das folgende Motto zu gelten: Es gibt Menschen – und es gibt Ungeimpfte. 2G-Regeln in Geschäften, auf dem Weihnachtsmarkt (oder politisch korrekt: Wintermarkt) und letztlich auf dem Familienfest geben den ungeimpften Mitbürgern auch in Zeiten der Liebe das Gefühl, ungeliebt zu sein.
Es ist schon ein seltsames Gefühl: Ich laufe durch meine Geburtsstadt, schaue mir die Läden an und überall ergibt sich das gleiche Bild: 2G, 2G, 2G. Beinahe alle Geschäfte sind für mich geschlossen. Während Geimpfte oder Genesene beruhigt einen Ausweis vorzeigen können, muss ich draußen stehen und vor Sehnsucht zergehen. Dabei hasse ich es eigentlich, einkaufen zu gehen. Immer wenn meine Mutter mich damals zum Aldi geschleppt hat, um einen Großeinkauf zu machen, waren das die langweiligsten Stunden meines Lebens. Oder im Baumarkt in der Tapetenabteilung: Die Auswahl der richtigen Tapete und allem was dazugehört, welche in echt ca. fünf Stunden beanspruchte, fühlte sich für mein Kleinkind-Ich so an, als wäre ich gestorben und der Aufzug ins Himmelreich auf halber Strecke abgestürzt. Nun aber blicke ich sehnsüchtig auf die 2G-Verweise an den Ladentüren. Wenn man nämlich aus mangelhaft ausgearbeiteten Gründen die Freiheit verliert, sich etwas anderes als Essen und Klopapier zu kaufen, kriegt sogar jemand wie ich mal Lust, sich durch den H&m zu wühlen.
Das Beste kommt nun aber: Es gibt in der Gegend ein „Kinder- und Jugendforum“. Dieses Forum hatte sich ganz groß auf die Fahne geschrieben: „Wir sind links! Wir sind woke!“. Überall an den Fenstern waren Regenbogenflaggen zu sehen und es wurde auf Zetteln an den Fenstern groß „Love is love“ skandiert. Man stehe für „Toleranz und Vielfalt“ und „jeder“ sei willkommen. Die 2G-Regeln gelten jedenfalls auch dort und das wurde auch so kommuniziert – ohne Verweis auf die heilige „Vielfalt“. Es gibt viele Ladenbesitzer, die ihre ungeimpften Kunden nicht ausschließen wollen und entweder schließen oder versuchen, eine andere Lösung für diese Kunden zu finden. Das ist bei diesem Jugendforum nicht der Fall. Über dem Zettel, auf dem „Toleranz und Vielfalt“ steht, hängt nun ein Zettel, der auf das Tragen einer Maske und die 2G-Regeln für über 18-Jährige hinweist. Kein einziger Satz nach dem Motto „Wir stehen für Vielfalt und das gilt auch für Ungeimpfte. Leider dürfen wir euch aber nicht reinlassen; wir sind selber empört darüber“. Eine Ironie und Doppelmoral, die Ihresgleichen sucht und auch vermutlich morgen bereits findet. So viel zum Thema Toleranz an der Stelle.
Zu Weihnachten gehört aber nicht nur das Shoppen und gekrampfte Überlegen, was man denn nun an seine Verwandten verschenken soll. Für viele Leute ist die Weihnachtszeit auch die Gelegenheit, die Familie im größeren Kreis nach Ewigkeiten wiederzusehen, nachdem man sich für den Rest des Jahres gekonnt aus dem Weg gegangen ist. Diese Weihnachtsfeste sind durch Corona im letzten Jahr extrem eingeschränkt worden. Aber dieses Jahr wird man wieder im gewohnten Kreise mit all seinen geliebten (und gehassten) Familienmitgliedern feiern können. Davon ging man aus. Meine Familie war jedenfalls sehr fleißig und hat bereits Anfang Oktober Einladungen für eine super mannigfaltige Weihnachtsfeier ausgeteilt.
Nun kommt die (un)erwartete Wende: Ungeimpfte dürfen nicht mitfeiern. Da wird dann auch keine Ausnahme gemacht – egal ob der Weihnachtsmann, der Lieblingsenkel oder die eigene Mutter gerne hineingelassen werden möchte. Sie dürfen sich nämlich nur mit zwei weiteren Personen aus einem anderen Haushalt treffen (diese Formulierung wird niemals an Verwirrung beim ersten Lesen verlieren). Das bedeutet: keine Weihnachtsfeier für mich und meinen Onkel. Ich habe schon zu meiner Mutter gesagt, dass man uns beide verkleidet als Gartenzwerge ins Gebüsch stellen könnte. So könnte man seinem Weihnachtsfest in dieser verqueren Zeit zumindest ein wenig Würde verleihen. Oder alle lassen sich vor der Feier testen. Okay, ich hör schon auf, das wäre viel zu logisch.
Von Jonas Aston | 19. Dezember 2016, 20:02 Uhr, Berlin Breitscheidplatz. Anis Amri rast mit einem Sattelzug in eine Menschenmenge. 13 Personen sterben, mindestens 67 werden verletzt. Der islamistische Terror erreicht die Hauptstadt. Geblieben ist die Frage nach dem Warum. Warum mussten so viele Menschen sterben? Warum konnte der Anschlag nicht verhindert werden? Warum sind viele Hintergründe der Tat weiterhin ungeklärt? Warum konnte das passieren?
Klar ist, dass der marokkanische Geheimdienst die deutschen Behörden bereits im Herbst vor Anis Amri warnte. Demnach pflegte Amri Kontakte zum IS und sei bereit einen Terroranschlag durchzuführen. Amri pendelte in dieser Zeit zwischen Berlin und Dortmund. Im Mai 2017 wurde bekannt, dass den Berliner Behörden Beweise vorlagen, dass Amri „gewerbsmäßigen, bandenmäßigen Handel mit Betäubungsmitteln“ betrieb. Laut Innensenator Andreas Geisel (SPD) hätte das ausgereicht, um Amri zu verhaften. Der damalige nordrheinwestfälische Innenminister Ralf Jäger (SPD) gab zur Aussage, dass man den „Eindruck“ gehabt habe, dass Amri sich vom radikalen Islamismus eher weg bewege, um sich der Drogenkriminalität zuzuwenden. Ein folgenschwerer Irrtum.
Tatsächlich radikalisierte sich Amri. Am 10.11.2016 wurde ihm ein IS-Dokument mit dem Titel „die frohe Botschaft zur Rechtleitung für diejenigen, die Märtyrer-Operationen durchführen“ zugespielt. Die Auswertung seines Mobiltelefons ergab, dass er vor der Tat mit dem IS in Verbindung stand. Demnach wollte Amri zum IS ausreisen. Der Kontaktmann bestand jedoch auf der Durchführung des Anschlags. Die Identität des Kontaktmanns blieb lange im Verborgenen, konnte aber vor Kurzem aufgeklärt werden. Nicht durch Ermittlungen der Behörden, sondern auf Recherche des rbb. Der Untersuchungsausschuss zum Terroranschlag am Breitscheidplatz machte „individuelle Fehleinschätzungen und Versäumnisse wie auch strukturelle Probleme in den zuständigen Behörden“ für die Tat verantwortlich.
Spekulationen ranken sich auch um den Namen Bilel Ben Ammar. Focus Online berichtete, dass dieser sich einen Tag vor dem Anschlag mit Amri getroffen habe und auch selbst bei der Tat vor Ort gewesen, wie ein unter Verschluss gehaltenes Überwachungsvideo zeige. Auf diesem soll zu sehen sein, wie Ammar „einem Mann mit einem Kantholz seitlich an den Kopf schlage, um dem flüchtenden Amri den Weg freizumachen“. Der geschädigte Mann starb im Oktober 2021 in Folge des Schlages. Außerdem habe Ammar Fotos vom zerstörten Weihnachtsmarkt an eine bisher nicht identifizierte Nummer geschickt. Neun Tage nach dem Anschlag sei auf Bestreben der Politik entschieden worden, Ammar abzuschieben. In einer E-Mail an die Bundespolizei soll geschrieben worden sein: „Seitens der Sicherheitsbehörden und des Bundesinnenministeriums besteht ein erhebliches Interesse daran, dass die Abschiebung erfolgreich verlaufen soll“. Der damalige FDP-Politiker Marcel Luthe behauptete, dass hiermit Ammar als Zeuge und Ermittler für einen Untersuchungsausschuss verhindert werden sollte. Das Bundesinnenministerium wies die Anschuldigungen zurück und auch die Online-Präsenz der Tagesschau bezeichnete die Berichte als „wohl falsch“.
Mindestens so skandalös wie das Behördenversagen ist der Umgang mit den Hinterbliebenen. Entschädigungsleistungen ließen lange auf sich warten, bürokratische Hürden taten ein Übriges. Die Mutter des ermordeten polnischen Spediteurfahrers, dessen LKW Amri nutze, warte bis heute etwa auf ein Kondolenzschreiben. In einem Gespräch mit der deutschen Welle äußerte sie: „Ich möchte Frau Merkel sagen, dass sie das Blut meines Sohnes an ihren Händen hat“. Im Dezember 2017 wandten sich Angehörige mit einem offenen Brief an die damalige Kanzlerin. Darin wurden ihr Untätigkeit und politisches Versagen vorgeworfen. Am 18. Dezember kam es daraufhin zu einem Treffen mit der Kanzlerin. Der Bundestag beschloss höhere Entschädigungen für die Hinterbliebenen und vereinfachte die Verfahren.
Der Terroranschlag am Breitscheidplatz jährt sich nun das fünfte Mal. Dem Weihnachtsfest wurde eine Spur Trauer zugefügt. Geblieben ist die Angst – verschwunden ist die Unbeschwertheit, denn fast jeder Weihnachtsmarkt beginnt und endet nun mit Pollern.
Von Pauline Schwarz | Vor genau fünf Jahren wurde der schlimmste Albtraum aller Berliner wahr: ein Terroranschlag mitten im Herzen der Stadt. An diesem verhängnisvollen Abend des 19. Dezember 2016 überschlugen sich die Nachrichten. „Terroranschlag am Breitscheidplatz. Lkw rast auf Weihnachtsmarkt. Tote, Verletzte. Attentäter auf der Flucht“. In den Stunden nach dem Anschlag hielt die ganze Stadt den Atem an. Die Behörden wiesen die Berliner an, ihre Wohnungen nicht zu verlassen. Es brach blanke Panik aus – jeder fürchtete seine Liebsten könnten unter den Opfern sein. Beim bis heute schlimmsten islamistischen Anschlag in der deutschen Geschichte starben zwölf Menschen durch die Hand eines Mannes, der längst abgeschoben seien sollte. Etwa siebzig weitere wurden zum Teil schwer verletzt. Der 19. Dezember ist ein Tag, der sich in die Herzen gebrannt hat. Ein Tag, der Angst und Ohnmacht hinterließ. Mit der Vorweihnachtsstimmung war es schlagartig vorbei.
Am Nachmittag des 19. Dezember 2016, einem Montag, parkte der polnische Lkw-Fahrer Lukasz Urban seinen Sattelschlepper in Berlin Moabit. Der 37-jährige Mann kam gerade aus Italien, hatte Stahlkonstruktionen geladen und war wahrscheinlich müde von der langen Fahrt. GPS-Daten zeigten später, dass Lukasz Sattelschlepper um 15:45 Uhr startete. Der polnische Speditionsbesitzer Ariel Zurawski, der seinen Cousin Lukasz als einen der letzten guten Fahrer bezeichnete, sagte: „Es sah aus, als wenn jemand geübt hätte, den Wagen zu fahren“. Doch zu diesem Zeitpunkt war Lukasz vielleicht schon tot. Er wurde das erste Opfer von Anis Amri, der den unschuldigen Polen mit einem Kopfschuss hingerichtet hatte, um mit seinem Sattelschlepper elf weitere Menschen in den Tod zu reißen. Lukasz genaue Todesumstände bleiben bis heute unklar. Ariel Zurawski ist sich aber sicher, dass sein Cousin bis zuletzt gekämpft und sich gewehrt hat – auf den Fotos, die man ihm zur Identifikation gegeben hat, soll Lukasz deutlich sichtbar Schlag- und Schnittwunden gehabt haben. Der „höfliche Familienmensch“ Lukasz U., den man nach dem Anschlag leblos auf dem Beifahrersitz seines Trucks gefunden hatte, wurde später in Banie bei Stettin beigesetz. Er hinterließ seine trauernde Witwe und einen 17-jährigen Sohn.
All das erfuhr man aber erst Tage nach dem Attentat. Nachdem sich der Sattelschlepper um 19:36 Uhr in Bewegung gesetzt hatte und um etwa 20 Uhr mitten in den Weihnachtsmarkt am Breitscheidplatz vor der Gedächtniskirche raste, dachte man erst, dass es sich um einen tragischen Unfall handeln könnte. Kurze danach wurde klar, dass es ein Terroranschlag war. Um kurz vor 21:00 Uhr wurde ein erster Verdächtiger festgenommen, der von einem Zeugen vom Breitscheidplatz verfolgt worden war – aber man hatte den falschen Mann und wusste weder, ob es einen islamistischen Hintergrund, noch ob es eine Tätergruppe oder Fädenzieher im Hintergrund gab. Am Dienstagabend verkündete die Terrormiliz Islamischer Staat (IS) dann über ihr Internetportal „Amak“, dass ein IS-Kämpfer für den Anschlag verantwortlich gewesen sei.
Am Mittwoch, den 21. Dezember, wurde der 24-jährige Tunesier Anis Amri öffentlich zur Fahndung ausgeschrieben – und er war kein Unbekannter. Die Behörden ermittelten gegen ihn bereits wegen der Vorbereitung „einer schweren staatsgefährdenden Straftat“, er war als „Gefährder“ bekannt. Amri wurde im Juni 2016 als Asylbewerber abgelehnt, konnte aber nicht abgeschoben werden, weil er keine gültigen Ausweispapiere hatte. Amri war im Jahre 2011 außerdem schon in Italien wegen verschiedener Vergehen, unter anderem Brandstiftung, verhaftet und zu vier Jahren Gefängnis verurteilt worden. 2015 scheiterte eine Abschiebung an den tunesischen Behörden. Trotz allem rückte er erst ins Täterprofil, als man bei der Untersuchung der Fahrerkabine des Lkws ein schwarzes Lederportemonnaie entdeckte, in dem sich die Duldung eines „Ahmed Almasri“ befand. Schnell wurde klar, dass der Mann in Wirklichkeit Amri hieß und unter verschiedenen Namen in verschiedenen Bundesländern registriert war. Darüber, warum man die Geldbörse erst einen Tag nach dem Anschlag auffand und dann noch einen knappen weiteren brauchte, um die bundes- und europaweite Fahndung auszusprechen, wird bis heute spekuliert.
Am 23. Dezember, vier Tage nach dem Anschlag, wurde Anis Amri dann schließlich bei einer Routine-Straßenkontrolle in Mailand erschossen. Die zwei jungen Polizisten Cristian M. (36 Jahre) und Luca S. (29 Jahre), sahen als sie um kurz nach drei Uhr morgens am geschlossenen Bahnhof von Sesto San Giovanni vorbeifuhren einen jungen Mann vorbeilaufen. Sie hatten keinen Anhaltspunkt, dass der Berlin-Attentäter sich in Italien aufhielt, der Mann schien ihnen einfach verdächtig. Auf die Bitte seinen Rucksack zu öffnen, soll Amri dann „ohne zu zögern“ eine Pistole gezogen und das Feuer eröffnet haben. Cristian wurde beim Schusswechsel verletzt, Amri starb. Der Spuk war vorbei. Ich kann mich noch erinnern, wie erleichtert ich über diese Nachricht war – ich hatte die letzten Tage in der Angst verbracht, dass es noch weitere Anschläge geben würde. So wie ein Jahr zuvor in Paris. In den Stunden nach dem Anschlag war diese Sorge für diejenigen, die ihre Liebsten unter den Opfern wähnten, aber wahrscheinlich beinah nebensächlich. Jeder rief seine Mutter, seinen Vater, die Schwester und die Tante an, sodass irgendwann das Telefonnetz überlastete. Viele Leute griffen auch und vielleicht deshalb zu Facebook. Mit dem „Safety Check“ konnte man seinen Freunden und Familienangehörigen mitteilen, dass man in Sicherheit war. „Ich bin sicher“, war an diesem Abend wohl die verbreitetste Nachricht in ganz Berlin.
Wenn ich an den Anschlag zurückdenke, kommt sofort ein unangenehmes, unsicheres Gefühl in mir hoch. Ich kann mich zwar kaum noch erinnern, wo genau ich an diesem verhängnisvollen Abend war, doch das Gefühl ist noch immer präsent. Um ehrlich zu sein fürchte ich, dass ich den Abend aktiv aus meinem Gedächtnis verbannt habe. An die Anschlagsserie in Paris im November 2015 kann ich mich noch ganz genau erinnern. Ich war gerade auf einer Party. Im Hintergrund lief der Fernseher, während wir scherzten und tranken – dann kamen die Eilmeldungen. Wir hörten auf zu reden und setzten uns apathisch vor den Fernseher. Die schrecklichen Bilder aus dem Bataclan hielten uns in ihrem Bann. Ich hatte noch nie so Angst vor einem Anschlag, wie in diesem Moment – bei 9/11 war ich noch zu klein, erst sechs Jahre alt. Als der Terror dann vor unserer Tür stand, am Breitscheidplatz, 30 Minuten von mir Zuhause entfernt, wurde die Angst Realität. Ich hatte blanke Panik, das weiß ich noch. Viel mehr will mein Kopf nicht mehr wissen.
Dafür erinnere ich mich aber ganz genau an den Tag nach dem Anschlag auf den Weihnachtsmarkt. Ich ging ins Büro und traf als erstes unseren Paketboten, einen älteren Herren. Er war ganz aufgeregt, bekam von meinem Kollegen einen Kaffee und eine Zigarette und erzählte dann, dass er mit seiner Frau gestern eigentlich auf den Weihnachtsmarkt am Breitscheidplatz gehen wollte. Zum Glück hielt ihn irgendetwas davon ab. Und genau so ging das gleich mehreren Leuten, die ich kannte. Der Weihnachtsmarkt war unter Berlinern und Touristen sehr beliebt. Meine Mutter und meine Schwester wollten noch am Sonntag vor dem Anschlag ebenfalls auf den Markt. Außerdem ist das Areal eine beliebte Einkaufsgegend mit vielen Bürogebäuden. Eine Freundin erzählte mir später, dass sie während des Anschlags gerade wenige hundert Meter entfernt im „KaDeWe“ einkaufen war. Sie rief völlig ahnungslos ihren Freund an, der gegenüber des Weihnachtsmarktes arbeitete. Er sagte ihr nur: „Hier stimmt was nicht, fahr nachhause. Warte nicht auf mich“. Kurz danach rannte er mit den strömenden Menschenmassen in das Bikini Berlin, dachte es hätte einen schlimmen Unfall gegeben und merkte intuitiv doch, dass etwas nicht stimmt. Zum Glück ist ihm, meiner Freundin und auch sonst niemandem, den ich persönlich kenne, etwas passiert.
Vielen ging das leider anders. Ich war im selben Alter wie Valeriya Bagratuni als sie ihre beiden Eltern bei dem Anschlag verlor. Sie war zu diesem Zeitpunkt gerade mal 22 Jahre alt und plötzlich allein – eine so schreckliche Situation, dass ich sie mir nicht mal vorstellen möchte. Valeriya stand vor dem nichts und war mittellos, denn sie kam laut ihrem Schwiegervater nicht an die gesperrten Bankkonten ihrer Eltern. Beim Publik-Forum berichtete er unter anderem, dass Valeriya erst vier Tage nach dem Anschlag offiziell vom Tod ihrer Eltern in Kenntnis gesetzt wurde – als die Charité schon eine Rechnung für den Totenschein losgeschickt hatte. Ihre Studienkosten wurden von privaten Spendern weiter getragen – sie studierte Zahnmedizin, genau wie meine Schwester. Aber was kam von der Regierung? Zunächst wohl gar nichts, später eine „lächerlich geringe Rente“ und wenig bis keine Empathie für das junge Mädchen, das wahrscheinlich völlig am Boden zerstört war. Eine äußerst bittere Erfahrung, die anscheinend viele Opfer und Angehörige machen mussten.
Der Psychologe Rainer Rothe betreut mehr als zehn Opfer des Anschlags und schreibt von „fatalen und menschenverachtenden Umgangsformen der Behörden“. Den Opfern gehe es dabei nicht mal um Entschädigungszahlungen oder Renten, sondern um psychologische Hilfe wie etwa Traumatherapien – Hilfe sei aber „erst nach Monaten oder gar Jahren geleistet worden“. Laut Tagesspiegel berichten Betroffene sogar von Suizidversuchen in Folge der Traumatisierung. Viele Angehörige und Opfer sind wohl auch Jahre nach dem Anschlag noch wütend auf die Regierung. 2017 richteten sie einen offenen Brief an Angela Merkel, in dem sie der politischen Untätigkeit der Bundesregierung eine Mitschuld an dem Anschlag gaben. Merkel persönlich habe sich ihrer Meinung nach nicht ihrem Amt gerecht verhalten – fast ein Jahr nach dem Anschlag habe sie weder persönlich noch schriftlich kondoliert. Bei den Opfern aus Italien und Polen waren die jeweiligen Staatsoberhäupter sogar persönlich zu den Beerdigungen erschienen.
Ich kann die Wut und Verzweiflung der Opfer und Angehörigen gut verstehen, auch wenn ich mir wohl nie wirklich vorstellen kann, welchen Schmerz sie erleiden mussten und immer noch müssen. Schon mir tut es jedes einzelne Mal, wenn ich am Breitscheidplatz vorbeikomme, sprichwörtlich in der Seele weh. Dort wo im Dezember 2016 zwölf Menschen ihr Leben lassen mussten, stehen seit einigen Jahren Poller zur Terrorismusabwehr – angesichts der jahrelangen Untätigkeit unserer Regierung und der weiterhin unbegrenzten Einwanderungspolitik fühlt sich ihr Anblick jedes Mal wie ein Schlag ins Gesicht an. Wenn wirklich jemand einen neuen Anschlag verüben möchte, werden ihn diese Dinger garantiert nicht aufhalten. Und was ist das auch für ein Zeichen? Wir kapitulieren vor dem Terrorismus und basteln uns in der ganze Stadt Barrikaden? Wenn unsere Regierung wirklich etwas gegen den Terrorismus tun wollte, würde sie auf einen guten Geheimdienst, eine gute Polizei, härtere Maßnahmen, internationale Zusammenarbeit bei der Terrorismusabwehr und auf eine begrenzte Einwanderungspolitik sowie konsequente Abschiebungen setzen – dann bräuchten wir keine Poller. Und keine Angst in U- und S-Bahnen oder an belebten Plätzen, wie ich sie sehr lange nach dem Anschlag hatte.
Hätte unsere Regierung konsequent und verlässlich gehandelt, könnten dreizehn unschuldige Menschen noch am Leben sein. Dreizehn, denn am 05. Oktober 2021 starb der 49-jährige Ersthelfer Sascha Hüsges an den Folgen seiner schweren Verletzungen, die er erlitt, als er anderen zu Hilfe eilte. Er wurde von einem herabstürzendem Balken am Kopf getroffen und musste seither gepflegt werden. Die Gruppe aus Hinterbliebenen und Opfern wünscht sich, dass sein Name zum fünften Jahrestag des Anschlags auf den Stufen der Gedenkstelle an der Gedächtniskirche aufgeführt wird – direkt neben dem mahnenden 15 Meter langen goldenen Riss und den Namen der anderen Opfer:
Denen des 37-jährigen Lkw-Fahrers Lukasz Urban, der seiner Frau endlich ein Weihnachtsgeschenk kaufen wollte. Dem des 32-jährigen Industriemechanikers Sebastian Berlin, der eine Prüfung feiern wollte. Dem Namen der 34-jährigen Nada Cizmar, die ihren 5-jährigen Sohn zurückließ, der noch zwei Jahre später für sie bastelte. Dem der 66-jährigen Israel-Touristin Dalia Elyakim, deren Ehemann schwer verletzt überlebte. Dem des 40-jährigen Juristen Christoph Herrlich, der gerade noch eine Freundin beiseitestoßen und so ihr Leben retten konnte. Dem Namen des 65-jährigen Klaus Jacob, der nur zum Weihnachtsmarkt gegangen war, weil er und seine Partnerin keine Karten fürs Theater bekamen. Dem der 65-jährigen Angelika Klösters aus Neuss-Lanzarath, die von ihrem Sohn eine Berlinreise geschenkt bekommen hatte. Dem der 53-jährigen Bankangestellten Dorit Krebs. Dem Namen der 31-jährigen italienischen Studentin Fabrizia Di Lorenzo. Dem des 73-jährigen Peter Völker, der mit seinem amerikanischen Partner an der Gedächtniskirche verabredet war und dem Namen des Ehepaars Anna und Georgiy Bagratuni, die den Abschluss ihrer Tochter nicht mehr erleben durften.
Noch heute leiden die Angehörigen darunter, dass niemand Verantwortung für den Tod dieser Menschen übernehmen will. Dabei hätte die Tat verhindert werden können.
Von Larissa Fußer | Meine Freundin hatte mich überreden müssen. Schon seit Wochen lag sie mir in den Ohren, dass sie mit mir auf den Weihnachtsmarkt gehen wollte. Ich hatte mich bisher gesträubt: „Die meisten Weihnachtsmärkte in Berlin machen freiwillig 2G“, hatte ich gemurrt. „Was wollen wir denn da?“ Was ich natürlich nicht verriet: der Corona-Irrsinn war für mich nur einer der Gründe, nicht auf den Weihnachtsmarkt gehen zu wollen. Eigentlich hatte ich schon länger keine Lust mehr, mich in das vorweihnachtliche Getümmel zu stürzen. Seit ich vor ein paar Jahren angefangen habe, die Weihnachtstage am Strand, statt im verregneten Berlin zu verbringen, hat sich mein Weihnachtsgefühl beständig gegen null bewegt. Dieses Jahr war’s nun komplett verschwunden und ich bekenne: Cocktail im Bikini am Strand gefällt mir einfach besser, als Glühwein in Wollsocken auf dem Sofa.
Doch meine Freundin wollte ja so gerne und ich wurde es – dem Lockdown sei Dank – auch langsam leid, meine Freitagabende damit zu verbringen, Internetforen nach neuen Serienempfehlungen zu durchforsten. Also sagte ich meiner Freundin, dass ich mir es mal anschauen würde. Das Problem war nur: Die Berliner „Senator*Innen“ hatten inzwischen für alle Weihnachtsmärkte verpflichtend 2G eingeführt. Wir sollten also draußen bleiben. „Ach, davon lassen wir uns doch nicht unterkriegen“, sagte meine Freundin und grinste keck, als wir gemeinsam die neue Verordnung durchlasen. „Dann stellen wir uns einfach vor den Weihnachtsmarkt – da soll es auch Zelte geben, habe ich gehört“. An einem Freitagabend trafen wir uns – eingemummelt in mehreren Leggins, Pullis, Jacken, Socken, Schals und Mützen – und fuhren gemeinsam zum Berliner Gendarmenmarkt, wo einer der schönsten Weihnachtsmärkte in Berlin seine Zelte aufgeschlagen hatte.
Nach wie vor skeptisch parkte ich mein Auto, holte mir ein Parkticket und spazierte die Straße entlang. Es dauerte nicht lange, da fiel mein Blick auf die Weihnachtsbeleuchtung, die mir von überall entgegen blinkte. Die ganzen Straßen, Häuser, Läden und Straßenlaternen waren mit goldenen Lichtern geschmückt. Es sah sehr hübsch aus und ich begann mich zu freuen, dass ich hier war, anstatt zu Hause vor dem Fernseher zu hocken. Zusammen stapften wir in Richtung Weihnachtsmarkt und staunten nicht schlecht: an beiden Seiten des eingezäunten Marktes standen mindestens zwanzig Meter lange Menschenschlangen und warteten mehr oder weniger geduldig darauf, eintreten zu dürfen. Die ganze Einlassprozedur dauerte offenbar so lange, weil bei jedem Gast der Impfausweis mit dem Personalausweis abgeglichen wurde. Neben mir meckerte ein junger Mann zu seinem Kumpel: „Man, da ist man ja im Club sicherer – da sind zumindest alle getestet. Wenn ich mir hier in dieser engen Schlage Corona hole, bin ich richtig bedient“. Sofort traten ein paar Leute entnervt einen Meter von ihm zurück und er lächelte – so meine ich – durch seine FFP2-Maske.
Ganz vorne, direkt neben der Einlassbude, stand das Zelt, das wir gesucht hatten. Offenbar ohne 2- oder 3G-Vorgaben sammelten sich dort Menschen an einer Bar und vor Feuerschalen und tranken Glühwein, Grog und heiße Schokolade. Überall waren Lichterketten aufgehängt, aus Boxen erklang Geigenmusik. Es war wirklich schön – wenn man über 50 ist. In unserem Alter war niemand in diesem Ungeimpften-Unterschlupf zu entdecken und als die Violine anfing „My heart will go on“ zu fiedeln, nahmen wir spontan Reißaus. Wir spazierten auf die Friedrichstraße auf der Suche nach anderen mit uns barmherzigen Buden – vorbei an einem abnorm breiten Fahrradweg, den unsere rot-grüne Regierung auf einem neuerdings für Autos gesperrten Straßenabschnitt eingeführt hatte – und hörten plötzlich Gesang. Naja es war eher Gegröle – als ich genauer hinhörte, konnte ich den Text von „Mamor, Stein und Eisen bricht“ erkennen. Wir folgten der Musik und kamen so zu einer kleinen Glühweinbude, die sich vor einem Hotel platziert hatte. Drum herum waren kleine Stehtische drapiert und in der Mitte stand die Quelle des Schlagergesangs – ein um die 50-jähriger Mann mit E-Gitarre. Die Stimmung erinnerte eher an Après-Ski als an besinnliche Vorweihnachtszeit. Meine Freundin, eine ehemalig- passionierte Wiesn-Gängerin, und ich waren sofort angetan. Wir holten uns also Glühwein und stellten uns um eine der Flammen herum.
Da standen wir dann also, wippten zur Musik und sippten an unseren Tassen. Ich kam mir plötzlich ganz schön komisch vor. So hatte ich mir mit 16 nicht das Ausgehen Anfang 20 vorgestellt. Etwas peinlich berührt schaute ich mich um und guckte mir die anderen Leute an. Die meisten waren zwischen 50 und 60 Jahre alt, manche sprachen Englisch, andere quatschten im breitesten Berliner Dialekt. Alle waren gut gelaunt. Als ein älterer Mann plötzlich lautstark „Ohhhhhhh ich hab’ solche Sehnsucht…“ anstimmte, musste ich lachen. ‚Schwere Zeiten erfordern Maßnahmen‘, dachte ich mir, und stimmte in den Gesang mit ein. Meine Freundin hatte auch schon längst angefangen mit zu klatschen und so standen wir da – singend und schunkelnd in der Dezemberkälte auf der Friedrichstraße.
Nach einer kurzen Zeit stellte sich eine Männergruppe an unseren Tisch und begann zu plaudern. Meine Freundin und ich tauschten bedeutungsschwere Blicke aus und öffneten unauffällig unsere Haare. Einer der Männer war ganz aufgebracht und erzählte seinem Freund: „Du ich war gestern im Impfzentrum und wollte mich mit Biontech impfen lassen und die haben das einfach nicht gemacht. Die haben gesagt, ich kriege nur Moderna!“. Ich guckte mir das aufgebrachte, nahezu aufgelöste Gesicht dieses jungen Mannes an und kramte unwillkürlich wieder nach meinem Haargummi. Als sein Freund dann noch anfing über „Covidioten“ und „Impfverweigerer“ zu schwadronieren, hatten meine Freundin und ich genug. Da es eh kalt geworden war, beschlossen wir, zurück zum Auto zu gehen.
Als wir nur noch wenige Meter von meinem Flitzer entfernt waren, mussten wir an einer Polizeisperre vorbei. Zwischen mehreren großen Polizeiwannen standen vielleicht zwanzig ältere Männer und Frauen. Die meisten hatten krause Frisuren, einer hatte sich eine Lichterkette umgehängt – alle sahen etwas hippiemäßig aus. In der Mitte der Menschenmenge zählte gerade ein Redner Fälle von Impfnebenwirkungen auf. Ich kannte die Gruppe nicht, sie schien aber gegen die Einführung einer Impfpflicht zu demonstrieren. Als wir uns einen Weg durch die Menschen bahnten, fing von der anderen Straßenseite plötzlich jemand an zu schreien: „Ihr seid Faschisten! Faschiiiiiiiiiiiiisten“. Ich drehte mich um und sah, dass es ein junger Mann war, der da brüllte. Obwohl er nicht mich, sondern die Demonstranten meinte, lief es mir kalt den Rücken herunter. Etwas paralysiert liefen meine Freundin und ich an den Polizeiwägen vorbei zum Auto. Soviel zu besinnlichen Weihnachten, dachte ich mir – und sehnte mich nach meinem Cocktail am Strand.
Von Sarah Victoria | Weihnachten, das bedeutet für mich Tannenduft, ganz viel Essen und ein Spaziergang durch die Nachbarschaft auf dem Heimweg aus der Kirche. Viele Jahre saß ich mit meiner Familie erst im Familiengottesdienst, später in der Christmette unserer kleinen evangelischen Gemeinde. Dieser Besuch war mit meinen Eltern nicht verhandelbar, wobei ich sowieso nicht auf die Idee gekommen wäre, stattdessen zu Hause zu bleiben. Zum einen fand ich es schön, an Weihnachten ein bisschen religiösen Kontext herzustellen, sich zu besinnen und vielleicht bekannte Gesichter zu treffen. Außerdem war ich einige Jahre Mitglied der Jugendarbeit und damit an der Gestaltung des Familiengottesdienstes beteiligt. Und das heißt an Weihnachten natürlich nichts anderes als Teil des Krippenspiels zu sein.
Zwecks Personalmangel wurde das schauspielerische Resümee schnell gefüllt, vom Hirten über die heiligen drei Könige (damals schon geschlechtsneutral interpretiert), von klassischer und moderner Inszenierung, mit und ohne Gesangseinlagen, war alles dabei. Irgendwann fand diese Karriere ihr Ende, aber die Tradition des Kirchenbesuchs blieb. Die kleine evangelische Kirche platzte dabei immer aus allen Nähten, es wurden bis zuletzt so viele Stühle wie möglich rein getragen, dazu aufgerufen, sich noch etwas enger an den hustenden Sitznachbarn zu kuscheln und wenn wirklich alles voll war, wurden die letzten Besucher noch mit auf die Orgelbank gequetscht. Niemandem wäre es in den Sinn gekommen, an diesem Tag Stühle abzuzählen, Leute vor der Tür stehen zu lassen oder gar Teilnehmerlisten zu führen. Gerade letztere werden in einer bayerischen Kleinstadt sowieso mündlich geführt.
Diese Zeiten erscheinen gerade so fremd, obwohl sie erst ein paar Jahre zurückliegen. Der Weihnachtsgottesdienst wird auch dieses Jahr wieder stattfinden. Doch dieses Jahr muss man, so wie letztes Jahr, erst bei der Gemeinde anrufen, um einen Platz zu reservieren. Es gibt kein Krippenspiel, keinen Kinderchor, kein gemeinsames Singen. Dafür Maske, Abstand und einen Spender Desinfektionsmittel am Eingang. Das schon fast obligatorische Duo für einen Gottesdienst, der mit Reizhusten geplagte ältere Herr und das unglückliche Neugeborene, werden dieses Jahr vermutlich nicht anwesend sein. Zu groß das Risiko, sich mit einem Virus anzustecken, oder gar in den Verdacht zu geraten, nicht gesund, also unsolidarisch, zu sein. Und unsolidarisches Verhalten wird weder von der evangelischen, noch von der katholischen Kirche toleriert.
Das Problem ist nur, dass jeder den Begriff Solidarität anders interpretiert. Die einen lassen sich aus Solidarität impfen, die anderen aus Solidarität testen und manche sogar beides. Als Glaubensgemeinschaft verbunden durch den gemeinsamen Glauben, geteilte Werte oder wenigstens die goldene Regel – dachte ich immer. Doch dann folgten bereits Einschnitte ins Gemeindeleben. Immer mehr Kirchgemeinden entschieden sich, erst die 3G und mittlerweile die 2G-Regel in Pfarrheimen und Gemeindehäusern einzuführen. Teilweise, weil es die Infektionsschutzverordnung oder der „Ampelstand“ so vorsah, teilweise aber auch aus Überzeugung oder Bequemlichkeit. In unserer Stadt entschied sich etwa die katholische Kirche für die 2G-Regel in ihrem Pfarrheim.
Was zur Folge hat, dass Ehrenamtler, die bis vor kurzem noch Gottesdienste geplant, die Jugendarbeit gestaltet oder sich sozial engagiert haben, nicht mehr im Pfarrheim erwünscht sind, sollten sie nicht vollständig geimpft oder genesen sein. Wer weiß, wie lange es noch dauert, bis an der Kirchentür ein großes „2G“ hängt und verkündet, dass nur noch solidarische Gläubige das Gotteshaus betreten dürfen. Der Rest darf dann draußen beten, während innen von genau dem Kind erzählt wird, das in einem Stall geboren wurde, weil die Eltern von allen Herbergen abgewiesen wurden. Soviel Ironie kann man sich kaum ausdenken.
Statt empört, oder zumindest lautstark besorgt, über die Einschränkung der Religionsfreiheit zu sein, freut sich die Amtskirche über die Selbstverständlichkeit, Gottesdienste ohne G-Regeln veranstalten zu dürfen. Und während die meisten Gemeinden dieses, von der Bundesregierung gnädigerweise erteilte, Privileg annehmen und auf eine Hygienekontrolle am Eingang verzichten, entscheiden sich andere Kirchenvorstände für die Einführung der 2G-Regel in ihren Gotteshäusern, manche mit dem Zugeständnis, dass sie über die Weihnachtsfeiertage immerhin einen Gottesdienst für Getestete anbieten.
Der Landesbischof der ELKB, Heinrich Bedford-Strohm, entschuldigt sich ausdrücklich für diese anmaßende Freiheit der Kirchen und betont, dass die Gottesdienste im Rahmen staatlicher Vorgaben mit Anmeldungen und Abstand stattfinden. „Im Lichte dieser bewährten Schutzmaßnahmen ist das Feiern dieser Gottesdienste auch zu verantworten“, heißt es in seiner Stellungnahme. Diese findet sich auf der Internetseite der Evangelisch-Lutherischen Kirche Bayerns (ELKB), auf der das RKI und bayerische Gesundheitsministerium bald öfter zitiert werden als die Bibel. Seit ein paar Monaten unterstützt die evangelische Landeskirche auch die Impfkampagne der Bundesregierung mit dem Slogan „Corona-Impfung? Na klar!“, verteilt Buttons und lässt Kirchen zu Impfzentren werden. Die Kirche und der Staat verschmelzen gefühlt immer mehr zu einer Einheit, was gerade für die evangelische Kirche, die Luther sogar im Namen führt, bedenklich ist (Stichwort: Zwei-Reiche-Lehre).
Die Kirche entfernt sich durch diese enge Verknüpfung mit der Politik Schritt für Schritt von ihrem Dasein als Wächter, greift in Sphären ein, die eigentlich dem Weltlichen überlassen sein sollten. Sowohl die evangelische, als auch die katholische Kirche, setzen bei ihrer Planung der Weihnachtsgottesdienste auf das Selbstbestimmungsrecht der Kirchengemeinden. Den Gemeinden ist es grundsätzlich erlaubt, Gottesdienste zu feiern, ob mit G-Regeln oder ohne ist ihnen allerdings freigestellt. Dieses Prinzip, das sich bei der evangelischen Kirche auch historisch bewährt hat, möchte ich gar nicht kritisieren. Kirchengemeinden sollten das Recht haben, Entscheidungen über ihre Gottesdienste zu treffen. Mich stört eher die Beeinflussung dieser Entscheidungen durch politische Narrative, die im Gegensatz zu theologischen Inhalten stehen. Denn solche Narrative sollten, gerade von einer evangelischen Amtskirche, immer hinterfragt werden. Und ich habe den Eindruck, dass der gesellschaftliche, von Angst geprägte Grundtenor immer mehr in die theologische Arbeit übergreift.
Dabei sollten doch gerade Kirchen Orte der Begegnung sein, ihre Vorstände Verteidiger eines religiösen Menschenbildes, das sich gegen den materialistischen Zeitgeist wendet, das Spaltungen kritisiert und alles daran setzt, Brücken zwischen Menschen zu schaffen. Und welche Geschichte eignet sich mehr für die Übermittlung dieser Botschaft als die Weihnachtsgeschichte? Ich weiß ja nicht, was sich Matthäus und Lukas beim Verfassen der Weihnachtsgeschichte gedacht haben, aus meiner Zeit als Krippenspiel-Darstellerin ist mir aber vor allem eine Botschaft hängen geblieben, die genau drei Wörter enthält und brandaktuell ist: Fürchtet euch nicht! Ob geimpft, genesen, getestet, für Kirchen sollte eigentlich nur ein G zählen – und das ist der Glaube.
Von Gesche Javelin | Die Nächte werden länger und in den Häusern leuchtet die erste Kerze des Adventskranzes. Ich erwarte freudig den ersten Dezember, um das Türchen Nummer eins des Adventskalenders öffnen zu können. Das Haus wird geschmückt und der Weihnachtsbaum aufgestellt. Ich hetze durch die Läden, um die letzten Geschenke einzukaufen. Die Vorfreude liegt überall in der Luft. Dann endlich ist Heiligabend da. Die Kirchen sind bis unter den Glockenturm gefüllt. Kurze Zeit später sitzt die ganze Familie lachend und quasselnd vor dem herrlich duftenden Weihnachtsessen. Leuchtende Augen schielen immer wieder auf die Geschenke unter dem Baum.
Ich liebe das Knistern, das Glitzern, das Leuchten, die Vorfreude in der Weihnachtszeit. Ich genieße, die Zeit mit der Familie. Die Liebe und Fröhlichkeit, die überall zu spüren ist, und nicht zuletzt das Essen und die Geschenke.Auch der alljährliche Gang in die Kirche, der sich immer gefühlt ewig hingezogen hat, weil ich es gar nicht erwarten konnte, endlich die Geschenke auspacken zu können, gehört für mich dazu. Traditionen, die dieser besonderen Zeit ihren Zauber geben. Was wäre Weihnachten schon ohne Traditionen?
Jedes Land hat seine eigenen Traditionen und jede Tradition hat ihre eigene kleine Geschichte. Die Venezolaner laufen mit Rollschuhen zu der Weihnachtsmesse. In der Ukraine werden die Weihnachtsbäume mit Spinnweben dekoriert. Deiner Legende nach konnte eine arme Frau sich keinen Baumschmuck leisten. Als sie am nächsten Tag aufwachte, war ihr Baum mit Spinnweben umhüllt und glitzerte im Sonnenlicht. Auch in den USA schmückt man seinen Tannenbaum gerne mit einem ungewöhnlichen Ornament. Wenn man genau hinsieht, erkennt man eine Weihnachtskugel in Form einer Essiggurke in vielen Weihnachtsbäumen. Wenn du das Glück hast, die Essiggurke als Ersterzu entdecken, bekommst du vielleicht ein extra Geschenk.
Die Spanier hoffen an Weihnachten auch auf eine Portion extra Glück. Die spanische Nationallotterie gibt zu dieser Zeit die größte Geldsumme des Jahres aus. Die frohe Botschaft – die Lottozahlen – wird von 22 Kindern singend verkündet. Das slowakische Glück wird vom Pudding abgelesen. Das ältesten Familienmitglied wirft einen Löffel voll mit Pudding an die Decke. Je mehr Pudding kleben bleibt, desto mehr Glück wird die Familie haben. Endlich mal mit Essen um sich schmeißen, ohne Ärger zu bekommen! Vielleicht sollte ich mir mal ein paar Falten aufmalen, mir die Haare weiß färben (ist ja sowieso in) und zu Weihnachten in die Slowakei gehen.
Während in Japan für das Weihnachtsessen um die letzten Plätze in der Fast-Food-Kette KFC gestritten wird – KFC hat bei den Japanern vor ungefähr 50 Jahren einen guten Start mit wahrscheinlich einer ihrer erfolgreichsten Werbekampagnen hingelegt, der bis heute anhält- , wird in Polen kein Fleisch, sondern nur Fisch aufgetischt. In Voraussicht – oder auch in Nachsicht – wird außerdem immer ein Platz zusätzlich am Tisch gedeckt, falls noch ein unerwarteter Gast kommen sollte. Dieser Brauch kommt von der Weihnachtsgeschichte, in der Maria und Joseph keine Unterkunft finden konnten.
Im hohen Norden, in Schweden, wird in Gedenken an die Legende der Lichterkönigin St. Lucia der Lucientag am 13. Dezember gefeiert. Die Heilige Lucia soll zu Zeiten der Christenverfolgung im antiken Rom Christen Essen in ihre Verstecke gebracht haben und dabei, um die Hände frei zu haben, einen Lichterkranz mit Kerzen auf dem Kopf getragen haben. Heute erfüllenweiß gekleidete Mädchen mit einem Lichterkranz auf dem Kopf das Land mit hellem Kerzenlicht. Begleitet werden sie von Jungen in weißen Hemden und einer spitzen Sternenmütze.
Schöne, lustige, komische und vor allem besondere Traditionen machen unsere Weihnachtszeit so wertvoll. Sie verbinden uns und machen uns einzigartig. Ich liebe die Unterschiedlichkeiten, die Besonderheiten. Ich liebe Weihnachten und ich liebe unsere Traditionen.