Mief der Doppelmoral

Von Luca | Vor einigen Tagen ist es geschehen. Der russische Präsident Wladimir Putin startete einen Angriffskrieg gegen die Ukraine. Der Westen – und insbesondere Deutschland – ist schockiert und begießt die Ukraine regelrecht mit Solidaritätsbekundungen. Verständlich, denn nach über 20 Jahren Frieden, fußt wieder ein Krieg auf Europas Boden. Nicht nur in den sozialen Medien, sondern auch auf den Straßen Deutschlands ist das Mitgefühl immens. Die Menschen nehmen massenhaft an Demonstrationen teil und appellieren für Frieden und Freiheit in der Ukraine. Sogar Dauersirene und Nervensäge Prof. Dr. Karl Wilhelm Lauterbach war sich nicht zu schade, an den Massendemos seinen Soll zu erfüllen – und das trotz Corona-Pandemie.

Es mieft. Es mieft nach Doppelmoral. Und ich frage mich, weshalb kaum jemand die Nase rümpft.
Noch vor ein paar Wochen haben Behörden aus sämtlichen Bundesländern Demonstrationen verboten oder eingeschränkt. Explizit bei den Corona-Demos gab es kein Erbarmen. Politiker warnten vehement. Vor allem Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) brachte so manch einen Maßnahmenkritiker zum Meltdown, als sie via Twitter appellierte: „Man kann seine Meinung auch kundtun, ohne sich gleichzeitig an vielen Orten zu versammeln.“ Demonstranten hat man nicht einmal für ihre Grundrechte spazieren lassen ohne offensivsten polizeilichen Einsatz. Ein regelrechtes Katz- und Maus-Spiel hat zwischen friedlich demonstrierenden Bürgern und teilweise aggressiven Polizisten bei Spaziergängen stattgefunden. Aber gut, schließlich ging es um die Eindämmung des Corona-Virus. Wie wir von unserer Obrigkeit mittlerweile gelernt haben, ist jede Infektion eine zu viel. Da spielt es natürlich auch keine Rolle, dass Eindämmungsmaßnahmen vollkommen überzogen sind, auch wenn an der frischen Luft eine Ansteckung sehr unwahrscheinlich ist. Und selbstverständlich war den Einsatzkräften jedes Mittel recht, um diesem fast schon heiliggesprochenen Anti-Grassierungs-Dogma gerecht zu werden. Stichwort Abstandsholz. Lächerlich.

Als Putin letzte Woche die Ukraine angriff, machten viele Bürger des Landes mobil und demonstrierten gegen den Krieg. Vor allem in Berlin gab es tausende Teilnehmer. Zahlreiche blau-gelbe Flaggen verzierten die Kundgebung. Von Abstandshölzern oder Wasserwerfern war weit und breit nichts zu sehen. Und das, obwohl keine Mindestabstände eingehalten wurden und wir laut Regierung immer noch mitten in einer Pandemie, beziehungsweise Epidemie, stecken. Schließlich hätte es bei den Versammlungen ebenso zu vielen Infektionen kommen können – oder etwa nicht, liebe Experten und Behörden? Es könnte nicht offensichtlicher sein: Mit sämtlichen Infektionsschutzargumenten hätte man auch die Massendemos, bei denen für Frieden und Freiheit in der Ukraine demonstriert wurde, verbieten können. Manch einer könnte mir jetzt entgegnen, dass die Demonstranten eine Maske trugen, kein Widerspruch zu den Corona-Demos existierte und die Demos deshalb völlig legitim wären. Aber ist das Tragen einer Maske an der frischen Luft wirklich von nennenswerter Relevanz? Die Maskenpflicht wurde ursprünglich damit gerechtfertigt, dass Aerosolbildung in geschlossenen Räumen zu einer höheren Infektionswahrscheinlichkeit führt und deshalb die Maske einen Schutz bietet. Beide Demos fanden aber draußen statt. Also über was reden wir hier?

Es ist beschämend, dass Corona-Demos und Ukraine-Demos, die von ihren Motiven her sehr ähnlich sind, mit zweierlei Maß behandelt werden. Beide Demos sind regierungskritisch, beinhalten die Werte Frieden und Freiheit – nur eine von beiden kritisiert unsere Bundesregierung. Und viele Politiker, Journalisten und Bürger kommen nicht einmal ansatzweise ins Grübeln und sehen diese offensichtliche Ungleichbehandlung der beiden vollkommen berechtigten Versammlungen. Möglicherweise ist das die Folge betonierter Moralisierung. Gute Demo, schlechte Demo. Man bekommt sehr schnell den Eindruck, dass Corona-Demonstrationen politisch nicht gewollt sind und deshalb sanktioniert werden. Jede Demo in diesem Land sollte ohne Restriktionen stattfinden. Es gibt keine guten und es gibt keine schlechten Demos. Die Bewertung ist völlig subjektiv.

Es mieft unglaublich nach Doppelmoral und Deutschland sollte dringend mal das Fenster öffnen.


„Wir sind in einer anderen Welt aufgewacht“ – Deutschlands wenig glaubhafter Einsatz für die Freiheit

Von Jonas Aston | Der 24.02.2022 begann für mich mit einer Pressekonferenz von Annalena Baerbock. „Wir sind heute in einer anderen Welt aufgewacht“, sagte die Außenministerin. Ich wollte sie erst nicht ernst nehmen. Was sollte schon passiert sein? Gibt es neues vom Klimawandel oder ist Karl Lauterbach etwa auf eine neue Corona-Variante gestoßen? Doch die Lage ist tatsächlich ernst. Es ist Krieg ausgebrochen. Hunderttausende, wenn nicht Millionen Ukrainer sind auf der Flucht. Frauen und Kinder harren in U-Bahn-Schächten aus und hoffen, den nächsten Tag noch zu erleben. Die Ereignisse stellen zahlreiche vermeintliche Gewissheiten meiner Generation in Frage. Krieg könne es überall auf der Welt geben, aber bestimmt nicht in Europa. Auch zwingt der Ukraine-Krieg die Politik zu einer 180-Grad Wende in praktisch allen Bereichen. Entsprechend groß kündigte Olaf Scholz seine künftigen Vorhaben an. Es war mal wieder die Rede von einer „großen nationalen Kraftanstrengung“. Zudem „erleben wir eine Zeitenwende“. Beeindruckend ist vor dem Hintergrund dieser „Zeitenwende“, wie schnell in der Bundesrepublik Gut zu Böse und Böse zu Gut wird.

Jahrelang war jeder, der höhere Ausgaben für das Militär forderte, der absolute Bösewicht. Es galt das Credo vom pazifistischen Deutschland. Ultimativer Feind waren all jene, die sich für Waffenlieferungen einsetzten oder gar die Aufrüstung der Bundeswehr forcierten. Erst das heize die Konflikte nämlich an. Plötzlich sagt Bundeskanzler Olaf Scholz: Wir werden deutlich mehr investieren müssen in die Sicherheit unseres Landes“ und fordert, dass die Gewehre schießen, die Panzer fahren und die Schiffe schwimmen“ müssen.  

Das völlige Versagen zeigt sich auch in anderen Feldern. In der Energiepolitik konnte die „grüne Transformation“ gar nicht schnell genug gehen. Ausstieg aus der Atomenergie, Ausstieg aus der Kohleenergie und das ganze flankiert von russischem Gas und erneuerbaren Energien. Wer dies kritisierte, musste sich als „Klimasünder“ und schlimmeres beschimpfen lassen. Nun wird deutlich, dass dieser Plan nicht aufgeht. Wirtschaftsminister Robert Habeck will der Versorgungssicherheit gegenüber dem Klimaschutz „im Zweifel“ den Vorrang erteilen. Markus Söder fordert sogar eine Debatte über die Wiederbelebung der Atomkraft.

Flexible moralische Maßstäbe

Medial ist auf einmal die Rede von Völkern und unterschiedlichen Kulturen. Wurde doch jahrelang behauptet Kulturen seien eine soziale Fiktion. Auch geht es plötzlich um die Unverletzlichkeit von Grenzen. Das kann nur verwundern, behauptete doch Angela Merkel 2015, dass man Grenzen überhaupt nicht schützen könne. Und wo bleibt Annalena Baerbocks „feministische Außenpolitik“? Männer zwischen 18 und 60 Jahren dürfen die Ukraine nicht verlassen. Müsste die Außenministerin bei dieser offenkundigen Ungleichbehandlung von Männern und Frauen nicht aufschreien? Jedes der Beispiele zeigt die Utopie und die ideologische Vernarrtheit der Politik.

Ganz besonders sind die Maßstäbe bei der Bewertung von Versammlungen verrutscht. In Deutschland scheint es gute und schlechte Demos zu geben. Seit fast drei Monaten drücken Bürger hierzulande ihren Protest mit sogenannten „Corona-Spaziergängen“ aus. Allein an den Montagen protestieren wöchentlich mindestens 200.000 Menschen. Dabei dürfen sie weder auf Erwähnung in der Tagesschau noch auf irgendeine Art des konstruktiven Dialogs zwischen ihren Anliegen und der Politik hoffen. Hunderttausende Demonstranten werden einfach ignoriert. Doch nicht nur das. Ein jeder Demonstrant in jeder Kleinstadt muss damit rechnen, von der Polizei – teils mithilfe von Wasserwerfern und Pferdestaffeln – zusammengetrieben und erkennungsdienstlich festgestellt zu werden. Dabei droht ihm in der Regel ein Bußgeld von 250 €. Als Begründung wird der Verstoß gegen Corona-Auflagen aufgeführt und Innenministerin Nancy Faeser meinte, Protest könne man auch ohne Demonstrationen ausdrücken.

Nichtsdestotrotz demonstrierten am Rosenmontag in Köln 250.000 Menschen für Frieden und in Hamburg nach Aufruf von FridaysforFuture rund 120.000 Menschen. In Berlin protestierten 100.000 Bürger gegen den Krieg in der Ukraine – inklusive Gesundheitsminister Karl Lauterbach. Olaf Scholz sagte: „Ich danke allen, die in diesen Tagen Zeichen setzen: Gegen Putins Krieg – und die sich hier in Berlin und anderswo zu friedlichen Kundgebungen versammeln“. Zugleich vermeldete Tagesschau Online, dass in Russland „unter dem Vorwand der Sicherheit vor Ansteckung in der Corona-Pandemie“ Demonstrationen nicht erlaubt würden. Mir geht es hier gar nicht darum die Pro-Ukraine-Demonstrationen zu delegitimieren. Ganz im Gegenteil: Ich finde es gut, wenn sich Menschen für den Frieden einsetzen. Die Beispiele zeigen jedoch die begrenzte Konsequenz der Moral in Deutschland. Gut und Böse verschwimmen und wer seine Maßstäbe nicht flexibel anpasst, läuft Gefahr, bald selbst zu den Bösen zu gehören.

 

 


Wolodymyr Zelensky – der verkannte Held des Westens

Von Sarah Victoria | Die ukrainische Politik gilt als korrupt – auch Präsident Zelensky wurde in Deutschland früh abgeurteilt. Doch sein Mut sollte Vorbild für uns sein. Die Geschichte eines Dieners des Volkes. 

Bild: President.gov.ua

„Wir sind noch hier.“ Mit diesen Worten wendet sich der ukrainische Präsident in einem viral gegangenen Instagram-Video an seine Nation. Tage zuvor noch in Anzug und Krawatte, steht Wolodimir Zelensky nun in Militärkleidung vor der Kamera, mit tiefen Augenringen im Gesicht. Zuvor hatten russische Nachrichtenagenturen behauptet, der Präsident hätte das Land verlassen. Doch das Gegenteil ist der Fall: Zusammen mit dem Ministerpräsident, Parteichef und dem obersten Berater steht er in Kiew. Denys Shmyhal (der Ministerpräsident) hält als Beweis sein Handy mit der aktuellen Ortszeit in die Luft. Mittlerweile ist das Video schon ein paar Tage her, die Kampfmoral der Ukrainer ist jedoch geblieben und macht seit nunmehr elf Tagen Putin das Leben schwer, während die Welt gebannt zusieht. Das Time Magazin nannte Zelensky jüngst den „Helden des Westens“, doch die wenigsten dürften wissen, um wen es sich bei diesem Helden überhaupt handelt. Daher folgt hier ein etwas längerer Abriss über die politischen Probleme der Ukraine und ihren Präsidenten, Wolodimir Zelensky.

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Die Diener des Volkes

Zelenskys Partei „Diener des Volkes“ war bei den ukrainischen Präsidentschaftswahlen 2019 neu im Politikgeschehen. Der Name stammte dabei von der gleichnamigen politischen Sitcom, in der Zelensky von 2014-2019 mitwirkte. Als Wassilyj Holoborodko spielte er hier die Rolle eines Geschichtslehrers, der per Crowdfunding-Kampagne zum Präsidenten wird und gegen die Korruption des Landes vorgeht. Zelensky nahm zudem an diversen Fernsehformaten teil, war Komödiant und lieh Paddington Bär seine Stimme. Was viele jedoch nicht wissen: Zelensky selbst kommt aus einer jüdischen, wohlgemerkt russischsprachigen, Akademikerfamilie. Er studierte in Kiew Rechtswissenschaft, führte diesen Beruf aber nie aus. Hier lernte er auch seine Frau Olena kennen, mit der er bis heute verheiratet ist und zwei Kinder hat. Zelenskys Sieg glich einer Revolution an der Wahlurne. Er setzte sich bei der Präsidentschaftswahl nicht nur gegen den Amtsinhaber Petro Poroschenko durch, sondern seine neu gegründete Partei erreichte mit über 43 Prozent der Stimmen auch die absolute Mehrheit in der Werchovna Rada (ukrainisches Parlament) und konnte ohne Koalitionspartner die Regierung des Landes stellen.

Der Wahlerfolg stammt dabei zum einen aus der Popularität Zelenskys, aber auch der politischen Unzufriedenheit der Bevölkerung. Die Partei „Diener des Volkes“ vermied es, konkrete Wahlversprechen zu machen. Zelenskys Partei verschrieb sich der Bekämpfung der Korruption – das zählt quasi zur Tradition im ukrainischen Wahlkampf. Die deutsche Presse stand dem neuen Präsidenten zwiegespalten gegenüber, freute sich auf der einen Seite über die pro-europäische Haltung, bezeichnete ihn aber auch als Populisten.

Eine wichtige Regel im ukrainischen Wahlkampf lautet: Ohne oligarchische Unterstützung Präsident zu werden, ist so gut wie unmöglich. Zelenskys Oligarch der Wahl heißt Ihor Kolomoyskyi. Er ist der Besitzer des Medienunternehmens K1+1, das schon die Sendung „Diener des Volkes“ produzierte und Zelensky berühmt machte. Kolomoyskyi war von 2014-2015 Gouverneur der Oblast Dnipropetrovsk in der Ostukraine. Mit der Gründung seiner Kolomoyskyi-Armee machte er sich sehr unbeliebt in Moskau, Russland erlies im Jahr 2014 Haftbefehl gegen ihn, in die USA darf er wegen Verdacht auf Korruption seit 2021 nicht mehr einreisen.

Das Problem der Korruption

Zelenskys Vorgänger, Petro Poroschenko, war selbst Unternehmer und besaß eine Süßwarenkette, die während seiner Amtszeit florierte. Zudem betrugen die Steuerzahlungen und Spenden Poroschenkos deutlich unter zehn Prozent seines Einkommens. Noch auffälliger verhielt sich allerdings Poroschenkos Vorgänger, Viktor Janukowitsch, der 2014 im Zuge des Euromaidans aus dem Amt gehoben wurde. Aus Putins Sicht ist Janukowitsch der letzte legitime Präsident der Ukraine, Russland gewährte Janukowitsch nach seiner Absetzung auch Asyl, angeblich in einem Moskauer Luxushotel. Janukowitsch sprach nach seiner Absetzung häufig von neofaschistischen Politikern und Terror in der Ukraine. Wovon er jedoch nicht sprach, war der Reichtum seines älteren Sohnes Oleksandrs, der während seiner Präsidentschaft geschätzte 500 Millionen Dollar betrug. Auch erwähnte er nicht, dass um die 50 Abgeordnete der Werchovna Rada von den damals mächtigsten Oligarchen der Ukraine – Rinat Achmetov und Dmitro Firtasch – unter seiner Anleitung „beeinflusst“ wurden. Machtmissbrauch stand zu Janukowitschs Amtszeit an der Tagesordnung, auch wenn das aus dem russischen Exil natürlich anders gesehen wird.

Am Beispiel Janukowitschs kann man eines der Kernprobleme ukrainischer Politik gut erkennen: Die Korruption und der daraus resultierende Einfluss der Oligarchen. Zurückzuführen ist dieser Einfluss vor allem auf die Geschichte der Ukraine. Nach dem Zerfall der Sowjetunion und dem Erlangen der Unabhängigkeit im Jahr 1991 musste sich das Land neu strukturieren. Es befand sich zusammen mit den ehemaligen Satellitenstaaten in einer Umbruchszeit, die so gut wie alle Lebensbereiche betraf. Wie in totalitären Ideologien üblich, wurde bis dahin versucht, alle Bereiche des Lebens zu politisieren. Sei es Sport, Kultur oder auch die Sprache, alles wird politisch und dadurch staatlich organisiert.

Nach dem Zerfall der Sowjetunion mussten diese Bereiche wieder neu organisiert werden. Gerade in der Ukraine kam es dabei zu einer engen Verstrickung von Politik und WirtschaftEine Verstrickung, die so eng war, dass man sich schwertat, korrupte Politiker und Oligarchen voneinander zu unterscheiden. Ein kleiner Trick für die Unterscheidung: Schwindet das Vermögen eines Politikers nach dem Ende der Amtszeit, war er korrupt, bleibt es unverändert bestehen, könnte es sich um einen Oligarchen handeln.

Korruptionsbekämpfung ist gefährlich

Seitdem sind über 30 Jahre vergangen, doch nach wie vor ist die Korruption eines der Hauptprobleme des ukrainischen Staates. Zelenskys Partei wollte sich diesem Problem annehmen. Ein Unterfangen, das alles andere als einfach ist. Einerseits, weil es sich um einen Teufelskreis handelt und andererseits, weil man als Abgeordneter oder Journalist gerne mal mit dem eigenen Leben bezahlt, wenn man zu unbequem wird. Alleine letztes Jahr wurde das Auto von Sergej Schefir, einem engen Berater Zelenskys, in Brand gesetzt und beschossen, sodass dieser nur noch mit gepanzerten Autos fährt. Um dennoch gegen die Korrumpierbarkeit von Politikern vorzugehen, wird auf zwei altbekannte Mittel aus den Federalist Papers zurückgegriffen: Transparenz und Rechtstaatlichkeit. Die Rechtstaatlichkeit beschäftigte bereits Zelenskys Vorgänger Poroschenko, der 2014 eine Justizreform einleitete und während seiner Amtszeit ein Dutzend neuer Gesetze für die Ausgestaltung des Gerichtswesens verabschiedete. Zelensky führte diesen Trend fort und setzte eigene Änderungen für den Aufbau einer unabhängigen Richterschaft ein. Bislang lässt der Erfolg jedoch auf sich warten. Im internationalen Vergleich steht es nach wie vor schlecht um die Ukraine, sie befand sich 2021 etwa auf Platz 122/138 des Korruptionsindex (zum Vergleich Russland befindet sich auf Platz 136 und Deutschland auf Platz 10)

Von Anfang an eine politische Zwickmühle

Zelensky befand sich also bereits vor seiner Zeit im Bunker in einer politischen Zwickmühle. Auf der einen Seite bestanden Abhängigkeiten zur EU und zum IWF, die Anleihen und Privilegien im Zuge der Korruptionsbekämpfung versprachen. Eine Aufnahme in die EU wurde jedoch ausgeschlossen.
Auf der anderen Seite war Russland die Annäherung an die „westliche Einflusssphäre“ ein Dorn im Auge. Die neue Regierung stellte das perfekte Feindbild dar: Eine neue Partei, unterstützt von einem Oligarchen mit Haftbefehl, mit einem medial populistisch auftretenden Zelensky, der schon in seiner Antrittsrede klarstellte, dass es keine territorialen Verschiebungen gäbe. Diplomatische Annäherungen scheiterten von Beginn an, es folgten Provokationen, kompromisslose Forderungen von russischer Seite und am Ende der Angriffskrieg. Im Angesicht des Krieges ist die Ukraine nun auf sich alleine gestellt. Ein ziemlich aussichtsloses Unterfangen, betrachtet man die militärische Überlegenheit Russlands. 

Zelensky war sich dessen natürlich bewusst. Schon in seiner Rede auf der Münchner Sicherheitskonferenz warnte er vor einem dritten Weltkrieg und ließ anmerken, was er von der deutschen Politik hielt:

Three years ago, it was here that Angela Merkel said: “Who will pick up the wreckage of the world order? Only all of us, together.” The audience gave a standing ovation. But, unfortunately, the collective applause did not grow into collective action. […] We will defend our land with or without the support of partners. Whether they give us hundreds of modern weapons or five thousand helmets. We appreciate any help, but everyone should understand that these are not charitable contributions that Ukraine should ask for or remind of.

Nicht einmal eine Woche später fand sich Zelensky im Bunker wieder. Aufgeben scheint für ihn keine Option zu sein und so setzt er alles auf seine verbleibende Trumpfkarte: Die Kampfmoral der Ukrainer. Über die sozialen Medien erhalten die Ukrainer alle paar Stunden die neusten Informationen, es werden Ehrentitel an gefallene Soldaten verliehen und Verhandlungen geführt. Das Angebot der Amerikaner, ihn aus Kiew zu evakuieren, lehnte er mit den Worten „Wir brauchen Munition, keine Mitfahrgelegenheit!“ ab. Ihm dürfte wohl bewusst sein, dass er diese Entscheidung nicht überleben wird. Auch die anderen Teile der politischen Elite sind sich dessen bewusst und bleiben dennoch in ihrem Land. Die Diener des Volkes beweisen der Welt, dass es noch Politiker gibt, die mutig sind und zu ihrem Wort stehen

 

 


Das Mysterium Putin

Von Pauline Schwarz | Mein Russland-Bild wurde schon früh in meiner Kindheit durch die französischen Comics von Spirou und Fantasio geprägt, die sich durch das Sowjet-Imperium schlichen und Abenteuer in Moskau erlebten. Für mich waren die Russen immer ein mysteriöses Volk, das in dunklen, kalten Gefilden zuhause ist, nie eine Miene verzieht, viel zu viel Wodka trinkt und in seiner Freizeit nur mit Fellmütze bewaffnet ins Eisbad steigt. Als ich dann das erste Mal mit dem „realen“ Russland und seinem Machthaber Wladimir Putin im Fernsehen konfrontiert wurde, dachte ich nur: genau wie ich ihn mir vorgestellt habe! Für mich war Putin der Staatschef aus dem russischen Bilder-Buch: Emotionslos, verbissen, gefürchtet. Schwer einzuschätzen und scheinbar zu allem bereit. Ein Eindruck, der sich angesichts seines Angriffskriegs auf die Ukraine nur noch verfestigt hat. Und doch stimmt da etwas nicht. Putin sieht anders aus als früher, begründet seinen Einmarsch mit wüsten Verschwörungstheorien – und heizte damit kräftig die Gerüchteküche an. Einmal mehr fragt man sich rund um die Welt: Wer ist dieser Mann und was zur Hölle treibt ihn an?

In seinen Fernsehansprachen sagte Putin, er wolle die Ukraine entmilitarisieren und entnazifizieren. Die ukrainische Führung sei nach seinen Aussagen eine Gruppe mit Drogen vollgepumpter, von den USA gesteuerter Nazi-Volksverräter, eine „Marionetten-Regierung“ – und das, obwohl die Ukraine, abgesehen von Israel, der einzige Staat mit einem jüdischen Präsidenten ist. Doch damit nicht genug. Putin wirft der Ukraine einen Genozid, also einen gezielten Völkermord, gegenüber der russischen Bevölkerung im Donbas vor. Davon kann aber, auch wenn es seit acht Jahren bewaffnete Konflikte gibt, nicht mal im Ansatz die Rede sein. Genauso wenig wie davon, dass die Nato Russland eingekreist hätte. Die Nato ist zwar seit Ende des kalten Krieges deutlich in Richtung Osten gewachsen, von einer Umzinglung des größten Flächen-Staates der Welt sind wir aber mehr als nur weit entfernt. Jeder Ost-Staat, der der Nato beitrat, tat das aus freien Stücken – und mit allergrößter Wahrscheinlichkeit aus Angst vor Putins Imperialismus.

Manche Leute sprechen ernsthaft davon, dass die Folgen einer Corona-Infektion den russischen Staatschef in den Wahnsinn getrieben hätten – was ich persönlich ziemlich geschmacklos finde.

Während Putin über vermeintliche Nazis und die „Frage um Leben und Tod“ in Russland schwadroniert, sieht er auffällig aufgequollen aus. Er wirkt hasserfüllt und besessen von der historischen Kränkung des Machtzerfalls der Sowjetunion, den er anscheinend gerne rückgängig machen würde. Aber ist das alles nun ein eiskalter Schachzug in einem lang angelegten Plan oder doch die Tat eines kranken Mannes? Manche meinen, Putins Aussehen sei eine Folge von Steroiden – wenn man daran denkt, wie gerne er oben-ohne auf Pferden reitet, vielleicht gar nicht so abwegig. Immerhin will man sich in Form halten, das ganze Judo, Eishockey, Schwimmen und was der Kreml-Chef sonst noch macht, sind sehr zeitraubend. Andere spekulieren über eine Parkinson-Erkrankung, meinen Putin sitze in seinen Ansprachen am Tisch, um sein Zittern zu verbergen. Doch da muss ich als an den Händen ebenfalls zitternder Leidensgenosse -der jedem Fremden erstmal erklären muss, dass ich nicht gleich tot umfalle – einschreiten: Nicht jedes Zittern ist gleich Parkinson. Bei manchen Leuten ist das einfach so. Sei es der Kreislauf, angeboren oder das Zittern vor der Nationalflagge – siehe Merkel. Ohne weitere Informationen ist nur die Long-Covid Theorie abwegiger als die Parkinson-Verschwörung. Manche Leute sprechen ernsthaft davon, dass die Folgen einer Corona-Infektion den russischen Staatschef in den Wahnsinn getrieben hätten – was ich persönlich ziemlich geschmacklos finde. Für mich klingt diese Vermutung so, als wolle die NoCovid-Fraktion Putins Krieg jetzt tatsächlich noch für ihre Corona-Endzeit-Argumentation instrumentalisieren.

Ich glaube nicht, dass Putin, wenn er tatsächlich im pathologischen Sinn verrückt sein sollte, an Long-Covid leidet. Aber Angst vor Corona scheint der Mann wirklich zu haben – anders lässt sich sein gefühlt kilometerlanger Konferenztisch – an dessen anderem Ende nicht nur ausländische Staatschefs, sondern auch seine eigenen Genossen Platz nehmen müssen – kaum erklären. Jetzt fragt man sich natürlich, warum ein erwachsener Mann so Angst vor einem Erkältungsvirus haben sollte. Die erste Erklärung liegt nahe: das hat nichts mit der Realität zu tun – wie viele Leute auch nach zwei Jahren Corona noch immer ernsthaft Angst vor dem „Todesvirus“ haben, sieht man in Deutschland an jeder Ecke. Eine andere Spekulation richtet sich wieder auf seine Gesundheit. Eines der hartnäckigsten Gerüchte um Putin ist eine mögliche Krebserkrankung. Sein aufgeschwemmtes Aussehen wird als Nebenwirkung von Medikamenten interpretiert. Der Kreml wies diese Behauptungen zurück.

Aber mal im Ernst, was wissen wir schon? Ich habe den Eindruck, dass man von Putin genau so viel weiß, wie Putin es möchte. Putins Privatleben, sein Alltag und seine Familie sind Staatsgeheimnis. Das aller meiste, was über ihn bekannt ist, passt genau zu seinem Bild vom unerschrockenen, starken Machthaber mit weitem Einflussgebiet. Etwa, dass er sich schon als kleiner Junge in den vom Krieg zerstörten Straßen Leningrads mit Gleichaltrigen geprügelt haben soll und sich wünschte, Geheimagent zu werden. Dass er einen schwarzen Gürtel in Judo hat und sein Kampfsporttrainer in Sankt Petersburg ein gefürchteter Untergrundboss war. Oder auch, dass er nach seiner Zeit als KGB-Offizier in Dresden, zurück in Russland, noch immer regelmäßig das „Morgenmagazin“ von ARD und ZDF guckte. Ja Mensch, sogar, dass er gerne Hüttenkäse isst und früher manchmal sächsische Witze erzählt haben soll. Davon wüssten wir bestimmt nichts, wenn Putin damit nicht trotz seines harten Images eine gewisse Sympathie erzeugen wollte – und ja, vielleicht neige ich in diesem Punkt auch schon zu Verschwörungsglauben. Aber es würde doch irgendwie zu seiner ach so west-freundlichen Rede passen, die er 2001 im Bundestag gehalten hat.

Am Ende bleibt der Mann aus dem Kreml ein Mysterium.

Selbst wenn mal einzelne Infos durchrutschen sollten – wie etwa die wohl wenig relevante, aber doch interessante Information, dass Putin im Jahr 2010 angeblich eine kosmetische Gesichtskorrektur vornehmen ließ – ist es doch schwer, Informationen zu prüfen, zu bestätigen und zu erklären. Vor allem vor dem Hintergrund, dass die russische Presse staatlich gelenkt und zensiert wird. Immer wieder verschwinden Putin-Kritiker oder versterben unter mysteriösen Umständen. Der Giftanschlag auf Alexej Nawalny ist wohl der bekannteste Fall, aber es gibt noch viele mehr. Was mit Leuten passiert, die über Putins Privatleben berichten, zeigte sich am Beispiel der Zeitung „Moskowski Korrespondent“.  Sie berichtete im Jahr 2008 über die vermutete Liaison von Putin und der Olympionikin Alina Kabajewa, mit der er inzwischen auch mehrere Kinder haben soll. Kurz darauf wurde der Betrieb der Zeitung eingestellt – aus „finanziellen Gründen“. Den verantwortlichen Journalisten fand man wenig später in einer Seitenstraße, Unbekannte hatten ihn zusammengeschlagen.

Putin ist und bleibt in jeglicher Hinsicht schwer einzuschätzen – und genau das macht ihn so gefährlich. Das einzige, was einigermaßen sicher scheint, ist, dass er sich wünscht, das alte Zarenreich wiederherzustellen und wirklich an die Dinge glaubt, die er in seinen Ansprachen sagt. Ich bin inzwischen recht überzeugt davon, dass Putin dachte, die Ukrainer würden seine Armee als Befreier mit offenen Armen empfangen. Die Frage ist nur, wie weit der Mann aus dem Kreml sich inzwischen von der Realität entfernt hat. Und wie weit er noch gehen wird. Man kann nur hoffen, dass seinem Wahnsinn noch ein paar letzte Grenzen gesetzt sind.


Realitätsschock Krieg – Wie der Ukraine-Konflikt die Weltsicht vieler junger Leute erschüttert

Von Larissa Fußer | In den letzten Tagen sehe ich in den Sozialen Medien immer wieder Posts von jungen Leuten zum Ukraine-Krieg. Da war dieses Mädchen, das mit bedrückter Miene ihren Pulli in die Kamera hält, auf dem „Nie wieder Krieg“ steht und dieser junge Sänger, der mit leeren, abwesenden Augen rappt: „Manchmal ist die Wahrheit zu krass dafür, dass ich mein harmoniesüchtiges Hirn darin vertiefen will. Und deshalb steht mein Instagram in jeder Krise still. Ich halt die ganze Scheiße einfach nicht aus, passier mein Leben oder schneid mich da raus.“ Ich glaube, dieser Junge bringt auf den Punkt, wie sich viele junge Menschen im Moment fühlen: Verängstigt und unfähig, damit umzugehen.

Auch für mich waren die Nachrichten über Putins Angriff auf die Ukraine ein Schock. Ich bin gerade auf dem Weg zum Supermarkt gewesen, da habe ich plötzlich vor einem Kiosk die Schlagzeilen gesehen. Angriff, Bomben, Einmarsch. Mir ist kurz das Herz stehen geblieben. Später zuhause habe ich mir Videos angeschaut – von den Luftangriffen, einschlagenden Bomben, fliehenden Menschen. Natürlich hatte ich solche Videos schon mal gesehen, zuletzt aus Afghanistan. Aber das war weit weg gewesen. Jetzt aber fühlte es sich sehr nah an. Und auch wenn es übertrieben sein mag, natürlich kam auch mir der Gedanke: Was, wenn Putin bei der Ukraine nicht halt macht? Was, wenn seine Truppen irgendwann auch in Deutschland einmarschieren? Meine Sorgen wurden nicht gerade beruhigt, als ich die emotionslose Rede unseres Bundeskanzlers sah. Dieses Fähnchen im Wind soll uns verteidigen? Zum ersten Mal, so muss man es wirklich sagen, hatte ich in meinem Leben ernsthafte Angst vor Krieg.

Ich denke, so ging es vielen jungen Leuten. Fast alle sind wir aufgewachsen in dem Glauben, dass es bei uns nie wieder Krieg geben würde. Ich selbst kann mich noch allzu gut daran erinnern, dass ich in der Schule immer, wenn es um Kriege ging, gedacht habe: Warum haben diese Menschen überhaupt Krieg geführt? Ich verstand es einfach nicht und außerdem kamen mir die Weltkriege damals unvorstellbar lang her vor. Ich fand sie grausam, beängstigend – aber darüber hinaus haben sie mich ehrlich gesagt lange nicht berührt. Weil sie mir eben unfassbar weit entfernt erschienen und weil uns kein Lehrer die Kriege ernsthaft erklärte. Wir haben Eckdaten gepaukt, Bücher über die Judenverfolgung gelesen. Aber wir haben zum Beispiel nie versucht zu verstehen, wie es überhaupt dazu kommen konnte, dass die Deutschen 6 Millionen Juden ermordet haben. Hitler war ein Teufel, die Deutschen waren dumm, grausam und antisemitisch – das war es, was bei mir zum Thema Krieg hängen blieb.

Und aus dieser Sicht heraus, war ich natürlich immer „gegen Krieg“. So wie man als Kind eben gegen Hass und Tod ist – und für Liebe und Freundschaft. Nur: Krieg war in meiner Kindheit eben überhaupt kein aktuelles Thema, mit dem ich mich hätte auseinandersetzen müssen. Ich wurde 2004 eingeschult. Bis zur Krim-Krise 2014 gab es in Europa keine militärischen Konflikte, von denen ich überhaupt etwas mitbekommen habe. Ich musste erst erwachsen werden, um zu merken, welch naive Sicht auf die Welt mir in der Schule beigebracht worden war. Und ich bin immer noch dabei, das „Make Love, Not War“-Geschnurzel meiner Alt-68er-Hippie-Lehrer und Bekannten abzuschütteln.
Weil ich eben irgendwann, vielleicht war es in einer spätnächtlichen Apollo-Diskussionsrunde, verstanden habe: Wenn die USA keinen Krieg gegen das Hitler-Deutschland geführt hätten, gäbe es das Deutschland, in dem ich heute so gut lebe, nicht. Vielleicht hätte es überhaupt kein Deutschland mehr gegeben, vielleicht hätte es sogar kaum noch Deutsche gegeben. Und ich habe begriffen, dass ein Israel, wenn es nicht in dauerhafter Kampfbereitschaft wäre und sich nicht immer wieder mit voller Härte gegen Angriffe seiner Nachbarn verteidigen würde, nicht existieren könnte. Heißt: Ich weiß nun, dass es die Freiheit und Werte der westlichen Welt nur gibt, weil sie erkämpft wurden. Und dass wir sie ganz schnell verlieren können, wenn wir sie nicht verteidigen. Nicht zuletzt deswegen berührt mich auch der Ukraine-Krieg: Auch den Ukrainern geht es um nicht weniger, als ihre Freiheit und Souveränität zu verteidigen. Und das werden sie – anders als mein früheres Hippie-Ich geglaubt hätte – nicht schaffen, indem sie Auge in Auge mit den russischen Panzern „Give Peace a Chance“ singen.

Wer von euch „Matrix“ geguckt hat, kennt sicher die Szene, in der die Hauptfigur Neo vor die Wahl gestellt wird, eine blaue oder eine rote Pille zu schlucken. Die blaue Pille lässt ihn weiter in einer konstruierten Scheinwelt leben, in der alles schön und angenehm ist. Die rote Pille aber holt ihn in die reale Welt, die gefährlich, beängstigend und unangenehm ist. In der er aber – im Gegensatz zur Traumwelt – etwas verändern kann. Ich glaube, dass der Ukraine-Krieg die rote Pille für viele von uns jungen Leuten war. Jetzt ist es an uns, einen Umgang mit der Realität zu finden – und uns nicht, so wie der am Anfang erwähnte Sänger, von der Welt abzuschneiden und weiter zu träumen.


Gestern noch umgeben von Pazifisten, heute mitten im Krieg

Von Jerome Wnuk | Seit dem letzten Donnerstag ist vieles anders. Der Beginn des russischen Angriffs auf die Ukraine hat uns alle sprachlos gemacht. Der Alltag in Schule und Freizeit ist aktuell nur mit einem Wort zu beschreiben: anders. Normalerweise mache ich mein Handy vor der Schule nie an. Gerade an diesem Tag wollte ich mich nicht noch unnötig morgens in irgendwelchen sozialen Medien verlieren und eher die übrige Zeit sinnvoll nutzen, um nochmal alles für meine anstehende Politikklausur durchzugehen. Das ging an diesem Morgen nicht. Nicht mal frühstücken konnte ich richtig und schon gar nicht an irgendwelche Begriffe aus der Politikwissenschaft denken.

Wie ein Schlag in den Bauch hatte die Nachricht, dass russisches Militär die Ukraine angreift, mich erwischt. Das Gefühl an diesem Morgen war ein völlig neuartiges, ein tief bedrückendes. Schon die Tage davor, in denen sich das ganze Unheil anbahnte, fühlte sich der Alltag surreal an. Fast minütlich hatte man auf den News-Feed geguckt, mit Freunden gesprochen und noch bis in die Nacht verschiedenste Berichte über das Geschehen gelesen und gehört. Trotzdem ging man noch ganz normal seinen Alltag nach. Noch am Abend davor war ich zum Beispiel noch mit einer Freundin im Theater gewesen.

Das ist seit dem Donnerstag anders. Das alltägliche Leben mit Schule und Hobbys geht zwar weiter, fühlt sich jedoch völlig anders als sonst an. Aktuell fühlt es sich surreal an, in einer Schule zu sitzen oder irgendwo ein Kaffee trinken zu gehen, während 1000 Kilometer von hier gerade ein Staat von einem anderen militärisch attackiert wird und unschuldige Menschen sterben. Dass dort Menschen wie wir, die bis vor Kurzem noch dieselben Dinge wie wir getan haben, nun auf einmal um ihr Leben fürchten müssen, ist eine unerträgliche Tatsache und ein Fakt, der einen den Alltag anders erleben lässt. Oft wird man aktuell an das schreckliche Geschehen erinnert.

Diese dauerhafte Präsenz dieses Krieges und der verbundenen Sorgen in unserem Alltag ist eine Neuheit für mich und für große Teile meiner Generation. Klar, wir haben auch schon den Syrienkonflikt oder Corona erlebt, aber, dass alle so gebannt, wie die meisten in den letzten Tagen, die Nachrichten verfolgt haben und alle den Drang hatten, über die Ukraine zu sprechen, gab es noch nie. Man spürt eine Angst vor einer Bedrohung, die noch nie in unserem Leben konkreter war als jetzt. Noch nie war die Sorge vor einer Eskalation, vor einem Angriff auf all das, was uns wichtig ist, größer. Noch mal um ein großes Stück schlimmer als bei mir, ist es bei einer meiner besten Freunde, der aus Lettland kommt, dort immer seine Ferien verbringt und engste Familie in Lettland hat. Er kennt von seinen Eltern und Großeltern noch die schlimmen Geschichten aus der Zeit russischer Besatzung. Die Angst, dass sich diese Zeiten bald wiederholen werden, ist bei ihm und bei den meisten Nachbarstaaten Russlands akuter denn je und mit kaum einer Angst, die er bisher erlebt hat, vergleichbar. Dieser Krieg, dieser Angriff auf die Ukraine betrifft Europa wie kein anderer seit dem Zweiten Weltkrieg. Es sind Menschen wie wir, die ein Leben wie wir geführt haben, die dort nun um ihr Leben fürchten müssen. Es ist so nah wie nie und so bedrohlich wie nie. Dieses Gefühl ist nicht zu vergleichen oder zu beschreiben, es ist einfach da und es fühlt sich schlimm an.

 


Weiter Dienst nach Vorschrift: Der falsche Umgang mit diesem Krieg in der Schule

Von Gesche Javelin und Johanna Beckmann | Wir, die Jugend, kennen den Krieg nur aus Erzählungen und dem Geschichtsunterricht. Ein Krieg war für uns noch nie so nah, er war noch nie in Europa. Genau aus diesem Grund beschäftigt der Konflikt in der Ukraine viele von uns. Jedoch wissen wir nicht, wie wir die Situation einschätzen sollen, da wir so etwas noch nie erlebt haben. Sobald wir einen Blick auf Nachrichten werfen, sehen wir brennende Häuser, Panzer und weinende Familien in der Ukraine. Uns fällt es oft schwer, diese Bilder richtig einzuordnen.

Die aktuellen Nachrichten lassen sich für viele nur schwer verarbeiten und alles dreht sich um die Frage: „Wird es einen dritten Weltkrieg geben?“ Durch die erschreckenden Bilder ist das Interesse, mehr über den Ukraine-Russland Konflikt zu erfahren, bei vielen geweckt. Um weitere Informationen zu finden, müssen wir uns nun in der Vielzahl von Medien orientieren. Das ist oft gar nicht so einfach. Grundlegende Informationen findet man oft schon auf Social Media. Bei der weiteren Recherche geben viele dann auf, da sie sich von der Masse an Informationen erschlagen fühlen und diese nicht wirklich einordnen können. Viele Jugendliche bleiben bei der Information Russland greift die Ukraine anstehen. 

Bei Gesprächen zum Thema Ukraine in der Klasse fiel uns nicht nur der stark unterschiedliche Informationsstand auf, auch die Sorgen und Ängste unserer Mitschüler waren unterschiedlich. Wir saßen im Klassenraum und hatten Pause. Wie es zu erwarten war, kam das Gesprächsthema Russland-Ukraine Konflikt auf:

 

Emily, die Hysterische, sagt: ,,Leute, denkt ihr, dass es zu einem dritten Weltkrieg kommen wird?

,,Ich habe auf meiner TikTok for you page gesehen, dass der Zeitreisende einen 3. Weltkrieg vorhersagt., wirft Eileen ein.

,,Nö, glaube ich nicht.,  murmelt Ben und isst weiter sein Brötchen.

Achim, der Militärstratege, philosophiert: ,,Die Russen haben doch am Anfang schon so viele taktische und operative Fehler gemacht. Kein Wunder, wenn man denkt, dass man ohne Schutz einfach in ukrainische Dörfer fahren kann. Da glaubst du doch nicht wirklich, dass es zu einem 3. Weltkrieg kommen wird.

,,Naja, wir werden sehen., nuschelt Ben.

,,Ich habtrotzdem Angst. Hat irgendwer von euch vielleicht einen Bunker zu Hause? Ich würde mich auch um die Essensvorräte kümmern., bringt Emily vor.

,,TikTok sagt, dass man auf einen Ernstfall immer vorbereitet sein sollte., versichert Eileen.

,,Bestimmt., raunt Ben.

Achim erklärt: ,,In Deutschland brauchen wir dafür unbedingt eine Baugenehmigung und die Wände müssen mindestens 1,5 Meter dick sein. Am Besten aus Stahlbeton.

Emily gibt zu bedenken: ,,Aber der schützt mich auch vor Atombomben, oder?“

Also TikTok empfiehlt, dass man heutzutage sowieso nur noch Bunker mit Schutz vor Atombomben bauen sollte., trägt Eileen vor.

Ben schmatzt: ,,Ja, das ist total wichtig.

Achim unterrichtet: ,,Wenn Putin Atombomben werfen würde, wäre das doch nur eine unnötiger und eskalierender militärischer Aufwand. Außerdem pflegt er eine sehr gefährliche und unverantwortliche Rhetorik, deswegen glaube ich kaum, dass ein Atomkrieg im Bereich des Möglichen liegt.

Frau Wagner unterbricht energisch: „Können wir jetzt mal bitte mit dem Unterricht anfangen! Ich muss den Lehrplan schaffen, sonst seid ihr nicht gut auf´s Abitur vorbereitet. Und Achim, ich finde nicht gut, dass du in meinem Unterricht deine Militärtheorien verbreitest, das schwächt das Arbeitsklima.” 

 

Wie soll Emily produktiv arbeiten, wenn sie sich solche Sorgen macht?  Wenigstens die Angst vor einem Atomkrieg könnte eine Lehrkraft ihren Schülern doch nehmen, ohne dass gleich der Abischnitt in den Keller fällt. Doch so wie bei Emily und ihren Mitschülern sieht es bei vielen von uns aus. Ja, die Mehrheit der Schüler in unserem Alter weiß nicht einmal genau, wo die Ukraine auf der Karte ist. Oder welche Sprache dort gesprochen wird, wie Minsk genau geschrieben wird und erst recht nicht, welche Geschichte dieses Gebiet hat. Ja, Emily mag übertreiben, vielleicht ist sie auch etwas zu hysterisch. Doch, wer will ihr oder uns einen Vorwurf machen? Wir werden da einfach rausgehalten, wir erfahren nur das Mindeste. Wir können die Informationen gar nicht richtig einordnen, Influencer auf Tiktok und Co. nutzten das gerne aus, um die Panik der Jugendlichen für Klicks und Likes noch anzufeuern. Jetzt wäre es die Möglichkeit von Erwachsenen, – und vor allem von denen, die dafür bezahlt werden, uns zu unterrichten – endlich mal zu erklären, was zur Hölle hier los ist. Dann würden wir im Geographie-Unterricht auch in Zukunft besser aufpassen.