BR bricht Schüler-Umfrage zum Gendern ab – Ergebnis passte nicht

Von Sven Justin Verst | Zum ARD-Diversity-Tag 2022 veranstalteten Das Erste und der Bayerische Rundfunk eine Podiumsdiskussion zum Thema Gendern – also zu geschlechtssensibler Sprache. Einer, die alle Geschlechter, von denen es laut der politischen Linken eine unbegrenzte Anzahl gibt, anspricht. Damit sich ja kein er, keine sie, kein es, keine Topfpflanze oder als was man sich auch immer grade identifizieren mag diskriminiert fühlen. In der Sendung, die sich vor allem an Schüler richten sollte, wurde die Notwendigkeit der Sprachverschandelung 40 Minuten lang propagiert – zum Entsetzen der Diskussionsteilnehmer ging der Plan ihr Weltbild mit Umfragen zu untermauen, jedoch total in die Hose: bei jeder Abstimmung lehnte eine klare Mehrheit der jungen Leute die Gendersprache ab. 

Zur Begrüßung brauchte die Moderatorin eine halbe Minute und hieß Schülerinnen, Schüler, Schülerinnen und Schüler, Schüler*Innen sowie Lernende Herzlich Willkommen. Bevor dann fleißig „diskutiert“ wurde, führte man vorab eine Umfrage durch, bei welcher lediglich 11 % Gendern für wichtig hielten. Die restlichen 89 % empfanden es entweder für unnötig oder hatten dazu keine Meinung. Darauf reagierten die geladenen Gäste, welche selbstverständlich alle pro Gendersprache waren, mit Entsetzen. So erklärte Fridays for Future Aktivistin Fabia Klein, dass Sie in ihrem gymnasialen Umfeld selbstverständlich gendert und es nicht verstehen kann, wie diese Umfragewerte zustande kommen. Sie und weitere Gäste erörterten anschließend für circa 40 Minuten, weshalb Gendersprache wichtig ist.

Moderiert wurde die Runde von Claudia Stamm, die ähnlich wie der öffentlich-rechtliche Rundfunk alles andere als neutral ist. Denn Claudia Stamm war bis 2017 Mitglied von Bündnis 90/Die Grünen und saß sogar für die Partei im bayerischen Landtag – wen wundert es also, dass sie anschließend als Moderatorin beim Bayerischen Rundfunk arbeiten kann.

Peinlich für die Teilnehmer der Podiumsdiskussion war, dass am Ende der Diskussionsrunde bei der Publikumsumfrage die Mehrheit Gendersprache entweder weiterhin ablehnte oder sogar aufgrund der Podiumsdiskussion ablehnte. Lediglich um die 9 % wurden von der Podiumsdiskussion überzeugt – deshalb wurde die Umfrage unter dem Vorwand „so schwierig war die Frage nicht“, dann auch gleich wieder beendet. Doch auch wenn es dem ÖRR nicht passt: Diese Ergebnisse decken sich mit anderen Umfragewerten zu Gendersprache – deshalb erklärt die Moderatorin gleich mal ganz offen, was sie von den Umfragewerten hielt. Nach ihrer Meinung seien allein die 9 % eine positive Entwicklung. Um die restlichen jungen Leute zu überzeugen, müsse das Thema einfach erneut und öfter „diskutiert“ werden. 

Der durch Zwangsabgabenöffentlich-rechtliche Rundfunk ist also nicht zufrieden, wenn seine um Erziehungsbemühungen auf taube Ohren treffen – einzusehen, dass eine Mehrheit die Verschandelung unserer Sprache ablehnen, kommt aber noch weniger in die Tüte. 


„Layla“ reicht nicht. Gebt uns mehr Verbote!

Von Marius Marx | Achtung, Achtung, ich muss Sie eindringlich warnen. Dieser Text reproduziert Sexismus. Lesen auf eigene Verantwortung. Tanten haften für ihre Neffen, oder so ähnlich. 

Meine Damen und Herren, Sie werden es vermutlich mitbekommen haben: Die deutsche Schlager- und Kulturszene ist seit wenigen Tagen um eine in Sachen Peinlichkeit kaum zu überbietende Sexismus-Debatte reicher. Gegenstand dieser nur mehr belustigenden Debatte ist der Ballermann-Hit „Layla“ von Michael Müller alias „Schürze“ und DJ Robin, bürgerlich Robin Leutner. 

Aus gegebenen Anlass und damit sich jeder Leser ein eigenes Bild machen kann, zitiere ich an dieser Stelle den Refrain des Liedes. Der geht so: „Ich hab‘ ’nen Puff und meine Puffmama heißt Layla – Sie ist schöner, jünger, geiler – La-la-la-la-la-la-la-Layla – La-la-la-la“. Und damit ist im Grunde auch schon der gesamte Inhalt des Textes erschöpfend wiedergegeben, denn viel mehr erfährt man über besagte Layla eigentlich nicht. 

Der Stadt Würzburg als Veranstalter des Kiliiani-Festes und dem Schützenverein St. Sebastianus als Veranstalter der Düsseldorfer Rheinkirmes ist das jedenfalls zu viel. Sie haben nun beide vor wenigen Tagen das Abspielen des Nummer-Eins-Hits untersagt. Begründung: der Text sei sexistisch und hätte auf einem Volksfest nichts zu suchen. Die Würzburger Verantwortlichen haben sich bei ihrer Entscheidung auf eine Verwaltungsvereinbarung aus dem vergangenen Jahr berufen. Damals ging es um das „Donaulied“, in dem es um die Vergewaltigung einer schlafenden Frau geht. Die Stadt beschloss, dass „jede Art von rassistischem, sexistischem oder extremem Liedgut“ auf städtischen Veranstaltungen unerwünscht sei. 

Bürgermeister beim „Layla“-Grölen erwischt

Die selbsternannten Sittenwächter haben damit einmal mehr einen exquisiten Griff ins Klo gelandet. So tauchte kürzlich ein Video auf, das den Würzburger Oberbürgermeister Christian Schuchardt selbst noch zu „Layla“ feiernd in einem Bierzelt bei der Eröffnung des Kiliani-Festes zeigt. Auf Anfrage des Bayerischen Rundfunks gibt der in flagranti erwischte CDU-Mann zu Protokoll: „Den Liedtext habe ich erst vorgestern (am 11. Juli) gegoogelt und mich damit auseinandergesetzt und ich finde ihn nicht gut. Den vollständigen Liedtext habe ich aber in der Festzeltatmosphäre auf jeden Fall nicht bewusst wahrgenommen.“ Und weiter: „Außer auf Kiliani höre ich keine Ballermann-Musik. Die Liedlisten der Bands sind mir auch nicht bekannt.“ Der Rhythmus des Liedes sei „aber auf jeden Fall gut“, so Schuchardt. 

Und dass das nicht gerade die Einhaltung des Song-Verbots befördert hat, ist auch nicht gerade überraschend. Sowohl in Würzburg als auch in Düsseldorf scheinen sich sowohl DJs als auch Besucher nicht im Geringsten um das Verbot zu scheren. Die Moralpolizisten haben sich wohl ein klein wenig verkalkuliert. Die woke Zensur kommt bei den feierlustigen Leuten jedenfalls bislang eher so semi-gut an. 

Und wenn sogar die Süddeutsche kommentiert, „Warum das Würzburger Quasi-Verbot von „Layla“ dümmer als der Text ist“, dann muss endgültig eingesehen werden, dass die ganze Nummer komplett nach hinten losgegangen ist. Im Gründe müssten die Musiker und Produzenten von „Layla“ die verklemmt-humorlosen Veranstalter, die mit ihren Verboten überhaupt erst die Sexismus-Debatte ausgelöst sowie für die Popularität und Aufladung des Ballermann-Hits als musikalisches Symbol gegen die woke Verbotskultur gesorgt haben, an ihren saftigen Gewinnen beteiligen. Eine bessere Werbe- und Verkaufskampagne als diese Liedverbote hätten sich diese vermutlich überhaupt nicht ausmalen können. Schließlich liegt „Layla“ schon seit Wochen auf Platz eins der deutschen Single-Charts. „Schürze“ und „DJ Robin“ können sich also auch bei den Volksfest-Verantwortlichen in Düsseldorf und Würzburg für den überwältigenden Erfolg ihres Songs bedanken. 

Nicht Grammy verdächtig und das ist auch gut so

Gut, falls das noch nicht jedem klar ist: Grammy verdächtig ist der Song nicht. Das Schöne an Ballermann-Songs ist ja aber, dass das auch gar nicht der Anspruch ist. „Layla“ ist ein simpler Party-Hit, mit eingängigem Rhythmus und einem Text, den man auch noch um vier Uhr früh und 2,3 Promille auswendig mitgrölen könnte. Und um mehr geht es doch bei solchen Liedern auch nicht. „Layla“ ist ein Song für feuchtfröhliche Bierzelte und ausgelassene Besoffene auf Mallorca oder Ibiza und nicht für den sexismuskritischen Deutsch-LK irgendeiner integrativ-kooperativen Hildegard von Bingen-Gesamtschule im Prenzlauer Berg. Das scheinen die Veranstalter (im Übrigen überwiegend alte weiße Männer) in ihrer moralischen Aufregung um die Adjektive „schöner, jünger, geiler“ allerdings grandios verkannt zu haben. 

Mir soll das recht sein. Immerhin bin ich überzeugt, dass auch künftige Cancel-Versuche der neuen woken Sittenwächter nach hinten los gehen werden. Also liebe Spaßverderber: Nur Mut zum Verbot! 


Die Inflation ist sozialer und politischer Sprengstoff

Von Michel Valtey | Die Inflation frisst sich immer weiter in die Geldbeutel der breiten Gesellschaft. Monate wurde sie geleugnet, danach für „nur vorübergehend“ erklärt, dann für gut verkauft und schließlich Putin in die Schuhe geschoben. Vor allem Geringverdiener, die proportional einen hohen Anteil ihres verfügbaren Einkommens für Güter des täglichen Bedarfs ausgeben sind stark betroffen. Um das zu erfahren, reicht ein einfacher Gang in den Supermarkt oder die Fahrt zur Tankstelle. Preissteigerungen von teilweise mehr als 50% sind keine Seltenheit mehr. Staatliche Subventionen wie das Energiegeld, der Tankrabatt oder das 9-Euro Ticket ändern an der sich immer weiter zuspitzenden Lage nur wenig. 

Doch wie soll es weitergehen? Die kommenden Monate und Jahre werden für einen großen Teil der Bevölkerung wohl durch einen spürbaren Wohlstandsverlust in der Erinnerung bleiben. Hohe Inflationsraten sind darüber hinaus in der Geschichte bisher häufig mit sozialen Unruhen oder starken Verwerfungen einhergegangen. Um das zu erkennen, reicht ein Blick auf die Weimarer Republik und die dortige Hyperinflation von 1923. Es ist leicht zu verstehen, dass Inflation in keiner Weise verharmlost werden darf. Mit Rückblick auf die damals folgende soziale und politische Katastrophe des sich daraus entwickelnden Nationalsozialismus, scheint es fast absurd, wie wenig Bedeutung die Thematik in der Politik heute wirklich einnimmt. Es scheint der Politik im Moment wichtiger zu sein, Toiletten für das dritte Geschlecht zu schaffen, als die Probleme der breiten Bevölkerung ernst zu nehmen.


Woran liegt es, dass sich Politik nicht mit vollem Einsatz dafür sorgt, das Problem anzugehen? Wahrscheinlich schlichtweg daran, dass es sich bei der Inflation nicht um ein durch Corona oder den Krieg in der Ukraine ursächlich ausgelöstes Problem handelt. Seit der Euro-Einführung sagten  schon dutzende Experten steigende Inflationsraten voraus. Schon früh wurde als Problem des Euros benannt, dass viele Länder mit stark unterschiedlicher Wirtschaftskraft auf Dauer nicht die gleiche Währung haben können, da ihnen sonst die Möglichkeit der Auf- und Abwertung fehlt. Dazu kommen die andauernden Rettungsorgien der südeuropäischen Länder, die ohne das massive Aufkaufen von Staatsanleihen durch die europäische Zentralbank längst bankrott gegangen wären, um nur zwei Grundprobleme des Euros zu nennen. Doch zu schön war es aus politischer Sicht, viele europäische Staaten mit einer einzelnen Währung zu beglücken und sie somit näher zusammenzubringen. Das Infragestellen des Euros würde das Scheitern eines der entscheidenden Projekte auf europäischem Boden bedeuten. Dies scheint aus Brüsseler Sicht keineswegs hinnehmbar zu sein.


Doch so unangenehm das Eingestehen von Fehlern auch sein mag – es muss nun endlich entschlossen gehandelt werden. Die EZB muss aus der unverantwortlichen Nullzinspolitik aufwachen, um größeren Schaden abzuwenden. Ihre aktuellen Pläne, den Leitzins auf 0,25 Prozentpunkte zu erhöhen, sind zwar ein guter Anfang. Jedoch im Vergleich zu anderen Ländern zaghaft (Apollo berichtete). Grundsätzlich gilt: Das Konzept des heutigen Euros sollte dringend überdacht werden. Ländern, denen der Euro als Währung zu stark ist, wäre es wohl besser anzuraten, das Projekt für ihr Land als gescheitert zu erklären und die Reißleine des Austritts zu ziehen. Sollte dies alles aus politischer Sicht nicht umsetzbar sein, sollte sich Deutschland letztendlich überlegen, den Euro selbst als gescheitert zu erklären und zu verlassen. Damit könnte die Geldwertstabilität wieder in eigene Hände genommen werden, wie es die Bundesbank viele Jahrzehnte vorgemacht hat. Geldwertstabilität korreliert nämlich nicht ohne Grund mit Wohlstand und sozialem Frieden – sie stellt eine der Grundlagen der heutigen Gesellschaft dar. 


9-Euro-Ticket – Welcher Irre hat sich das ausgedacht?

Von Moritz Klein | Sie wollen umweltbewusster sein und das Auto mal stehen lassen? Der Zug ist abgefahren! Wo noch vor einigen Wochen die Maskenpflicht und Abstandsregeln herrschten, drängeln sich heute mehrere 100 Leute in einen Waggon. Das reinste Chaos. Züge fallen aus oder müssen gestoppt werden, Menschen, die zur Arbeit müssen, kommen nicht in den Zug hinein und manch anderer entscheidet sich dann doch für’s Auto.

Gedacht war das Neun-Euro-Ticket als Entlastung für die stark gestiegenen Energiekosten und als Anreiz, das Auto stehen zu lassen. Blöd nur, dass das Ticket ausschließlich für den Nahverkehr gilt. Das heißt, wenn das Nahverkehr-System auf Grund der Überlastungen kollabiert und kein Zug (bzw. nur mit halber Besatzung, wie in der Berliner Morgenpost berichtet) fährt, dann ist man gerade zu gezwungen, mit dem Auto zu fahren. Und wer keins hat und auf die öffentlichen Nahverkehrsmittel angewiesen ist, der kann gucken, wo er bleibt. Höchstwahrscheinlich zuhause. Von Solidarität nicht ein Hauch einer Spur.

Da gerade Deutschland der Solidarität immer zu nacheifert, wundert es mich um so mehr. Von Solidarität wurde auch immer gesprochen, als es um die Corona-Abstandsregeln ging. Man solle den Kontakt zu anderen meiden und Abstand halten, da das ja sonst, laut Politik und öffentlich Rechtlichen, das Todesurteil für die eigene Oma sein hätte können. Doch wenn es eine Fahrkarte für neun Euro gibt, kann man auch mal seine Prinzipien über Bord werfen. Des Weiteren steht in den Deutsche-Bahn-Hygieneregeln, man solle auf ein Händeschütteln verzichten. Wenn ich ehrlich bin, schüttle ich lieber den 100 Leuten die Hand, anstatt mich mit ihnen auf engstem Raum durch die Gegend fahren zu lassen!

Unser Autor hat sich das Chaos in den Bahnen selbst angeguckt.

Über sieben Millionen Tickets wurden seit Verkaufsstart verkauft. Ein Großteil davon fährt nun mit dem Nahverkehr durch ganz Deutschland und schaut sich Sehenswürdigkeiten an. An sich eine schöne Sache, völlig alltäglich. Auf der anderen Seite jedoch treffen sich Punks und andere, nicht in die Gesellschaft integrierbare, zu großen Scharen, um den „bösen Reichen“ eins auswischen zu können. Dabei sagte ein Punk in einem Straßeninterview: „Wir sind hier um Remmidemmi zu machen“, seine Freundin, ebenfalls ein Punk, korrigierte und meinte: „Ne, eigentlich wollen wir nur saufen…“.

Das Verschleiern des eigentlichen Motivs hat leider nicht funktioniert. Schade. Nach dem Pfingstwochenende, sah Sylt aus wie das Wohnzimmer einer Wohnung in der Berliner Liebigstraße 34. Wo man auch hinguckt – auf den Bahnhöfen, in den Zügen oder auf Sylts schönsten Promenaden – überall schaut man in dasselbe von Frustration und Fassungslosigkeit geprägte Gesicht. Eine Ruhigstellung des Volkes, welches unter den Spritpreisen und der Inflation leidet. Den Menschen, die sich nun in die Schlangen der Tafel einreihen müssen, ist mit einem Ticket, welches nur im Nahverkehr gilt, wenig geholfen.

Nicht nur die Umsetzung, sondern auch die Zeit sind einfach undurchdacht. Aufgebrachte Fahrgäste streiten sich auf Bahnhöfen und in Zügen, Menschen, die normalerweise mit dem Nahverkehr unterwegs zur Arbeit oder Uni sind, kommen nicht in Züge rein oder müssen sich zu fünft einen Sitzplatz mit Punks teilen. Bürger, die sich dazu entschlossen haben, das Auto mal stehen zu lassen, werden überzeugt, dass diese Entscheidung eine Schnapsidee war. Zum Glück müssen wir das nur für drei Monate aushalten. Dann fährt jeder wieder schwarz oder mit dem Auto. 


Erinnerungen an den Corona-Wahn. Eine Kurzgeschichte

Von Marius Marx | Es muss Mitte Oktober gewesen sein, etwa gegen 10 Uhr abends. Es war dunkel, windig und kalt und trotzdem schwitzte ich. Das ist das nervigste an Herbst und Winter: Praktisch nie ist man richtig angezogen. Immer ist die Jacke entweder zu dünn und man friert oder man wähnt sich ausnahmsweise einmal der Kälte angemessen gekleidet, schwitzt dann aber bei den geringsten körperlichen Anstrengungen, sei es Fahrradfahren oder Treppensteigen, als hätte man soeben mindestens drei Stunden im Fitnessstudio zugebracht.

Daran muss ich zum wiederholten Male denken, als ich gerade aus dem Zug steige, der mich nach ausgedehnten Semesterferien in Schweden und Brandenburg soeben von Berlin zurück nach Göttingen gebracht hat.
Weil mein Bus nicht direkt vom Bahnhof fährt, laufe ich in den Händen mit je einer Sporttasche bewaffnet und einem Rucksack auf dem Rücken in Richtung Universität. In Abständen von rund 50 Metern eine Pause einlegend und unter den wahlweise mitleidigen, belustigten, zumindest aber skeptischen Blicken der Passanten, die unter der Woche zu dieser Zeit noch unterwegs sind, gehe ich, d.h. viel mehr schleppe ich mich vorbei an Amtsgericht, Finanzamt und schließlich auch dem Iduna-Zentrum gegenüber der Universität – dem größten Hochhaus der Stadt, das im Volksmund nur „Villa Kuntergrau“ oder „Bunker“ genannt wird – und erreiche gleichermaßen abgehetzt wie durchgeschwitzt die angesteuerte Bushaltestelle. Immerhin regnet es nicht mehr, denke ich und stelle meine Sporttaschen unter die digitale Anzeigetafel, die mir freundlicherweise verrät, dass mein Bus als Übernächstes kommen wird.

Endlich von dem Gewicht der Taschen befreit, setze ich meine Kopfhörer auf und mich in eine der Sitzschalen. Lange währt die Entspannung jedoch nicht, erblicke ich doch aus Richtung Altstadt schon die beiden angekündigten und nun im Augenwinkel herannahenden Busse. Also beginne ich zu kramen: Semesterticket? Maske? Wohnungsschlüssel? Alles da? Ja, also dann. Innerlich theatralisch aufstöhnend erhebe ich mich schwerfällig, ziehe schon mal die Maske übers Kinn, halte das Semesterticket vorzeigebereit in der Hand, greife die Sporttaschen, laufe zum hinteren der beiden Busse, steige unter prüfenden Blicken des Fahrers ein und setze mich schließlich kurz vor dem Gelenk, also in etwa auf mittlerer Höhe des Busses auf einen der blauen Sitze mit nicht weiter definierbaren gelben Akzenten.

Die Busfahrt verläuft weitgehend unspektakulär. Die wenigen Mitfahrer sind entweder in ihr Handy vertieft, dösen träge vor sich hin oder schauen unbeteiligt aus dem Fenster. Abgesehen vom Motorenbrummen ist es still, niemand unterhält sich, zumindest erreichen mich durch meine Kopfhörer nicht wie sonst vereinzelte Gesprächsfetzen. Alle – mir inklusive – erwecken den Eindruck, als befänden sie sich im menschlichen Äquivalent zum Energiesparmodus, alle scheinen einfach schnellstmöglich ihre Wohnungen erreichen, für sich sein, vielleicht noch du- schen gehen oder sich einen Tee kochen und dann erschöpft in ihr Bett niedersinken zu wollen. In solchen Augenblicken male ich mir gerne die Leben aus, die diese Menschen wohl führen mögen, stelle mir vor, womit sie ihr Geld verdienen und Überlegungen an, woher sie gerade kommen und fahren könnten, fantasiere über ihre Wohnverhältnisse und stelle mir die Frage, wer wohl auf sie wartet, wenn sie in wenigen Minuten ihre Wohnungstür aufschließen. Ich versuche abzuschätzen, worüber sie in diesem Moment wohl nachdenken, wie sie dem

Zeitgeschehen gegenüberstehen und bin gerade gedanklich damit beschäftigt, die Mitfahrer politischen Parteien zuzuordnen, als mein Gedankenfluss, meine verträumte Zeitvertreibsfantasterei jäh von einer scheinbar unbegründeten Fahrtunterbrechung gestoppt wird. Angestrengt aber erfolglos versuche ich mir einen Reim auf den unplanmäßigen Halt am Straßenrand zu machen. Ersatzhaltestelle? Nein, die Türen bleiben geschlossen, ich sehe nieman- den, der Anstalten macht ein- oder auszusteigen. Rote Ampel? Fehlanzeige. Was käme sonst in Frage? Vielleicht ein Krankenwageneinsatz? Auch diese Vermutung kann mit einem flüchtigen Blick auf die Straße nicht bestätigt werden. Was könnte es sonst sein, das uns hier nicht weiterfahren lässt? Geht es dem Busfahrer nicht gut? Braucht er möglicherweise medizinische Hilfe? Nein, offenkundig nicht. Denn just in dem Moment – als ich leicht verwirrt und mittel besorgt den Gang hinunter in Richtung des Fahrersitzes spähe – erhebt sich dort schwungvoll der Busfahrer von seinem Sitz, stößt sichtlich genervt seine Fahrertür auf und steigt auf den Gang herab. Der Grund für unser plötzliches Anhalten scheint offensichtlich also nicht außerhalb, sondern innerhalb des Busses zu liegen. Dem Anschein nach latent erregt, zumindest aber sichtlich unglücklich, schiebt sich der hagere Mann, den ich grob auf etwa Mitte Fünfzig schätzen würde, nicht sonderlich schnell aber durchaus bestimmt und gezielt Reihe um Reihe nach hinten. Schon beginne ich aufs Neue zu überlegen, was wohl vorgefallen sein könnte, das den Mann so energisch in den hinteren Bereich des Busses zieht, da bleibt er unvermittelt abrupt vor mir stehen und gibt mir mit fuchtelnden Armen zu verstehen, dass ich doch bitte meine Kopfhörer absetzen möge.

Nun beginne ich zu begreifen, dass mir offensichtlich seine ungeteilte Aufmerksamkeit gilt, sein Ausflug aus der Fahrerkabine anscheinend mir gewidmet ist, ja, dass ich womöglich der Grund für die Fahrtunterbrechung bin.
Ich nehme also die Kopfhörer ab und schon geht es los: „HIER HERRSCHT MASKENPFLICHT, ALSO HABEN SIE GEFÄLLIGST IHRE MASKE AUCH RICHTIG ÜBER NASE UND MUND ZU TRAGEN. ANSONSTEN KÖNNEN SIE HIER GLEICH AUSSTEIGEN, JUNGER MANN“.

Erst jetzt bemerke ich, dass ich wie vorgeworfen tatsächlich die Maske unter der Nase und nur über dem Mund trage. Unbewusst habe ich – nach wie vor durch das Taschengeschleppe durchgeschwitzt und überhitzt – die Maske Atemzug um Atemzug langsam unter die Nase abrutschen lassen, um zumindest für etwas Abkühlung zu sorgen.

Ohne jedoch eine rechtfertigende Erwiderung meinerseits ab- bzw. zu erwarten, macht der Mann (wohlgemerkt ohne selber eine Maske zu tragen) prompt wieder kehrt und strebt schlenkernd seinem Fahrersitz entgegen.
Ich bin so dermaßen überrascht über die Szene, die sich vor wenigen Sekunden abgespielt hat, dass ich zu keinem klaren Gedanken fähig bin, vermutlich sogar rot anlaufe und außer wirrem Gestammel vermutlich eh nichts herausbekommen hätte. Einigermaßen fassungslos darüber, dass diese Bagatelle tatsächlich Anlass für den Ausflug des Busfahrers war, versuche ich mich zu sammeln und meinen nun schwirrenden Kopf zu sortieren.

Die müden, durchdringenden und – sofern ich das durch die Masken beurteilen kann – unerfreulichen Blicke meiner Mitfahrer auf mich ziehend und damit also von der verträumten Beobachterrolle zum gepeinigten Beobachteten, zum allgemeinen Gegenstand der Aufmerksamkeit, werdend, versuche ich möglichst abgeklärt wirkend so zu tun als sei rein gar nichts geschehen und setze erst demonstrativ unbeteiligt die Kopfhörer und dann die Maske wieder richtig auf, tippe irgendetwas in mein Handy und hoffe mich so aus dem ungeliebten Zustand des im-Mittelpunkt-Stehens befreien zu können.


Heute weiß ich nicht mehr exakt, was mir damals durch den Kopf ging. Noch die recht frischen Erinnerungen aus den vollkommen maskenlosen Zug- und Busreisen durch Dänemark und Schweden (einzelne deutsche Touristen ausgenommen) im Hinterkopf, habe ich mich vermutlich über die völlig inkohärente deutsche Corona-Politik geärgert. Doch das größere Problem schien mir wahrscheinlich schon damals woanders, schien mir auf eher individueller Ebene zu liegen.

Wie kann es sein, fragte ich mich wohl, dass wir hier in Deutschland trotz modernster Kommunikationstechnologie noch nicht einmal über die banalsten Vorgänge, das Leben und den Umgang mit der Pandemie selbst in unseren Nachbarländern Bescheid wissen? Wie kann es sein, dass ganz Skandinavien und der größte Teil Osteuropas das Maskentragen in öffentlichen Verkehrsmitteln längst in die Hände der bürgerlichen Eigenverantwortung gelegt hat und es hier in Deutschland nicht nur nach wie vor verpflichtend ist, sondern diese Pflicht auch unter diesen Umständen noch unhinterfragt und aufbrausend von Busfahrern in ihren Fünfzigern verteidigt wird, als ginge es dabei um ihr eigenes Leben.

Es waren Gedanken über diesen genuin deutschen Untertanengeist, diese zwanghafte Obrigkeitshörigkeit, die unbedingte Verweigerung des Selberdenkens, es waren Überlegungen zu dieser Mentalität des nach-oben-Buckelns-und-nach-unten-Tretens, die mir damals durch den Kopf gingen.

Ja, zweifellos war es das, woran ich damals denken musste, nachdem ich wenig später aus dem Bus gestiegen bin, also endlich wieder befreit atmen und denken konnte und mich fragte, was den Busfahrer wohl im Innersten dazu angetrieben haben mag, seinen bequemen Fahrersitz zu verlassen, sich auf den Weg in den hinteren Bereich des Busses zu begeben und dem sein Ausflug tatsächlich so wichtig war, dass er dafür in Kauf nahm die Busfahrt unplanmäßig zu unterbrechen.

Es schien mir nicht allein das Erfüllen seiner behördlich angeordneten Aufgabe gewesen zu sein, die den Busfahrer antrieb. Ich meine, er glaubte zudem unbedingt an den Wert der Pflichterfüllung an sich, an die Pflicht als Selbstzweck. Ihn leitete ein unbedingter Glaube an die Pflicht als eine Orientierung gebende Instanz ohne die die Gesellschaft auseinanderfallen würde. Er war überzeugt, dass einer sich treu bleiben muss, dass einer seine Pflicht ausüben muss.

Es war diese regelgehorsame Pflichtethik, die ihn seinen Sitz verlassen ließ, und es ist dieser Pflichtbegriff, es ist diese kleingeistige deutsche Freude an der Pflicht, die mich ankotzt. Denn Siegfried Lenz` Maler in der „Deutschstunde“, Max Ludwig Nansen lehrt uns: „Gut (…), wenn du glaubst, dass man seine Pflicht tun muss, dann sage ich dir das Gegenteil: man muss etwas tun, das gegen die Pflicht verstößt. Pflicht, das ist für mich nur blinde Anmaßung. Es ist unver- meidlich, dass man etwas tut, was sie nicht verlangt.“

Der Maler hatte Recht: Denn das schlimmste aller Viren ist nicht irgendein Krankheitserreger, nein, das schlimmste aller Viren ist blinder Gehorsam.


Unterm Strich: Ungenügend – ein Zwischenzeugnis für Frau Lambrecht

Von Noemi | Frau Christine Lambrecht, geboren am 19. Juni 1965 in Mannheim, wohnhaft in Berlin, ist seit dem 08.12.2021 alsBundesministerin der Verteidigung im Kabinett Scholz tätig.
Das Bundeskabinett leitet den Staat Deutschland. Es werden Entscheidungen über die Innen- und Außenpolitik Deutschlands getroffen.

Als Bundesministerin der Verteidigung nimmt Frau Christine Lambrecht folgende Aufgaben wahr:

Friedenssicherung
Militärische Verteidigung
Führung der Bundeswehr
 

Frau Christine Lambrecht zeigt – neben kleineren bzw. größeren Ausrutschern – keine guten Fachkenntnisse, gleichwohl ein hohes Maß an Eigeninitiative und Leistungsbereitschaft für ihr Privatleben. Dabei geht Sie stets über das geforderte Maß hinaus und beweist auch in Zeiten hoher Belastung, wie Putins Krieg gegen die Ukraine ihre Zuverlässigkeit. Am 13. April zum Beispiel, flog Christine Lambrecht mit einem Regierungshubschrauber in den Urlaub nach Sylt. Auf dem Nebensitz der kleine Alex. So klein ist der allerdings gar nicht mehr mit seinen 21 Jahren.

Ihre Aufgaben erledigt sie – überraschenderweise – nicht besonders gewissenhaft. Beispielsweise liest sie Vorlagen nicht und nimmt auch an Informationsveranstaltungen nicht teil. Ganz zu schweigen von der fehlenden Kommunikation mit wichtigen Stellen in der Bundeswehr. Durch ihr hohes Desinteresse und ihrer unnahbaren Art, man könnte auch Arroganz sagen, konnte sie keine nachhaltigen Beziehungeninnerhalb der Bundeswehr aufbauen. Kein Wunder, dass es zu Differenzen mit dem Generalinspekteur kommt, den sie mit ihrem Amtsantritt sozusagen degradiert hat. Denn der Generalinspekteur untersteht normalerweise der Ministerin. Nicht bei Lambrecht. Kurzerhand unterstellt sie ihn der Staatssekretärin Sudhof. Bedauerlicherweise keine Ausnahme ihrer ahnungslosen Entscheidungen.

Ihr durchweg unprofessionelles Auftreten und ihre Abwesenheit hat in der Vergangenheit einiges an Kritik regnen lassen. Der Besuch im Nagelstudio am Tag nach Russlands Angriff auf die Ukraine, kunterbunte High-Heels im Bundestag oder Stöckelschuhe beim Truppenbesuch in der Wüste Malis, sind hier erwähnenswert.

Besonders hervorzuheben sind ihre nicht besonders erfolgreichen militärischen Projekte. So versprach sie der ukrainischen Armee 5.000 Schutzhelme, welche irgendwann nach dem geplanten Termin dann auch eintrudelten. So reibungslos funktioniert es mit der Waffenlieferung an die Ukraine nicht. Man möchte verstehen was sie sagt aber ihre Aussagen erinnern eher an eine Achterbahn. Dann übernimmt doch lieber ihre Staatssekretärin Siemtje Möller das Wort. Sie behauptet überzeugt, dass es eine Nato-Absprache zur Nichtlieferung von Panzern an die Ukraine gibt und Deutschland daher keine „Marder“-Schützenpanzer liefernkönne. Wie sich herausstellte gibt es keinen offiziellen Beschluss gegen die Lieferung von schweren Waffen an die Ukraine. Das war aber bestimmt ein Missverständnis und liegt nicht an mangelnder Kompetenz.

Frau Christine Lambrecht erhält dieses Zwischenzeugnis, da demnächst ein Vorgesetztenwechsel stattfinden wird. Wir danken ihr ausdrücklich für Ihre Einsicht und freuen uns auf einen Rücktritt.


Wie die politische Linke immer das bekommt, was sie möchte

Von Leon Hendryk | Wer den politischen Diskurs der letzten Jahrzehnte in Deutschland und anderen westlichen Staaten verfolgt hat, ist oft überrascht, wie erfolgreich linke Parteien und Themen die Mitte der Gesellschaft erobert haben. Geradezu exemplarisch dafür stehen die Grünen, die es seit ihrer Gründung im Jahre 1980 geschafft haben, von einer Außenseiterpartei zu einer wichtigen politischen Kraft zu werden. Dabei haben sie nicht nur das Programm anderer Parteien massiv beeinflusst, sondern lösten bei der letzten Bundestagswahl auch die ebenfalls „begrünte“ CDU in der Bundesregierung ab.

Dieser Erfolg erklärt sich meiner Ansicht nach unter anderem mit einer Strategie, die linke Parteien schon lange anwenden, um ihre Ideen in der Gesellschaft durchzusetzen. Sie besteht darin, ein legitimes gesellschaftliches, politisches oder soziales Problem zu finden und dann Lösungsansätze zu präsentieren, die mit voller Absicht weit über die Lösung dieses eigentlichen Problems hinausgehen.
Da ein unverpackter Sozialismus im Deutschland der achtziger Jahre für die große Masse der Bevölkerung unattraktiv war – schon allein wegen des abschreckenden Beispiels der DDR – entschloss man sich dazu, die Umweltbewegung als Basis für das Erreichen sozialistischer Ziele zu benutzen. Der Schutz der Umwelt war damals wie heute ein durchaus legitimes Ziel, mit dem sich viele Bürger identifizieren konnten. Noch in den fünfziger und sechziger Jahren sorgte die ungeklärte Einleitung von Industrieabwässern auf vielen Gewässern für Schaumkronen, die einem frisch gezapften Bier Konkurrenz machen konnten. Selbst Anfang der achtziger Jahre war verbleites Benzin noch überall Standard, anders als Katalysatoren, die erst ab 1989 verpflichtend in Neuwagen wurden. Dementsprechend konnten sich die Grünen in den Augen vieler Deutscher als sympathische Umweltschutzpartei etablieren, wobei ihre tatsächliche Ideologie weit über dieses Themengebiet hinaus ging. Schon das erste Parteiprogramm war unverblümt antikapitalistisch (ein Hohn in Anbetracht der weit größeren Umweltzerstörung in der DDR und den sozialistischen Ländern Osteuropas). Zudem zeigte es in Bezug zur Wirtschafts-, Migrations- und Familienpolitik schon damals klar die Marschrichtung der Partei an, der sie bis heute folgt. Und marschiert wird bei den Grünen trotz der freundlichen Umweltfassade noch immer stramm nach links.
Die Frage, warum hohe Steuern, offene Grenzen und eine enge Interpretation der Meinungsfreiheit für den Umweltschutz notwendig sein sollen, bleibt desweilen offen.

Diese Strategie ist alles andere als neu. Schon die marxistischen Bewegungen des ausgehenden 19. Jahrhunderts und frühen 20. Jahrhunderts nutzten eine ähnliche Taktik. Ihr legitimes Ziel war die Verbesserung der Arbeitsbedingungen in den damals boomenden Industrien Europas und Nordamerikas. Selbstverständlich war das an sich ein ehrbares Ziel, denn die Arbeitsbedingungen waren vielerorts unhaltbar, Arbeitsunfälle und Verletzungen an der Tagesordnung. Doch diese Zustände waren vielerorts schon von den aufkommenden sozialdemokratischen und christlichen Arbeiterbewegungen und Gewerkschaften im Prozess, zurückgedrängt zu werden. Die Marxisten wollten allerdings mehr als bessere Arbeitsbedingungen und Löhne. Eine vollkommen neue Gesellschaft sollte entstehen, die Diktatur des Proletariats, und dazu musste die bestehende Gesellschaft zerschlagen werden. Also nutzte man die Arbeiterbewegung und unterwanderte sie, um sie als Sprungbrett für seine eigentlichen Ziele zu nutzen. Schon damals zeigte sich klar, welchen geringen Belang die Behandlung der Arbeiter eigentlich für sozialistische Parteien hatte. Sobald sie einmal die Macht erlangt hatten, war es vorbei mit der Sozialromantik, so zum Beispiel in der Sowjetunion. Dort waren zum einen die Arbeitsbedingungen stets deutlich schlechter als im kapitalistischen Westen. Zum anderen führte dort das Streiken nicht zu Lohnerhöhungen, sondern zu unfreiwilligen Langzeitaufenthalten in den Gulags.

Das gleiche Spiel wiederholt sich heute beim modernen Feminismus, der insbesondere auf viele junge Frauen eine große Anziehungskraft ausübt. Für legitime und wichtige Probleme wie häusliche Gewalt und Vergewaltigungen wird eine Lösungsmöglichkeit präsentiert, die gewollt weit über das Ziel hinausschießt. Nicht vermehrte Aufklärung, Strafverfolgung oder Beratungs- und Unterstützungsangebote sollen es richten. Nein, stattdessen wird die Abschaffung der natürlichen Geschlechterrollen, der traditionellen Familie und natürlich des „kapitalistischen, patriarchalischen Systems“ gefordert. Die Frage, wie und ob das die oben genannten Probleme lösen kann, ist weder erwünscht noch wird sie beantwortet. Denn letztendlich werden diese Probleme nur benutzt, um linke Politik gesellschaftsfähig zu machen und an der Wahlurne durchzusetzen.

Nun muss man diesem Spiel aber nicht tatenlos zuschauen. Schon die kritische Frage nach dem Zusammenhang zwischen den echten Problemen und den präsentierten Lösungen bringt viele Linke ins Straucheln und potenzielle Wähler zum Nachdenken. Noch wichtiger aber ist es, eigene Lösungsansätze zu entwickeln und diese offensiv zu vermarkten! Das ist etwas, was liberale und konservative Parteien in der Vergangenheit oft versäumten, wohl in der Hoffnung, die Probleme würden sich irgendwann von allein lösen. Am einfachsten ist es also, neben den linken, oft politisch hochideologischen Lösungsansatz, einen eigenen zu setzen und dessen Vorteile herauszustellen. Des Weiteren ist es so, dass die oben beschriebene Strategie der Lösungsansätze, die bewusst über das eigentliche Problem hinausgehen, nicht nur von Linken genutzt werden kann. Auch Konservative können sie für die eigenen politischen Ziele nutzen. Dass dies so selten passiert, ist äußerst schade, insbesondere in Anbetracht der zunehmenden Marginalisierung ihrer politischen Positionen auf allen gesellschaftlichen Ebenen. Denn nicht nur im Fußball gilt: Angriff ist die beste Verteidigung!


Die Diskussionskultur der jungen Generation – Werden wir zu Mimosen erzogen?

Von Jule-Marie Heger | In Zeiten von Akzeptanz gegenüber Straßenblockierern, die sich selbst an Straßen festkleben und Diffamierungen von Spaziergängern fühlt man sich oft wie in einer Parallelwelt. Eine Welt in der sektenartig der Weltuntergang zelebriert wird, manch Unwahrheit zur Wahrheit erklärt wird und Demokratie mit schärfster Zensur einhergeht. Neuerdings bedeutet Meinungsfreiheit eine öffentliche und eine private Meinung zu haben, wobei die öffentliche Meinung deutlich von der privaten abweichen kann und eine Maske mit Schutzfunktion darstellt. Woher kommt es, dass nur eine Einheitsmeinung zu akzeptieren ist? Woher kommt das allgegenwärtige Phänomen meiner Generation, sich für das, was man glaubt, krampfhaft entschuldigen zu wollen?

Wenn der Inhalt des Gesagten auch nur ansatzweise von der Meinung der angeblichen Masse abweicht, sollte man besser die Diskussion beenden. Am besten sollte man direkt den Kontakt abbrechen, um nicht der Kontaktschuld wegen „angeklagt“ zu werden. Dann verliert jemand eben seinen Job, wenn er sich unter Kollegen kritisch gegenüber der „Mehrheitsmeinung“ ausspricht. Selbst schuld ist derjenige, der es wagt diese zu hinterfragen oder anzuzweifeln. Schließlich geht es um die Gesinnung und nicht um die Qualität der Arbeit.
Um meine Generation gar nicht erst auf die Idee zu bringen welch großartiges Werkzeug der Kommunikation die Argumentation ist, haben sich die sozialen Medien wie Facebook es zur Aufgabe gemacht selbst zu bestimmen, welche Meinung oder Fakten zulässig sind oder nicht. Gelöscht seien das Konto, der Kommentar oder der Post, welche durch die Filter der Desinformation, Beleidigung etc. fallen. Dabei ist es natürlich egal, ob es sich tatsächlich um jene handelt – das entscheidet dann der Praktikant mit gutem Gewissen oder das automatisierte Filtersystem. Dass die soziale Medienwelt von autoritären und faschistischen Mechanismen durchtränkt ist, ist mittlerweile kein Geheimnis mehr, sondern Realität eines jeden Konsumenten – zumindest von demjenigen, der es merkt.

Auch in den öffentlich-rechtlichen Medien ist diese Art von Gängelung sichtbar. Richtige Debatten mit Gegenpositionen sind selten zu sehen. Die angebliche Gegenposition, in einer Talk-Show beispielsweise, ist dann oft der gleichen Meinung wie der Diskussionspartner und fordert die gleichen Dinge – nur weniger radikal. Ein Diskussionspartner, von dem bekannt ist eine konträre Meinung zum links-ideologischen Narrativ aufzuweisen, wird dann gar nicht erst eingeladen bzw. nicht wieder eingeladen. Oder derjenige wird innerhalb eines Formats derart diffamiert, unterbrochen und vernachlässigt, dass er eigentlich kein Teil einer konstruktiven Diskussion gewesen sein könnte. Folge für diejenigen, die jemanden einladen, der nicht dem links-grünen Idealismus folgt oder auch nur leicht abweicht, sind ein medialer Skandal und schwere Vorwürfe. Das konnte man z.B. an Jan Böhmermann sehen, der Markus Lanz vorgeworfen hat, er würde Gäste mit „menschenfeindlichen Meinungen“ einladen und er die sogenannte „False Balance“ der Meinungen auszugleichen habe.

Wenn mit diesen Mechanismen die jetzige Generation nicht umerzogen wird, dann muss die Mehrheit entweder mit Scheuklappen aufstehen und zu Bett gehen oder überaus starke Prinzipien haben. Gelyncht sei derjenige, der es wagt nicht zu gendern und nicht explizit von Studentinnen und Studenten zu sprechen. Gecancelt sei derjenige, der von Zigeunerschnitzeln spricht und nicht von Schnitzel mit Paprikasoße ungarischer Art. Wenn es keine Probleme gibt, muss man sie eben selbst herstellen. In einer Allensbach-Studie von 2021 gaben beispielsweise drei Viertel der Befragten an wie in gewohnter Weise den Begriff „Zigeunerschnitzel“ bewahren zu wollen. Auch hat die überwiegende Mehrheit der Befragten haben angegeben sich politisch korrekten Sprachregelungen nicht hingeben zu wollen. Welch ein umgedrehtes Bild der Realität die gängigen Medien doch widerspiegeln. Die Auswirkungen von Cancel Culture, Cancel Science und Political Correctness haben ihren Platz in den Köpfen der Deutschen schon längst gefunden und bestimmen die Debattenkultur innerhalb meiner Generation. Eine Diskussion besteht doch gerade darin verschiedene Argumente und Meinungen zuzulassen und sich diesen zu öffnen. Es ist doch schlichtweg unnatürlich ausschließlich der gleichen Meinung zu sein. Umso menschlicher ist es den lebhaften Diskurs zu bewahren und die Meinungsvielfalt als demokratische, natürliche Selbstverständlichkeit zu betrachten. Viel zu oft beschränken Menschen sich selbst und ihre eigene Meinung, wenn sie es nicht wagen sich aus ihrer angeeigneten Ideologie zu befreien.

Eine Debatte auf Augenhöhe kann nur zustande kommen, wenn der Diskussionspartner, die geäußerten Sachverhalte rational betrachten würde. Wenn darauf geachtet wird, was gesagt wird und nicht wie es gesagt wird. Wenn man sich wegen seiner eigenen Meinung nicht vorerst entschuldigen muss, sondern tatsächlich auch mal etwas ausgehalten würde. Nur so kommt man wieder in eine auf eine vernünftige Diskussionskultur. Der Sinn einer Diskussion ist nicht, dass beide Parteien auf einen Nenner kommen. Es ist mehr die Diskussion selbst, die den Austausch von Argumenten erst möglich macht.


Der Niedergang der linken Ideale

Von Jonas Kürsch | Als die über Parteigrenzen hinweg beliebte Linken-Politikerin Sarah Wagenknecht ihr neues Buch „Die Selbstgerechten“ über die thematische Entwurzelung linker Parteien veröffentlichte, war die mediale Empörung groß. Das Buch erschien im April des Jahres 2021 im Campus-Verlag und beschäftigt sich vor allem mit der in Wagenknechts Augen hochignoranten Verleugnung der Lebensrealitäten vieler Bürger durch die linken Parteien. Dabei kritisiert sie vor allem die Intoleranz der sogenannten „Lifestyle-Linken“, also jenem akademisch geprägten Teil der Linken, der sich vornehmlich mit moralistischen Scheinfragen über individuelle Lebensentscheidungen auseinandersetzt und mit seinen kompromisslosen Forderungen nach Gendersternchenpflicht oder allgemeinen Klimasteuern die grundlegenden Probleme vieler Menschen nicht mehr wahrnimmt. Vor allem am linksliberalen Wunschtraum nach einer grenzenlosen, multikulturellen Einwanderungs- und Europapolitik übt Wagenknecht scharfe Kritik, da sie hierin die Gefahr einer noch stärker voranschreitenden Spaltung der Gesellschaft sieht, aber auch die schleichende Entrechtung des einzelnen Bürgers zugunsten antidemokratischer Machtstrukturen befürchtet. 

Infolge der Veröffentlichung ihrer Thesen, attestierten einige Parteigenossen Wagenknecht den Wandel vom Paulus zum Saulus, also von der linientreuen Genossin zur radikalen Rechtspopulistin. Ein Bundesvorstandsmitglied ihrer Partei legte ihr unter anderem den Beitritt zur AfD nahe, andere Mitglieder gingen sogar einen Schritt weiter und versuchten sie mithilfe eines parteiinternen Ausschlussverfahrens zum Schweigen zu bringen. Heute ist sie von der Parteispitze weitestgehend isoliert und kämpft fast im Alleingang für die Rückbesinnung auf klassisch linke Ideale. 

Vom grünen Pazifisten zum überzeugten Kriegshelden

Linkssein hat in der heutigen Zeit nicht mehr viel mit den ursprünglichen Zielen sozialer oder ökologischer Politik zu tun. Gut lässt sich dieser politische Wandel im Hinblick auf die Entwicklung von Bündnis 90/Die Grünen im Rahmen ihres vierzigjährigen Bestehens erklären. Während die Urgrünen um Petra Kelly und Joseph Beuys sich in ihrem Grundsatzprogramm von 1980 noch gegen den „Abbau von demokratischen Rechten“ einsetzten, sind die heutigen Grünen zu dessen willigen Vollstrecker geworden. Die damals geforderte „ungehinderte Versammlungs-, Demonstrations- und Meinungsfreiheit“ wird inzwischen durch ideologische Parteifunktionäre wie den Baden-Württemberger Ministerpräsidenten Winfried Kretschmann, der Demonstranten als „Aasgeier der Pandemie“ bezeichnet und sich öffentlich für die bewusste Umsetzung unverhältnismäßiger Grundgesetzänderungen ausgesprochen hat, aufs Übelste konterkariert. 

Und während „Frieden“ für die Grünen vor einigen Jahrzehnten noch mehr bedeutete als „die (alleinige) Abwesenheit von Krieg“, ist die außenpolitische Doktrin der Öko-Partei heute eine gänzlich andere. So signalisierte die grüne Bundesaußenministern Annalena Baerbock bereits, dass sie für eine Erweiterung der internationalen Bundeswehr-Einsätze absolut gesprächsoffen sei. Damit reiht sie sich in die Tradition Joschka Fischers ein, der als erster grüner Außenminister mit seinem Votum für die Beteiligung am Kosovokonflikt im Jahre 1998 den ersten deutschen Kriegseinsatz seit Bestehen der BRD besiegelte. Es scheint, dass Doppelmoral zum einzigen Wert geworden ist, den die Grünen noch standhaft vertreten. Perfekt zusammengefasst wurde diese traurige Schlussfolgerung von der ehemaligen Bundestagsfraktionsvorsitzenden Katrin Göring-Eckardt in einem ihrer wohl umstrittensten Aussprüche: „Die Grünen waren noch nie eine pazifistische Partei.“ 

Zwischen Arbeitern und Bildungseliten

Auch die Sozialdemokraten haben sich im zeitgenössischen Geflecht aus pseudolinker Identitätspolitik und staatsmonopolistischem Dogmatismus verheddert. Die eigentliche DNA der Partei ist in Vergessenheit geraten. Während der ehemalige SPD-Vorsitzende Kurt Schumacher es entschlossen ablehnte, „den Blutspender für den geschwächten Parteikörper der Kommunisten abzugeben“, sympathisieren die heutigen Vorsitzenden Saskia Esken und Lars Klingbeil offen mit der antifaschistischen Aktion und den von ihnen vertretenen antikapitalistischen Positionen. Die SPD hatte sich einst das Ziel gesetzt, für die unterbezahlten Arbeiter Politik zu machen, man wollte sich für all diejenigen einsetzen, die nicht mehr in der Lage dazu waren, aus eigener Kraft einen menschenwürdigen Lebensstandard mit ihrem Gehalt zu finanzieren. Schaut man aber auf die politische Neuausrichtung der SPD im 21. Jahrhundert, so stellt man schnell fest, dass diese Versprechen nur noch programmatische Randerscheinungen sind: heute kämpft die Partei für die Einführung von CO2-Steuern und Fleischpreiserhöhungen, die es vielen Menschen noch schwerer machen dürften, ein bezahlbares Leben in Deutschland zu unterhalten. Die Krone setzt dem aber ein Bundeskanzler Olaf Scholz auf, der in mehreren Interviews nicht wusste, wie die aktuellen Benzin- und Butterpreise in dem Land aussehen, das er in Zukunft regieren will. Besonders in seiner an Realsatire grenzenden Begründung für diese Wissenslücken spiegelt sich wider, was in der SPD schon seit Langem schiefläuft: „Ich habe ja auch ein ganz ordentliches Einkommen, deshalb gehöre ich ja nicht zu den Leuten, die immer ganz genau auf den Preis hingucken.“ Will man damit etwa Vertrauenswürdigkeit vermitteln? 

Nicht zu übersehen ist auch der ungebremste Niedergang der als ‚Die Linke’ neuformierten SED-Partei. In den 1990er und frühen 2000er Jahren war die Linke noch als nichtetablierte Protestpartei ausgerichtet, die sich gegen die militaristische Rüstungspolitik Schröders und dessen gescheitertes Arbeitslosengeld II einsetzte; heute trägt sie in vier Landesregierungen jene unsoziale und undemokratische Politik mit, die sie vor wenigen Jahren noch lautstark verurteilte. Gut erkennen lässt sich das am Beispiel des thüringischen Ministerpräsidenten Bodo Ramelow, der die wirtschaftsfeindliche Lockdownpolitik und die von mehreren deutschen Verwaltungsgerichten gekippten 2G+-Regelungen mit seinem rot-rot-grünen Kabinett seit Beginn der Pandemie unterstützt hat. Die daraus resultierende Bildungsarmut von Schulkindern und die horrenden Einnahmeverluste kleiner Mittelstandsunternehmen vergrößern die soziale Ungleichheit in Deutschland nachweislich. Hinzu kommt der verächtliche Umgang der Linken mit den demokratischen Institutionen unseren Landes, wie durch die Parteichefin Susanne Hennig-Wellsow demonstriert, als sie dem frischgewählten Ministerpräsidenten Thomas Kemmerich (FDP) aus blankem Hass den zeremoniellen Blumenstrauß im Plenarsaal des Thüringer Landtags vor die Füße warf. Auf diese Art biedert sich die Partei mit ihrem woken und politisch korrekten Profil den Bildungseliten dieses Landes an und entfernt sich immer weiter von ihren ursprünglichen Gründungsidealen.

Realitätsverweigerung als oberstes Prinzip

Eine Partei für Notleidende ist ‚die Linke‘ schon lange nicht mehr, weshalb ihre Urwählerschaft mehreren Wahlanalysen zufolge auch zur AfD abgewandert ist. Es ist verwunderlich, dass gerade ‚die Linke‘ sich dem offenkundigen Aussterben sozialer Politik nicht mit allen Mitteln entgegenstellt, wie es Sarah Wagenknecht und Oskar Lafontaine versuchen, sondern den Niedergang linksdemokratischer Politik in ihrem ideologischen Wahn noch befeuert. Dabei bräuchten viele Menschen gerade in diesen Zeiten volksnahe Bürgerbewegungen, die sich für klassische Arbeiteranliegen wie politisch motivierte Berufsverbote oder sinkende Löhne im Gesundheitssektor einsetzen. 

Nun ist das erste Ausschlussverfahren gegen Sarah Wagenknecht vom Parteischiedsgericht abgelehnt worden: Sie darf vorerst in der Partei bleiben. Der Richtungsstreit innerhalb der Linken ist allerdings noch lange nicht beendet. Oskar Lafontaine hingegen hat seinen Kampf gegen das Parteiestablishment im Saarland aufgegeben und wird sich mit der kommenden Landtagswahl vollständig aus der Politik zurückziehen. Trotz Wagenknechts lobenswerter Bemühungen scheint es sehr unwahrscheinlich, dass die Linken in Deutschland ihren Realitätssinn und ihre Bürgernähe zurückfinden werden. In den folgenden Jahren werden wir feststellen, dass Linkspartei, SPD und Grüne im Rahmen ihrer Regierungsarbeiten immer größeren Schaden in unserem Land anrichten und letztlich vom Wähler dafür die Quittung erhalten werden. 


Europa: Wo Rechtsbruch zur Tugend wird

Von Jonas Kürsch | Der ungewöhnlich frühe Amtsbesuch von Bundeskanzler Olaf Scholz bei seinem italienischen Amtskollegen Mario Draghi sorgte zunächst für große Verwunderung in den Medien. Es wurde allerdings recht schnell deutlich, dass es sich bei diesem Treffen in erster Linie nicht um ein freundschaftliches Kennenlernen handelte. Denn eines der Hauptthemen, das von den beiden Regierungschefs ausführlich diskutiert wurde, war die finanzielle und wirtschaftliche Aufstellung der Europäischen Union in den kommenden Jahren.

Besonders Ministerpräsident Draghi und der französische Präsident Emmanuel Macron hatten in den vergangenen Wochen und Monaten vermehrt eine radikale Reform der europäischen Haushaltsverträge gefordert. Vor allem würde diese eine Aufweichung der sogenannten „Konvergenzkriterien“ zur staatlichen Neuaufnahme von Schulden mit sich ziehen. Diese fanden erstmals im Vertrag von Maastricht Erwähnung und schreiben den europäischen Mitgliedsstaaten vor, dass das nationale Haushaltsdefizit einer Regierung auf 3% sowie die staatliche Gesamtverschuldung eines Landes auf 60% der Wirtschaftskraft zu begrenzen ist. Besonders diese beiden Grenzwerte wollen Macron und Draghi europaweit außer Kraft setzen, unter anderem mit der Begründung, dass die dramatischen Krisen der Gegenwart mit solchen Regelungen kaum zu überwinden seien und die nationalen Regierungen dadurch handlungsunfähig gemacht würden.

Die Kriterien wurden 1992 eingeführt, um die finanz- und wirtschaftspolitische Stabilität der europäischen Gemeinschaft zu bewahren. Vor allem verfolgte man mit den monetären und ökonomischen Vorgaben dabei das Ziel, die entstehende Eurozone durch die Kreation eines nachhaltigen Rechtsrahmens zu fördern und gleichzeitig die fiskalische Souveränität der einzelnen Mitgliedsstaaten vertraglich abzusichern. Man schloss die kontinentale Vergemeinschaftung von nationalen Schulden daher auch explizit aus. Die Auflockerung dieser harmonisierten Werte könnte hingegen einen gravierenden wirtschaftlichen Kontrollverlust der Nationalstaaten mit sich ziehen und die Einflussbereiche der europäischen Institutionen (vorrangig der EZB, des Rates und der Kommission) um ein Vielfaches erweitern.

Maastricht-Kriterien und das Vertrauen der Bürger sind nur zum Brechen da

Zugegeben, ganz neu ist der durch Corona popularisierte Trend zur Aushebung der Kriterien von Maastricht eigentlich nicht: bereits in den frühen 2000er Jahren wurden mehrere Staaten in die europäische Gemeinschaft aufgenommen, deren Verschuldung in keinem Fall den vertraglich geregelten Werten entsprachen. Das berühmteste Beispiel ist vermutlich Griechenland, dessen Neuverschuldung ein Jahr vor der Aufnahme in die Europäische Union bei stolzen 104,4% des BIP lag. Mit der Weltfinanzkrise 2007 brach Griechenlands Wirtschaftskraft auf dramatische Weise ein und die hochverschuldete Nation steuert seitdem auf die Staatspleite zu.

Auch die Stabilität der Eurozone ist damit vollends ins Wanken geraten. Ab 2010 versuchten die politischen Protagonisten das marode Währungssystem innerhalb der Europäischen Union durch die Einführung des kontrovers diskutierten Euro-Rettungsschirms künstlich am Leben zu halten. Der vertragswidrige Ankauf von Staatsanleihen durch die EZB und die Einführung sogenannter „Notbürgschaften“ sind damit endgültig zur neuen Normalität geworden.

Doch anstatt auf mehr Transparenz, Kommunikation und institutionelle Zurückhaltung zu setzen, sehen die Vertreter eines europäischen Superstaats in der Installation skurriler Finanzmechanismen ihre langersehnte Chance darauf, die nationale Souveränität der Einzelstaaten immer weiter einzuschränken.

Neben den wirtschaftlichen Konsequenzen führte dieser Vertragsbruch auch zu idealistischen Umbrüchen innerhalb der EU: ihre Mitbürger haben sich im Rahmen dieser Politik voneinander und von der europäischen Institution entfremdet. Das über Jahrzehnte hinweg geknüpfte Vertrauen bröckelt bis heute. Doch anstatt auf mehr Transparenz, Kommunikation und institutionelle Zurückhaltung zu setzen, sehen die Vertreter eines europäischen Superstaats in der Installation skurriler Finanzmechanismen ihre langersehnte Chance darauf, die nationale Souveränität der Einzelstaaten immer weiter einzuschränken. Hinzu kommt die von der EZB konsequent betriebene Maßnahmenpolitik mit dem Zweck, das Zinsniveau innerhalb der Eurozone durch radikale Einschnitte so niedrig wie möglich zu halten, um die Kreditaufnahme (nahezu) bankrotter Staaten weiterhin auf einem bezahlbaren Level zu halten.

Inflation? Die kennen wir nicht

Der damit vorangetriebenen Inflation wird allerdings kaum Beachtung geschenkt. Die Profiteure dieser Politik sind vor allem Spekulanten und Banken, ihre Verlierer sind Sparer und Normalverbraucher. Anscheinend ist man bereit, zur Rettung der Eurozone alles zu opfern, „whatever it takes“, um einen ehemaligen Präsidenten der EZB zu zitieren. Beachtlich ist auch die Nonchalance, mit der diese Regelbrüche bis heute begangen werden. Christine Lagarde, die amtierende Präsidentin der EZB, wurde von den Reportern eines bekannten Medienportals sogar so verstanden, dass die Akteure der EU bewusst alle wirtschaftspolitischen Regeln gebrochen hätten, um den Euro wirklich zu retten.

Noch schamloser wurde dieses skrupellose Vorgehen vom ehemaligen Kommissionspräsidenten Jean-Claude Juncker in einem älteren Interview mit dem Spiegel beschrieben:
 „Wir beschließen etwas, stellen das dann in den Raum und warten einige Zeit ab, was passiert. Wenn es dann kein großes Geschrei gibt und keine Aufstände, weil die meisten gar nicht begreifen, was da beschlossen wurde, dann machen wir weiter – Schritt für Schritt, bis es kein Zurück mehr gibt.“
– Jean-Claude Juncker über die Einführung des Euros in Die Brüsseler Republik, Der Spiegel, 27. Dezember 1999


Mit den während der Pandemie neueingerichteten Wiederaufbaubonds in Rekordhöhe von 750 Milliarden Euro, wurden die Grenzen des europäischen Rechtsrahmens ein weiteres Mal aufgeweicht. Blockiert wird das Vorhaben lediglich durch das Bundesverfassungsgericht, welches das Staatsanleihenkaufprogramm der EZB noch im Mai 2020 für kompetenzwidrig erklärte. Nur die Zeit wird zeigen, ob die EU weiterhin auf diesem planwirtschaftlichen Irrweg schlafwandeln oder eines Tages doch zur Rechtsstaatlichkeit zurückfinden wird.


»Wenn man 50 Dollar Schulden hat, so ist man ein Schnorrer. Hot jemand 50.000 Dollar Schulden, so ist man ein Geschäftsmann. Wer 50 Millionen Dollar Schulden hat, ist ein Finanzgenie. 50 Milliarden Dollar Schulden haben – das kann nur der Staat.«
– unbekannt