Von Pauline Schwarz | Seit Putin seine Truppen in die Ukraine einmarschieren ließ und damit den wohl brutalsten Angriffskrieg auf europäischem Boden seit Ende des zweiten Weltkriegs entfesselte, gerieten die Überzeugungen so einiger EU-Staaten ins Wanken. Während das sonst so pazifistische Deutschland plötzlich seine Bundeswehr aufmöbeln will, bröckelte in Schweden und Finnland angesichts der neuen Bedrohungslage das jahrzehntlange Festhalten an der strikten militärischen Neutralität. Entgegen allen früheren Trends, wurden die Stimmen für einen Nato-Beitritt in Politik und Bevölkerung nicht nur immer lauter, die Eintrittsanträge wurden bereits eingereicht – trotz aller Drohungen aus Moskau. In Finnland, das sich eine 1340 Kilometer lange Grenze mit dem russischen Nachbarn teilt, wurde bis vor kurzem noch im Alleingang militärisch aufgerüstet – und zurückgedacht. Auf der Münchner Sicherheitskonferenz im Februar sagte Finnlands Präsident Niinistö, die gegenwärtige Lage erinnerte ihn an die Zeit vor dem Winterkrieg. Eine Zeit, als Stalin geglaubt habe, das finnische Volk spalten und ihr Land leicht einnehmen zu können. Doch das Gegenteil war der Fall: Die Finnen sind enger zusammengerückt. Sie haben ihre Gebiete, obwohl zahlenmäßig und ausrüstungstechnisch völlig unterlegen, lange, erfolgreich und bis aufs Blut verteidigt.

Stalin hatte im Jahr 1939 wohl gedacht, dass es ein Leichtes werden würde, den finnischen Nachbar zu überfallen und zu überwältigen. Nach Unterzeichnung des Hitler-Stalin-Paktes im August 1939, stellt Stalin im September weitreichende Gebietsansprüche an den finnischen Staat – im „geheimen Zusatzprotokoll“ wurde nämlich nicht nur Polen unter den zwei Großmächten aufgeteilt. Estland, Lettland, später Litauen und Finnland wurden den „Interessensphären“ der Sowjetunion zugesprochen. Als die finnische Regierung die Forderungen zurückwies, kündigte Stalin am 28. November 1939 den seit sieben Jahren bestehenden Nichtangriffspakt und ließ seine Armee zwei Tage später -nach einem vorgetäuschten Überfall von Finnen auf ein russisches Dorf im Grenzgebiet- nach Finnland vorrücken. Da die Finnen sich nicht freiwillig unterwarfen, wollte er sich seine Beute aus dem Hitler-Stalin-Pakt wohl mit Gewalt holen.

Die Rote Armee überschritt die Grenze mit fast 500.000 Soldaten, 1.500 Panzern und 3.000 Flugzeugen. Finnland standen hingegen nur etwa 150.000 Mann zur Verfügung. Sie hatten nicht mehr als veraltete Geschütze, kaum Panzer und Flugzeuge – aber dafür einen herausragenden Kommandanten. Carl Gustav Emil Mannerheim war ein ehemaliger russischer General, hatte Zar Nikolaus II. bei seiner Krönung als Teil der Leibgarde zur Seite gestanden, 30 Jahre in Russland gelebt und war nun fest entschlossen sein Heimatland gegen die Invasoren zu verteidigen – als zarentreuer Offizier hatte er der Sowjetunion schon nach der Machtergreifung der Bolschewiki den Rücken gekehrt. Er war es auch, der als Oberbefehlshaber der bürgerlichen Kräfte die „Roten Garden“ im finnischen Bürgerkrieg 1918 zurückgeschlagen hatte. Danach war er kurzfristig Reichsverweser und diente ab 1933 wieder als Feldmarshall. Als die Rote Armee in Finnland einfiel, sollte er erneut zum „Retter Finnlands“ werden.

Mannerheims Truppen konnte den Vormarsch der Sowjets dank einer dünnen Befestigungslinie, die sich über die Karelische Landenge zog, nach nur wenigen Tagen aufhalten. Das einfache System aus Bunkern, Schützengräben und Drahtverhauen wurde später als „Mannerheim-Linie“ weltbekannt. Sie lief entlang des Flusses Vuoksi, dessen seeartige Ausläufer kaum von einer motorisierten Armee überwunden werden konnten. Doch allein um bis zur Mannerheim-Linie zu gelangen, brauchten die sowjetischen Truppen eine ganze Woche. Dann lief sich die Offensive fest – auch wegen des einsetzenden Winters mit bis zu 50 Grad minus. Während die kleinen finnischen Infanterie-Einheiten ausgerüstet mit Schneeanzügen auf Skiern durch die Wälder glitten, hatten die sowjetischen Soldaten weder Winterausrüstung noch Tarnanzüge. Ihre Waffen versagten, weil das Schmieröl gefror. Die Fahrzeuge verbrauchten immense Mengen Treibstoff, weil der Motor ständig am Laufen gehalten werden musste – Unmengen, die über die dünnen Nachschubwege unmöglich ersetzt werden konnten. Die Kampfmoral muss ebenfalls gelitten haben – unter der Kälte, wie unter falschen Versprechungen. Denn den Soldaten soll gesagt worden sein, dass das unterdrückte Proletariat Finnlands sie als Befreier empfangen und sich auf ihre Seite schlagen würde. Aber das Gegenteil war der Fall.

Mannerheim nutzte den taktischen Vorteil von Wetter- und Landschaftskenntnis und setzte auf die „Motti-Taktik“, bei der man sowjetische Einheiten von ihren rückwärtigen Verbindungen abschnitt und einkesselte. Die Finnen nutzen außerdem die Taktik der „verbrannten Erde“. Sie brannten ihre eigenen Dörfer nieder und zerstörten alles, was den Feinden nützlich sein könnte – selbst Nutztiere sollen mit Sprengfallen versehen worden sein. Außerdem lauerten überall Scharfschützen, die im tödlichen Weiß wohl beinah unsichtbar gewesen sein müssen. Die Finnen waren ausdauernd und einfallsreich. Eine bis heute weltbekannte Erfindung der finnischen Truppen ist eine mit Benzin gefüllte Flasche, die mit einem Stofffetzen entzündet wird – der „Molotow-Cocktail“. Für die Finnen war der Cocktail die sarkastische Antwort auf eine Erklärung des sowjetischen Außenministers Molotow, der propagierte, die sowjetischen Flugzeuge würden statt Bomben nur Brotsäcke für die arme hungernde Bevölkerung abwerfen: Zum Brot gab´s nun das passende Getränk.

Neben dem Willen und dem Einfallsreichtum der finnischen Truppen war wohl auch Stalin selbst Grund für die enormen Verluste und die -zumindest zeitweilige- Unterlegenheit seiner Truppen. Stalin hatte getrieben von seinem Verfolgungswahn im Zuge der Parteisäuberungen 1937 seinen gesamten Offizierskorps als Verschwörer und Verräter verhaften und töten lassen. Dem internen Terror fielen etwa 10.000 Offiziere zum Opfer – die Armee wurde von der eigenen Führung zersetzt. Sie soll sich davon bis zum Beginn des zweiten Weltkriegs nicht erholt haben. Den sowjetischen Soldaten in Finnland könnte es demnach an sachkundiger Führung gefehlt haben – angesichts der Tatsache, dass sie nicht mal Winterkleidung hatten, wohl nicht besonders weit hergeholt.

Erst als die Truppen der Roten Armee stark verstärkt wurden, gelang ihnen im Februar 1940 der Durchbruch der Mannerheim-Linie. Die Finnen hatten verloren – und doch gewonnen. Über 200.000 Russen sollen im Winterkrieg ihr Leben gelassen haben – wurden erschossen, versprengt oder sind schlichtweg erfroren. Auf finnischer Seite beklagt man etwa 27.000 Tote. Stalins Armee war zu diesem Zeitpunkt in so schlechter Verfassung, dass er seinen Plan, ganz Finnland wieder in die Sowjetunion einzugliedern, aufgeben musste. Er bekam eine 35.000 Quadratkilometer große Schutzzone um Leningrad. Finnland verlor damit einen Teil seines Gebiets, aber es hatte sich seine Souveränität bewahrt. Seither gilt der Winterkrieg als Sinnbild für die Schlacht von David gegen Goliath – für den Moment als Finnland dicht zusammenstand und sich auch keiner noch so großen Übermacht beugen wollte. Er steht für den finnischen Unabhängigkeitswillen.