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Das Mysterium Putin

Von Pauline Schwarz | Mein Russland-Bild wurde schon früh in meiner Kindheit durch die französischen Comics von Spirou und Fantasio geprägt, die sich durch das Sowjet-Imperium schlichen und Abenteuer in Moskau erlebten. Für mich waren die Russen immer ein mysteriöses Volk, das in dunklen, kalten Gefilden zuhause ist, nie eine Miene verzieht, viel zu viel Wodka trinkt und in seiner Freizeit nur mit Fellmütze bewaffnet ins Eisbad steigt. Als ich dann das erste Mal mit dem „realen“ Russland und seinem Machthaber Wladimir Putin im Fernsehen konfrontiert wurde, dachte ich nur: genau wie ich ihn mir vorgestellt habe! Für mich war Putin der Staatschef aus dem russischen Bilder-Buch: Emotionslos, verbissen, gefürchtet. Schwer einzuschätzen und scheinbar zu allem bereit. Ein Eindruck, der sich angesichts seines Angriffskriegs auf die Ukraine nur noch verfestigt hat. Und doch stimmt da etwas nicht. Putin sieht anders aus als früher, begründet seinen Einmarsch mit wüsten Verschwörungstheorien – und heizte damit kräftig die Gerüchteküche an. Einmal mehr fragt man sich rund um die Welt: Wer ist dieser Mann und was zur Hölle treibt ihn an?

In seinen Fernsehansprachen sagte Putin, er wolle die Ukraine entmilitarisieren und entnazifizieren. Die ukrainische Führung sei nach seinen Aussagen eine Gruppe mit Drogen vollgepumpter, von den USA gesteuerter Nazi-Volksverräter, eine „Marionetten-Regierung“ – und das, obwohl die Ukraine, abgesehen von Israel, der einzige Staat mit einem jüdischen Präsidenten ist. Doch damit nicht genug. Putin wirft der Ukraine einen Genozid, also einen gezielten Völkermord, gegenüber der russischen Bevölkerung im Donbas vor. Davon kann aber, auch wenn es seit acht Jahren bewaffnete Konflikte gibt, nicht mal im Ansatz die Rede sein. Genauso wenig wie davon, dass die Nato Russland eingekreist hätte. Die Nato ist zwar seit Ende des kalten Krieges deutlich in Richtung Osten gewachsen, von einer Umzinglung des größten Flächen-Staates der Welt sind wir aber mehr als nur weit entfernt. Jeder Ost-Staat, der der Nato beitrat, tat das aus freien Stücken – und mit allergrößter Wahrscheinlichkeit aus Angst vor Putins Imperialismus.

Manche Leute sprechen ernsthaft davon, dass die Folgen einer Corona-Infektion den russischen Staatschef in den Wahnsinn getrieben hätten – was ich persönlich ziemlich geschmacklos finde.

Während Putin über vermeintliche Nazis und die „Frage um Leben und Tod“ in Russland schwadroniert, sieht er auffällig aufgequollen aus. Er wirkt hasserfüllt und besessen von der historischen Kränkung des Machtzerfalls der Sowjetunion, den er anscheinend gerne rückgängig machen würde. Aber ist das alles nun ein eiskalter Schachzug in einem lang angelegten Plan oder doch die Tat eines kranken Mannes? Manche meinen, Putins Aussehen sei eine Folge von Steroiden – wenn man daran denkt, wie gerne er oben-ohne auf Pferden reitet, vielleicht gar nicht so abwegig. Immerhin will man sich in Form halten, das ganze Judo, Eishockey, Schwimmen und was der Kreml-Chef sonst noch macht, sind sehr zeitraubend. Andere spekulieren über eine Parkinson-Erkrankung, meinen Putin sitze in seinen Ansprachen am Tisch, um sein Zittern zu verbergen. Doch da muss ich als an den Händen ebenfalls zitternder Leidensgenosse -der jedem Fremden erstmal erklären muss, dass ich nicht gleich tot umfalle – einschreiten: Nicht jedes Zittern ist gleich Parkinson. Bei manchen Leuten ist das einfach so. Sei es der Kreislauf, angeboren oder das Zittern vor der Nationalflagge – siehe Merkel. Ohne weitere Informationen ist nur die Long-Covid Theorie abwegiger als die Parkinson-Verschwörung. Manche Leute sprechen ernsthaft davon, dass die Folgen einer Corona-Infektion den russischen Staatschef in den Wahnsinn getrieben hätten – was ich persönlich ziemlich geschmacklos finde. Für mich klingt diese Vermutung so, als wolle die NoCovid-Fraktion Putins Krieg jetzt tatsächlich noch für ihre Corona-Endzeit-Argumentation instrumentalisieren.

Ich glaube nicht, dass Putin, wenn er tatsächlich im pathologischen Sinn verrückt sein sollte, an Long-Covid leidet. Aber Angst vor Corona scheint der Mann wirklich zu haben – anders lässt sich sein gefühlt kilometerlanger Konferenztisch – an dessen anderem Ende nicht nur ausländische Staatschefs, sondern auch seine eigenen Genossen Platz nehmen müssen – kaum erklären. Jetzt fragt man sich natürlich, warum ein erwachsener Mann so Angst vor einem Erkältungsvirus haben sollte. Die erste Erklärung liegt nahe: das hat nichts mit der Realität zu tun – wie viele Leute auch nach zwei Jahren Corona noch immer ernsthaft Angst vor dem „Todesvirus“ haben, sieht man in Deutschland an jeder Ecke. Eine andere Spekulation richtet sich wieder auf seine Gesundheit. Eines der hartnäckigsten Gerüchte um Putin ist eine mögliche Krebserkrankung. Sein aufgeschwemmtes Aussehen wird als Nebenwirkung von Medikamenten interpretiert. Der Kreml wies diese Behauptungen zurück.

Aber mal im Ernst, was wissen wir schon? Ich habe den Eindruck, dass man von Putin genau so viel weiß, wie Putin es möchte. Putins Privatleben, sein Alltag und seine Familie sind Staatsgeheimnis. Das aller meiste, was über ihn bekannt ist, passt genau zu seinem Bild vom unerschrockenen, starken Machthaber mit weitem Einflussgebiet. Etwa, dass er sich schon als kleiner Junge in den vom Krieg zerstörten Straßen Leningrads mit Gleichaltrigen geprügelt haben soll und sich wünschte, Geheimagent zu werden. Dass er einen schwarzen Gürtel in Judo hat und sein Kampfsporttrainer in Sankt Petersburg ein gefürchteter Untergrundboss war. Oder auch, dass er nach seiner Zeit als KGB-Offizier in Dresden, zurück in Russland, noch immer regelmäßig das „Morgenmagazin“ von ARD und ZDF guckte. Ja Mensch, sogar, dass er gerne Hüttenkäse isst und früher manchmal sächsische Witze erzählt haben soll. Davon wüssten wir bestimmt nichts, wenn Putin damit nicht trotz seines harten Images eine gewisse Sympathie erzeugen wollte – und ja, vielleicht neige ich in diesem Punkt auch schon zu Verschwörungsglauben. Aber es würde doch irgendwie zu seiner ach so west-freundlichen Rede passen, die er 2001 im Bundestag gehalten hat.

Am Ende bleibt der Mann aus dem Kreml ein Mysterium.

Selbst wenn mal einzelne Infos durchrutschen sollten – wie etwa die wohl wenig relevante, aber doch interessante Information, dass Putin im Jahr 2010 angeblich eine kosmetische Gesichtskorrektur vornehmen ließ – ist es doch schwer, Informationen zu prüfen, zu bestätigen und zu erklären. Vor allem vor dem Hintergrund, dass die russische Presse staatlich gelenkt und zensiert wird. Immer wieder verschwinden Putin-Kritiker oder versterben unter mysteriösen Umständen. Der Giftanschlag auf Alexej Nawalny ist wohl der bekannteste Fall, aber es gibt noch viele mehr. Was mit Leuten passiert, die über Putins Privatleben berichten, zeigte sich am Beispiel der Zeitung „Moskowski Korrespondent“.  Sie berichtete im Jahr 2008 über die vermutete Liaison von Putin und der Olympionikin Alina Kabajewa, mit der er inzwischen auch mehrere Kinder haben soll. Kurz darauf wurde der Betrieb der Zeitung eingestellt – aus „finanziellen Gründen“. Den verantwortlichen Journalisten fand man wenig später in einer Seitenstraße, Unbekannte hatten ihn zusammengeschlagen.

Putin ist und bleibt in jeglicher Hinsicht schwer einzuschätzen – und genau das macht ihn so gefährlich. Das einzige, was einigermaßen sicher scheint, ist, dass er sich wünscht, das alte Zarenreich wiederherzustellen und wirklich an die Dinge glaubt, die er in seinen Ansprachen sagt. Ich bin inzwischen recht überzeugt davon, dass Putin dachte, die Ukrainer würden seine Armee als Befreier mit offenen Armen empfangen. Die Frage ist nur, wie weit der Mann aus dem Kreml sich inzwischen von der Realität entfernt hat. Und wie weit er noch gehen wird. Man kann nur hoffen, dass seinem Wahnsinn noch ein paar letzte Grenzen gesetzt sind.


Lieber Herr Kubicki, sind Pfleger keine Menschen?

Von Pauline Schwarz | Herr Kubicki war für mich immer einer der wenigen Hoffnungsträger in der FDP – einer Partei, die sich in ihrer Gesamtheit stets zu bemühen schien, ihre angeblich liberale Politik mit einem grün-roten Wumms gegen die Wand zu fahren. Während die Stimmen der „No Border, No Nation“-, „Öffnet den Wohlfahrtsstaat“- und „Legalize it“-Fraktionen immer lauter wurden und man mehr und mehr den Eindruck gewann, dass die FDP mit Sozis (fast) aller Farben ins Bett steigen würde, um endlich auch mal in der Regierung mitspielen zu dürfen, war Wolfgang Kubicki oft der einzig liberale Lichtblick. Einer, der sich doch ab und an mal gewehrt hat. Doch dann kam Corona und wirbelte alles durcheinander. So mancher Parlamentarier zeigte in der Diskussion um die Einschränkungen unserer Grundrechte plötzlich sein wahres Gesicht – auch Kubicki. Allen bedächtigen Worten zum Trotz, zerstörte er mit einer einzigen Abstimmung sein Bild vom Kämpfer für Rechtsstaat und Freiheit.

Sieht man sich Interviews vom stellvertretenden Vorsitzenden der FDP an, wirkt Kubicki im Vergleich zu anderen Abgeordneten wirklich angenehm und sympathisch. Er hat keine schrille Stimme, keine verrückte Frisur, kann sich artikulieren, trägt Anzug und lacht zwischen seinen Worten nicht wie ein kleiner Psychopath. Immer wieder positionierte er sich öffentlich gegen grüne Regulations- und Verbots-Träume, wie etwa das ersehnte Tempolimit auf Autobahnen. In der Rhein-Neckar-Zeitung schrieb er 2019 sogar, man müsse von den grünen Plänen Abstand nehmen, „in der Umwelt- oder in der Flüchtlingspolitik globaler Vorreiter zu sein“ – sowas hört man von „liberalen“ Politikern selten. Sie werfen lieber wahllos mit dem Begriff Freiheit um sich und verdrehen und biegen ihn, wie es ihnen gerade passt. Herr Kubicki schien den Begriff bislang in seinem eigentlichen Sinn ernster zu nehmen und sagte zur Freiheit einst: „Natürlich ist die persönliche Freiheit niemals grenzenlos. Freiheit und Verantwortung gehören schließlich zusammen. Wer Menschen aber ihre Freiheit nimmt, weil er ihnen die Verantwortung nicht zutraut, nimmt ihnen zugleich ihre Mündigkeit“.

Ich habe dabei nur ein Problem: Sind Pfleger und anderes medizinisches Personal, wie Ärzte oder Rettungssanitäter, für Herrn Kubicki etwa keine Menschen?

Die Linie von Freiheit und Eigenverantwortung behält er momentan auch bei seiner Haltung zur Corona-Politik, seinen Stellungnahmen zu möglichen Öffnungsschritten und der Diskussion um eine Impfpflicht bei. Er stellt sich offen gegen die Einführung einer allgemeinen Impfpflicht, denn man habe ja die Möglichkeit, sich selbst durch eine Impfung zu schützen – und wer das nicht will, müsse mit den möglichen Folgen leben. Gegenüber der Welt sagte er im Januar: „Wir haben die Möglichkeit uns selbst zu schützen, schützen mit der Impfung aber keine anderen mehr, also auch Geboosterte, wie ich selbst, können infektiös sein und die Infektion weitertragen, dann müssen die Ungeimpften mit diesem Problem leben.“ Eine Woche früher sagte er gar: „Man muss akzeptieren, dass es in einer Gesellschaft Menschen gibt, die sich nicht impfen lassen wollen“ – super, heutzutage ein echter Paukenschlag.

Ich habe dabei nur ein Problem: Sind Pfleger und anderes medizinisches Personal, wie Ärzte oder Rettungssanitäter, für Herrn Kubicki etwa keine Menschen? Haben sie aufgrund ihres Berufs kein Recht auf Freiheit und Eigenverantwortung? Immerhin stimmte der „Anwalt aus dem hohen Norden“ gut einen Monat zuvor für die Einführung einer einrichtungsbezogenen Impfpflicht für Gesundheits- und Pflegepersonal – da passt für mich etwas nicht zusammen. Man kann sich schlecht als Liberaler verkaufen und glaubwürdig ein Buch veröffentlichen, das den Titel „Die erdrückte Freiheit – wie ein Virus unseren Rechtsstaat aushebelt“ trägt, während man sich gleichzeitig für eine so gravierende Verletzung der Grundrechte und unserer rechtsstaatlichen Prinzipien ausspricht. Für mich hat Herr Kubicki in diesem Moment sein wahres Gesicht gezeigt und meine Hoffnung in ihn jäh zerstört. Trotz aller Aussagen und Taten, die man ihm zugutehalten muss, hat er in diesem Moment gezeigt, dass er kein Oppositioneller ist und sich im Punkto Rückgratlosigkeit doch ganz gut in die Reihen seiner Partei eingliedern kann.


Klopapier, Nazi-Antifa und liberale Sozialisten: Das waren die größten Corona-Überraschungen

Von Pauline Schwarz | Vor Corona grüßte in Deutschland täglich das immer gleiche Murmeltier: Um das schändliche Automobil zu verdrängen, wurden unsere Straßen zielstrebig in vollgemüllte Fußgängerzonen verwandelt, Parkplätze wurden zu Hunderten Opfer von riesigen Blumenkübeln oder Parklets, die wirklich niemanden, außer Obdachlose und Säufer, zum Verweilen einladen. Jeden Freitag hüpften irgendwo ein paar Kinder – oder als Kinder getarnte Antifas – durch die Gegend und blockierten Rettungszufahrten, um das Klima zu schützen. Derweil gab sich unsere Bundesregierung Mühe, unsere Steuergelder für möglichst kreative Projekte zu verprassen, Kriminalität wegzudiskutieren, die Wirtschaft zu destabilisieren und unseren Wohlfahrtsstaat auch noch für den letzten Winkel der Erde zu öffnen. Bei all dem gab es nur Gut gegen Böse und links gegen rechts. Die Fronten standen fest. Doch dann kam Corona und es gab plötzlich einen neuen Spieler im Feld.

Dass dank des neuen Virus bald nichts mehr sein würde, wie es einmal war, wurde im Frühjahr 2020 das erste Mal spürbar. Die Welt war geschockt von den Bildern aus chinesischen Quarantäne-Camps, den Seuchenschutzanzügen und den in Gänze gnadenlosen Maßnahmen des chinesischen Regimes. Damals tönten unsere Politiker noch: „So was wird es in Deutschland nicht geben, wir sind eine Demokratie“. Aber, Überraschung! Wenige Zeit später saßen wir alle im ersten Lockdown und starrten frustriert unsere Wände an. Das war der erste große Schock, auf den wenig später der zweite folgen sollte: die große Klopapier-Krise von 2020. Die Deutschen strömten in die Supermärkte und kauften wie Berserker in der Hygiene-Abteilung alle Regale leer. Man kannte weder Freund noch Feind, nur noch den Run auf das Klopapier-Regal. Es gab Diebstähle, Schlägereien und Tränen um die letzten Rollen des weißen Heilsbringers. Denn der Deutsche fürchtet anscheinend nichts mehr als ohne Papier auf dem Pott zu sitzen. Ich wusste ja, dass uns eine Neigung zu Ordnung und Sauberkeit nachgesagt wird – aber diese spezielle Vorliebe hat mich doch überrascht.

Die große Klopapier-Krise 2020 und die rechten Globulis 

Seit den fast zwei Jahren Corona-Deutschland musste ich aber nicht nur unser Verhältnis zu Klopapier, sondern auch insgesamt so einiges überdenken. Zuletzt musste ich mir sogar eingestehen, dass ich ein völlig falsches Bild von meiner Kindheit und Herkunft hatte. Ich habe immer gedacht, dass ich mit Berlin-Kreuzberg aus einem links-grünen-öko-anarcho Milieu stamme – aber diesen Glauben hat mir der ÖRR mit seiner Berichterstattung über die Corona-Demos jäh zerstört. All die Bio-Workshops, die Atemseminare und all die Traumreisen, aus denen mich nur der zarte Ton der Klangschale meiner Yoga-Pädagogin wecken konnte. Ja sogar jedes Kügelchen Globuli – alles Schwindel! Das war nicht links. Ich stamme aus einem rechten Sumpf! Einem Sumpf, aus dem mit Trommeln, Peace-Schildern und Regenbogenflaggen bewaffnete Moormonster seit Monaten zu Hunderten oder sogar Tausenden ihren Unmut auf die Straßen tragen. Solche Menschen können nur Rechte sein und zwar alle, das sagt die ARD und wenn die das sagt, muss das schließlich stimmen.

Heute ist sogar Sarah Wagenknecht, eine der wohl bekanntesten Vertreterinnen der Links-Partei, eine rechte Hetzerin – die Frau, die mein altlinker Vater immer für ihren glühenden Wirtschaftssozialismus anhimmelte.

Den Mainstream-Medien sei Dank, weiß ich nun, dass meine Ansichten falsch sind. Rechts war für mich vor kurzem noch so ungefähr jeder, der kein Stalin-, Mao- oder Pol Pot-Poster über seinem Bett hängen hat. Jeder, der nicht von Anarchismus, dem Multikulti-Öko-Staat, der Kommune eins und umfassender Planwirtschaft träumt. Aber ne ne, nicht mit Corona! Labortür auf, Virus raus und schon steht die Welt Kopf. Heute ist sogar Sarah Wagenknecht, eine der wohl bekanntesten Vertreterinnen der Links-Partei, eine rechte Hetzerin – die Frau, die mein altlinker Vater immer für ihren glühenden Wirtschaftssozialismus anhimmelte. Die beiden ereilte dank Corona das gleiche Schicksal: Die alten Sozikumpels bezeichnen sie plötzlich als Schwurbler und Querdenker. Die Diskussion um die staatlich verordnete Spritze hat selbst die härteste linke Front gespalten.

Das das so schnell gehen würde, Frau Wagenknecht mal als Rechte gelten und mir durch ihren Starrsinn sogar richtig sympathisch erscheinen könnte, hätte ich bis vor Corona nicht für möglich gehalten. Genauso wenig hätte ich geglaubt, dass es der FDP möglich seien könnte, ihren „Ruf“, eine liberale freiheitliche Partei zu sein, noch mehr zu ruinieren. Für mich hat die FDP ihre Unwählbarkeit schon lange durch ihre Transgender-Politik in Bezug auf psychisch schwer angeschlagene Kinder bewiesen – von der „No Border, No Nation“- und „Legalize it“-Fraktion mal ganz abgesehen. Jetzt hat die FDP aber noch mal einen drauf gesetzt und durch ihre Corona-Politik wirklich jedem noch so oberflächlich politisch Interessiertem gezeigt, wofür sie wirklich steht: Ein fehlendes Rückgrat, keine Prinzipien und Mitläufertum. Selbst einzelne Persönlichkeiten, wie Herr Kubicki, für die ich noch etwas Hoffnung hatte, haben in der Abstimmung zur Impfpflicht ihr wahres Gesicht gezeigt.

Die Nazi-Antifa – der ÖRR-Schreck

Wohl am meisten überrascht war ich aber erst kürzlich und zwar über mich selbst. Ich habe mir im Internet einige Videos zu den Montagsspaziergängern in Berlin angeschaut und mich plötzlich wie ein gehässiger Schneekönig gefreut, als ich einen Antifanten mit Musikbox, Antirassismus-Banner und großer Antifa-Flagge unter den ganzen „Querdenkern“ entdeckte. Nie, wirklich nie, hätte ich es für möglich gehalten mich mal über die Antifa zu freuen – einen Verein, den ich normalerweise voller Leidenschaft verachte. Für alles, wofür sie stehen und was sie tun. Aber da mittendrin zwischen all den angeblichen Nazis? Genial. Das wird jedem Journalisten seine Arbeit erschweren, der über den rechten Marsch berichten will. Und davon abgesehen: Die Antifa muss einen Gegenprotest gegen die Antifa organisieren – reinste Satire.

Wenn uns das Corona-Virus nach all dem nun so langsam wirklich „verlassen“ sollte und die Maßnahmen nicht mehr über unser aller Leben bestimmen, werde ich es vielleicht sogar ein gaaanz kleines bisschen vermissen – für all die Spannung und Aufregung, nie zu wissen, was als nächstes kommt. Doch bis die Pandemie dann schließlich für vorbei erklärt wird, lauern bestimmt noch einige Überraschungen auf uns. Alles ist möglich: Wer weiß, vielleicht sehen wir Herrn Lauterbach eines Tages sogar neben Söder auf dem Rednerpult einer Corona-Demo.


Bürgergeld & Harz IV– oder: Wo das Geld auf Bäumen wächst

Von Pauline Schwarz | Seit meiner Jugend war ich immer stolz darauf, in einem Land zu leben, in dem die Bürger über die Jahrzehnte so viel Wohlstand und Wirtschaftskraft aufgebaut haben, dass man heute niemanden mehr auf der Straße verenden, verhungern oder erfrieren lassen muss. Im Gegenteil: Diejenigen, die sich selbst nicht helfen können, die keine finanziellen Möglichkeiten und auch keine Angehörigen haben, werden bei uns bestens versorgt und gepflegt. Unser Sozialhilfesystem soll den Leistungsberechtigten die Führung eines Lebens ermöglichen, „das der Würde des Menschen entspricht“ – und das ist in einem modernen und (zumindest noch) wohlhabenden Land wie Deutschland auch gut so.

Das Problem ist nur, dass die Begriffe „Leistungsberechtigter“ und „minimale finanzielle Existenzsicherung“ von unserer Regierung in den letzten Jahren zielstrebig immer weiter ausgedehnt und ad absurdum geführt wurden. Statt ihre Bürger (und Neubürger) dazu anzuhalten, sich aufzuraffen, ihren Hintern hochzukriegen und etwas zu leisten, schafft der Staat immer mehr Erleichterungen und Möglichkeiten, sich als Faulenzer oder angehender Sozialschmarotzer völlig anstrengungsfrei rundumversorgen zu lassen – auf Kosten der arbeitenden Bevölkerung. Die neue Ampelregierung hat diesen Kurs pflichtbewusst aufgenommen und in ihrem Koalitionsvertrag gleich einen Vorschlag unterbreitet, wie man unseren Sozialstaat noch ein bisschen weiter aufblähen könnte: Mit dem Bürgergeld.

Laut Koalitionsvertrag soll das Bürgergeld künftig das sogenannte Harz IV, also die Grundsicherungsleistungen für Arbeitssuchende (nach SGB II), ersetzen. Dadurch soll „die Würde des Einzelnen geachtet und [die] gesellschaftliche Teilhabe besser gefördert“ werden – das heißt: neues Label, gleicher Inhalt. Aber mit ein paar dicken Haken. Schon das „alte“ Harz IV-System bot wenig Anreize, dafür viel Geld für wenig Zutun und massive Fehler- und Manipulationsanfälligkeit – das konnte ich in den acht Jahren, die ich in einem Berliner Betreuungsbüro arbeite, weit mehr als einmal miterleben. Ich habe in meinem Leben schon tausende Anträge auf Arbeitslosengeld II gestellt und, so gut es ging, dafür gesorgt, dass unsere Schäfchen ihr Geld erhalten. Auch wenn sie es nicht immer verdient hatten.

Wieso arbeiten? Sie kriegen das Geld doch sowieso

Um Arbeitslosengeld zu erhalten, muss ein Mensch erwerbsfähig sein, also mindestens drei Stunden am Tag arbeiten können, und gleichzeitig hilfebedürftig sein – das heißt, dass er seinen Lebensunterhalt nicht selbst mit seinem Einkommen oder Vermögen sichern kann. Die meisten unserer Klienten sind entweder körperlich oder psychisch krank und langzeitarbeitslos. Nur die wenigsten von ihnen nehmen Vermittlungsangebote oder Weiterbildungsangebote der Arbeitsagentur wahr – obwohl sie es zum Teil durchaus könnten. Und das, obwohl die Angebote zum Teil sehr lukrativ sind. Einer unserer Ex-Knackis bekam von der Arbeitsagentur das Angebot, eine Ausbildung zum Kraftfahrer zu machen. Führerschein und sonstige Hilfsmittel natürlich inklusive. Ein verführerisches Lockmittel – immerhin hätte man ihm um die 2.000 Euro und einen Arbeitsplatz geschenkt, ohne dass er dafür einen Finger krumm machen muss (mit dem Bürgergeld wäre sogar noch ein Bonus für die Teilhabe drin gewesen). Aber er hatte schlicht keine Lust. Warum sollte er sich auch anstrengen? Er kriegte sein Geld ja sowieso.

Und das ist das Problem. Eigentlich müsste man jemandem, der kann, aber einfach nicht will, die Leistung kürzen – immerhin soll das Harz-IV-System die Leute ja dazu anhalten, wieder in die Arbeitswelt einzutreten. Eigentlich nur logisch und meines Wissens wurde das früher auch so gemacht, aber bevor jemand meckert: Ich weiß, das kommt gar nicht in Frage, das wäre ja unmenschlich! Also lief und läuft alles so weiter. Unser Klient konnte auf der faulen Haut liegen und Steuergeld kassieren, während ich mich zusammenriss, nicht vor Zorn in die Tastatur zu beißen. Diesem jungen, sehr wohl (und weit mehr als drei Stunden täglich) arbeitsfähigen Mann wurde das Geld nur so hinterhergeworfen, während sich mein Kollege am Schreibtisch gegenüber den Arsch abrackerte, um sich seinen Führerschein zu finanzieren.

Mein allerliebstes Beispiel für die gespielte Unfähigkeit, sich selbst zu versorgen, ist und bleibt aber der Mann einer unserer Betreuten, die ebenfalls im Arbeitslosegeldbezug war und mit ihrem schauspielerisch talentierten Gatten eine sogenannte Bedarfsgemeinschaft bildete. Wie sie, wollte auch er nicht arbeiten. Fragte man ihn, war er ein ganz besonders armer Tropf. Immerhin saß er im Rollstuhl, hatte starke Schmerzen und das alles auch noch in der integrations- und behindertenfeindlichen Stadt Berlin. Ständig beschwerte er sich und forderte Geld für Sonderleistungen und Beförderungsmöglichkeiten – Geld, das er bekam, aber nicht verdient hatte. Das klingt jetzt vielleicht herzlos, hat aber einen Grund. Meine Chefin traf ihn mehrmals zufällig auf der Straße, ohne dass er sie bemerkte. Er war gerade beschäftigt, musste arbeiten. Genauer gesagt: Drogen dealen. Und – es war ein Wunder geschehen. Der Mann konnte plötzlich wieder laufen, brauchte den Rolli überhaupt nicht mehr, war vital und bewegungsfroh. Nur offiziell leugnete er das natürlich. Vor den „wichtigen“ Leuten saß er wieder wie ein Häufchen Elend in seinem Rollstuhl und jammerte über die Grausamkeiten der Welt und seine ach so schlimmen Schmerzen.

Im Gegensatz zu den vielen größtenteils gesunden, wenn auch psychisch nicht ganz sauberen, Harz-IV-Empfängern, arbeiten unsere körperlich oder geistig teils schwer behinderten Klienten zu großer Zahl sehr gerne und viel.

Für jeden wirklich behinderten Menschen muss so etwas ein Schlag ins Gesicht sein. Es muss schlimm sein, wenn man darum kämpft, mit seinen eigenen Einschränkungen zurecht zu kommen und ein möglichst normales Leben zu führen, während andere das Leid ausnutzen, um sich Staatsknete zu erschleichen. Meiner Erfahrung nach, wollen sich die meisten Behinderten eben nicht in ihrem Leid suhlen. Im Gegensatz zu den vielen größtenteils gesunden, wenn auch psychisch nicht ganz sauberen, Harz-IV-Empfängern, arbeiten unsere körperlich oder geistig teils schwer behinderten Klienten zu großer Zahl sehr gerne und viel. Sie arbeiten meist in Behindertenwerkstätten – backen, töpfern, tischlern oder machen Sonstiges – und verdienen im Schnitt 200 bis 500 Euro im Monat. Ich weiß von einigen unserer Klienten, dass es ihnen ein gutes Gefühl gibt zu arbeiten und sie auf ihre, wenn auch noch so unspektakuläre oder einfache, Tätigkeit stolz sind. Die Arbeit gibt ihnen außerdem einen festen Tagesrhytmus und hilft nicht wenigen, so besser mit ihrem Alltag und ihren Problemen zurechtzukommen. Und manch einer findet bei seiner Arbeit sogar neue Freunde, was für einen schwer geistig behinderten Menschen sicher auch nicht immer einfach ist.

Wenn Arbeitsverweigerern das Arbeitsverweigern erleichtert wird

Aber zurück zu den Arbeitsunwilligen: Mit dem Bürgergeld sollen die Antragsformalitäten und Leistungsvoraussetzungen nun noch weiter vereinfacht, „digitalisiert und pragmatisch“ werden. Bisher wurde vor der Leistungsgewährung das Vermögen des Antragsstellers geprüft und auf die Leistung angerechnet (das heißt, vom Anspruch abgezogen). Die Schonvermögensgrenze – also Vermögen, das anrechnungsfrei bleibt – liegt aktuell bei 5.000 €. Mit dem Bürgergeld soll das Schonvermögen noch weiter erhöht und das Vermögen in den ersten zwei Jahren völlig außer Acht gelassen werden. Das heißt im Prinzip, dass egal wie viele tausend Euro man auf dem Konto hat, zwei Jahre Vollversorgung durch den Steuerzahler garantiert sind. Konkret bedeutet das: 449 Euro Regelbedarf pro Person plus Kosten für Unterkunft und Heizung, Krankenkasse und etwaige Mehrbedarfe. Teilhabeleistungen für Schule, Arbeit und Kultur kann man als Einmalzahlungen obendrauf beantragen. Ich habe sogar schon mal von einem Fall gehört, in dem das Jobcenter den Transport eines Klaviers von einem ins andere Bundesland finanziert hat. Ob das wirklich zum Leben notwendig war?

Insgesamt haben die meisten Harz-IV-Empfänger wahrscheinlich ein ähnliches, wenn nicht sogar höheres Einkommen als Studenten. Der deutsche Durchschnitts-Student verdient etwa 900 Euro im Monat und da sind Miete und Krankenkasse noch nicht drin. GEZ übrigens auch nicht – ein Sozialhilfeempfänger kann sich von der Rundfunkgebührenpflicht befreien lassen, wir können das nicht. Trotzdem klagt niemand über die menschenunwürdigen Umstände, unter denen Studenten leben müssen. Aber Harz-IV? Geht gar nicht. Und am allerschlimmsten sind die Sanktionen, deswegen werden sie mit dem Bürgergeld gleich abgeschafft. Bisher gab es nämlich zumindest eine Mitwirkungspflicht im Leistungsbezug – was nicht mehr bedeutet, als dass man etwa einen Kontoauszug oder eine Vermögenserklärung einreichen muss, wenn das Jobcenter danach verlangt. Wer nach zweimaliger Erinnerung immer noch keine Dokumente eingereicht hat, dem wurde im schlimmsten Fall die Leistungen gekürzt – aber auch das nur selten und maximal um 30 Prozent, alles andere gilt seit 2019 als verfassungswidrig.

Geht das so weiter, könnte uns der ganze Apparat irgendwann noch um die Ohren fliegen.  

Alles in allem scheint das Bürgergeld also nichts Weiteres als ein kleines Wohlfühlprojekt unserer neuen Regierung zu sein. Es ändert zwar insgesamt nicht viel, bietet aber noch mehr Menschen als ohnehin schon den Weg in unser Sozialhilfesystem und schafft zusätzlich die letzten Anspruchsvoraussetzungen an den Antragsteller ab. Die Zahl der Sozialleistungsempfänger in Deutschland ist schon jetzt immens und steigt immer weiter an. Die Nachrichten über Leute, die gleich in zwei, drei oder vier Bundesländern unter unterschiedlichen Namen Harz-IV kassieren, werden auch nicht weniger, sondern eher mehr. Und das alles, während unsere Wirtschaftskraft und unser Wohlstand zielsicher zusammenschrumpfen. Geht das so weiter, könnte uns der ganze Apparat irgendwann noch um die Ohren fliegen.  


»Politik ist die Kunst, von den Reichen das Geld und von den Armen die Stimmen zu erhalten, beides unter dem Vorwand, die einen vor den anderen schützen zu wollen.«
– unbekannt



Long Covid 2038: Was übrig bleiben wird

Von Pauline Schwarz | Als Anfang 2020 das Corona-Virus nach Deutschland kam und der erste Lockdown verhängt wurde, warnten bereits zahlreiche Experten – Ärzte und Psychologen – vor den weitreichenden psychischen Folgen, die die soziale Isolation, Schulschließungen und der Verlust einer normalen Tagesstruktur für Kinder und Jugendliche mit sich bringen könnten. In den nächsten Jahren häuften sich die Berichte über steigende Zahlen depressiver, verhaltens- und/ oder sozialgestörter Erkrankungen. Ich war damals selbst erst Mitte zwanzig und hatte mit dem Ende meines normalen Lebens, des Unialltags, dem Wegfall jeglicher Ausgehmöglichkeiten und der medialen Diffamierung als ungeimpfter Unmensch zwischenzeitlich sehr zu kämpfen. Aber ich hatte meine Kindheit, Pubertät und die ersten Jahre als junge Erwachsene – also die wichtigsten Entwicklungsjahre – Gott sei Dank ohne Corona, ohne Maske, ohne die ständige Testerei und die Einschränkungen erleben dürfen. Trotzdem war das nicht immer ein Zuckerschlecken, weshalb ich mich wirklich fragte, was aus den Kleinen werden würde – denen, die Gesichter nur mit Masken kannten, denen Abstand und Hygieneregeln eingehämmert wurden, als sie gerade mal fähig waren, alleine drei Schritte vorwärts zu machen oder frisch in die Schule kamen. Wie schwer würden die Folgen für sie sein? Was würde der Verlust von Mimik, Gestik, Körperlichkeit und Beisammensein mitten in der kindlichen Entwicklung auslösen? Heute weiß ich es. Achtzehn Jahre nach Ausbruch der „Pandemie“ behandle ich in meiner kleinen Praxis die Volkskrankheiten der Zukunft.

Wie etwa die meiner 25-jährigen Patientin Anna. Sie ging noch in die Grundschule, als der Ausnahmezustand zum Normalfall wurde. Damals jagte ein Lockdown den nächsten, die Schulen wurden auf und wieder zugemacht, wie es gerade passte. Anna war viel zuhause und sah ihrer völlig überforderten Mutter zu, wie sie sich im Homeoffice um den Verstand arbeitete. Vom Vater lebte sie getrennt, der Kontakt beschränkte sich auf Weihnachts- und Geburtstagsfeiern. So ging es mehrere Jahre, Anna war inzwischen auf der Oberschule. Ihre Mutter war so fertig mit den Nerven, dass sie nicht bemerkte oder nicht bemerken wollte, dass die Klamotten ihrer Tochter immer weiter und die gemeinsamen Essen immer kürzer wurden. Wenn die Mutter fragte, sagte Anna, dass sie bereits gegessen hat – aber sie log. Sie hungerte. Anna erzählte mir später, dass jedes verlorene Kilogramm ihr das Gefühl gab, wenigstens die Kontrolle über ihren eigenen Körper zu haben. Ein verzweifeltes Mittel gegen das starke Gefühl von Ohnmacht, dass sich in einer Zeit, in der Inzidenzwerte und Virusvarianten das Leben von jetzt auf gleich auf den Kopf stellen konnten, bei vielen Menschen breit machte. Anna war damit völlig überfordert. Sie war verunsichert, wollte Sicherheit, Zuneigung und Anerkennung, die sie von ihrer Mutter nicht bekam – also suchte sie sie im Internet und zog sich immer mehr zurück. Ihre Mutter redete sich ein, dass ihre Tochter schlicht pubertär sei und ließ Anna in Ruhe. Sie kämpfte mit ihren eigenen Problemen und Ängsten und blieb für den eigentlich so offensichtlichen Hilfeschrei ihrer Tochter völlig blind. Wer weiß, vielleicht hätte ihr einer von Annas Lehrern die Augen öffnen können, dank der ständigen Schulschließungen bekamen die von ihren Schülern aber nicht mehr viel mit.

Während der vielen Zeit zuhause verbrachte das junge Mädchen den ganzen Tag an ihrem Handy und surfte durch die selbstdarstellerische Welt von Instagram und Snapchat. Sie sah dort viele Bilder von wunderschönen Frauen mit trainierten Körpern, langen Haaren und großem Busen, die vor Palmen posierten und Fitnesstips oder Diätversprechen abgaben. Anna hielt die Bilder mit ihren 13 Jahren für echt, dachte nicht daran, dass Filter und Bildbearbeitung jedes Gramm Körperfett und jeden Pickel verschwinden lassen konnten. Sie wollte so sein wie die Models und Influencer im Internet – ihr fehlte das Korrektiv ihrer Mutter, in der Schule und der Freizeit: andere Frauen und junge Mädchen, an denen sie sehen könnte, dass Menschen nicht perfekt sind, jeder anders ist und Attraktivität mehr als die Zahl auf einer Waage ausmacht. Alleine begriff sie das nicht. Ihr wurde in den sozialen Medien anderes suggeriert. Sie wurde auch nicht aufgeklärt, welche gravierenden Folgen Mangelernährung und Untergewicht haben können, stattdessen erhielt das junge Mädchen im Internet massenweise Komplimente für Fotos, die kaum mehr als Haut und Knochen von ihr zeigten. Anna sollte bald merken, wohin sie ihr krankhaftes Körperbild, die Hoffnungslosigkeit und der Kontrollversuch getrieben hatten. In einer Zeit, in der sie nicht mehr als einen Apfel oder ein paar Körner Reis am Tag aß, kollabierte das Mädchen. Im Krankenhaus stellte man ihr die Diagnose Magersucht. Anna wurde künstlich ernährt und wieder aufgepäppelt. Aber sie kam von ihrer Krankheit nicht mehr los. 

Die heute 25-Jährige Frau hat nach jahrelangen Kämpfen noch immer den Körper eines Kindes. Seit sie 14 ist, hat sie ihre Periode nicht mehr bekommen. Ihre Libido ist nahezu erloschen. Ihr Haar durch die Mangelernährung licht geworden. Anna ist dank der Behandlung zwar auf dem Weg der Besserung, isst ausreichend und nahm deutlich an Gewicht zu, doch völlig normal wird ihr Leben wohl nie wieder. Sie leidet unter schweren Langzeitfolgen, nicht von Corona, sondern von dem, was Corona mit ihrer Psyche gemacht hat. Durch die jahrelange Unterernährung sind ihre Knochen schwach geworden. Der ernährungsbedingte Calcium- und Östrogenmangel haben zu einem Knochenschwund geführt. Seither leidet Anna unter Rückenschmerzen und fürchtet sich schon bei leichten Stürzen vor Knochenbrüchen. Ihr Herz ist schwach, schlägt langsamer. Sie ist anfälliger für Infektionskrankheiten. Und sie braucht Kontrolle – nur muss Anna heute darauf achten, dass sie genug isst und sich eher mehr als zu wenig gönnt. Ihr Appetitgefühl ist nie wieder normal geworden. Doch zumindest hat Anna überlebt. Viele andere Mädchen hungerten sich bis in den Tod. 

So wie Anna ist auch Tim dem Tod nur knapp von der Schippe gesprungen. Der junge Mann leidet seit seiner Pubertät an Depressionen, die dank fehlender Behandlungsmöglichkeiten irgendwann chronifizierten. Schon 2021 waren die Kinder- und Jugendpsychiatrien so überlaufen, dass Matratzen auf den Boden gelegt werden mussten und die Ärzte irgendwann gezwungen waren zu entscheiden, welche der vielen kleinen Therapieanwärter einen Behandlungsplatz kriegen konnten und wer wieder nachhause geschickt werden musste – eine Triage, die anfangs dementiert, in den nächsten Jahren aber immer alltäglicher werden sollte. Tim ging es damals sehr schlecht. Er hielt es zuhause kaum aus, kam während Wechselunterricht und Homeschooling nicht mehr im Schulstoff mit und fühlte sich zunehmend hilflos und verzweifelt. Er lag den ganzen Tag lethargisch im Bett und schwankte zwischen tiefer Trauer und absoluter Emotionslosigkeit – trotzdem bekam er keinen Platz in der Kinder- und Jugendpsychiatrie. Er galt nicht als suizidgefährdet und landete deshalb auf Wartelisten, die nach Monaten bis Jahren einen Platz versprachen. Die lange Suche und ständige Enttäuschung waren laut Tim nicht mehr als die pure Bestätigung seines Gefühls von Hoffnungslosigkeit. Also zog er sich noch weiter zurück. Eltern und Freunde kamen an den jungen Mann nicht mehr heran, der sich heimlich mit Zigarettenstummeln verbrannte, um überhaupt noch irgendetwas zu fühlen. Kurze Zeit später begann er zu überlegen, wie er seinem Elend endlich ein Ende setzen könnte. Etwa ein Jahr hielt er sich davon ab, bis er alleine an einen See fuhr und versuchte sich mit einem Rasiermesser die Pulsadern aufzuschneiden. Glücklicherweise schnitt er nicht tief genug und überlebte. Sein Leben war danach von kurzzeitigen Krankenhausaufenthalten, angefangenen und wiederabgebrochenen Therapien geprägt. Umso länger die Depressionen anhielten, desto behandlungsresistenter wurden sie. Tim ist anderen Menschen gegenüber noch immer sehr misstrauisch und verfällt schon bei kleinsten Rückschlägen in alte Verhaltensmuster. 

Ritualisierte Handlungen, wie sie auch bei Depressiven auftreten können, verstärkten sich unter Corona bei einigen Menschen so massiv, dass sich echte Zwangsstörungen entwickelten. Durch die ständigen Predigten von Abstands- und Hygieneregeln wurden leichte Neurotiker insbesondere in Wasch- und Kontaminationsängsten bestätigt und so bis in die Zwangsstörung getrieben. Mein Patient Konrad mochte es schon als Kind nicht im Dreck zu spielen oder fremden Menschen die Hand zu geben. Er war ängstlich und zurückhaltend, überwand sich aber doch immer wieder, um nicht alleine in der Bude zu sitzen, während die anderen draußen tobten. Und dann kam Corona. Tödliche Viren waren plötzlich in aller Munde und überall in den Nachrichten. Schnell wurde aus seiner leichten Angst und Abneigung eine richtige Phobie. Sobald er eine Türklinke berührte, fühlte es sich für ihn an, als sei er verseucht. Er musste sich sofort die Hände waschen – immer wieder, minutenlang und desinfizierte sich zusätzlich nach jeder Interaktion. Konrad hatte Angst, krank zu werden, aber noch mehr Angst davor, jemand anderen krank zu machen. Er war eines der Kinder, denen man gedroht hatte, dass sie ihre Oma oder den Opa umbringen, wenn sie sich nicht impfen lassen, Maske tragen und Abstand halten – und das hat er bis heute nicht verkraftet. Es vergeht keine Stunde, ohne dass der junge Mann mindestens dreimal seine Umgebung desinfiziert und seine Hände wäscht – frei nach dem Motto „je öfter desto besser“, wobei ganz penibel eine feste Abfolge eingehalten werden muss. Stört jemand sein Ritual oder fehlt eines seiner Reinigungsmittel bekommt Konrad Panikattacken – sein Herz rast, er hyperventiliert und hat Angst zu sterben. Nach mehreren Wochen Therapie gab er zu, dass er irgendwo tief in sich wusste, dass sein Waschzwang gegenüber seinen Ängsten kontraproduktiv ist – dass er sich und seiner Gesundheit schadet. Spätestens als er Hautekzeme und offene Wunden bekam, weil das ständige Waschen sein natürlichen Bakterienhaushalt zerstört hatte. Aber das machte es leider nicht besser, sondern nur noch schlimmer. So paradox, wie es klingen mag: die Erkenntnis verstärkte den Zwang, weil sie Konrad massiv unter Stress setzte und die Zwangshandlungen eine besänftigende Wirkung auf den jungen Mann hatten. Er war in einem Teufelskreis gefangen, der zunehmend sein ganzes Leben in Beschlag nahm und ihn immer handlungsunfähiger machte. Er konnte kaum noch arbeiten, lebt nun zurückgezogen und scheut den Kontakt mit anderen Menschen. Er kann den Gedanken noch immer kaum ertragen, Keime zu übertragen und jemanden anderen, mit was auch immer, anzustecken.

Julia lebt genauso zurückgezogen wie Konrad. Genau wie er hat sie Angst – verfällt bei Kontakt mit anderen in Panik. Nur hat sie kein Angst vor Bakterien, sondern vor Menschen. Sie fürchtet von ihnen als peinlich, merkwürdig oder lächerlich verurteilt zu werden – für Dinge, die nicht mehr, als rein menschlich sind: Erröten, Schwitzen, Stottern, Husten, Niesen oder Zittern. Sie ist vom ständigen Druck und der Angst geplagt, perfekt sein zu müssen, aber nicht abliefern zu können. Im direkten Kontakt ist ihr das alles wahnsinnig peinlich, ihre Angst steigt und führt zu körperlichen Reaktionen wie Übelkeit, Durchfall und starken Muskelverkrampfungen. Kann sie sich der Situation nicht entziehen, steigert sie sich bis in eine Panikattacke. Julia berichtete später, dass ihre Ängste in der Schule angefangen haben. Sie wurde von einigen Kindern gehänselt und ausgelacht, weil sie im Gegensatz zu den anderen noch nicht geimpft war. Die Lehrer sagten ihr, dass sie die anderen gefährdet und setzen sie alleine an das Ende des Klassenzimmers. Julia hatte ständig das Gefühl, etwas falsch zu machen, war zutiefst verunsichert und allein. Freunde wandten sich von ihr ab, sagten ihr, dass sie sich schämen sollte. Die Selbstzweifel, die sich in dieser Zeit in ihr breit machten, ist sie nie wieder losgeworden. Im Gegenteil: in ihrem weiteren Leben und Heranwachsen unter Isolation, Homeschooling und Homeoffice haben sie sich so fest verankert und in irrationale Ängste gesteigert, dass Julia eine soziale Phobie entwickelte. Bis heute trägt sie eine Maske, auch wenn sie das gar nicht mehr müsste. Sie will ihr Gesicht verstecken und traut sich kaum, mit Fremden zusprechen. Darunter leiden ihre Karrierechancen und ihre Beziehungen – dabei wünscht sich Julia nichts mehr als eine Familie.

Julia, Konrad, Tim und Anna stehen symbolisch für eine ganze Generation, der das junge Leben mitten in ihrer Entwicklung plötzlich genommen wurde. Sie mussten zum Schutz der Älteren auf viele einst alltägliche und für die psychische Entwicklung unabdingbare Erfahrungen verzichten. Dadurch haben sie massive soziale Inkompetenzen, Ängste, gestörte Selbstbilder und sogar kognitive Defizite entwickelt. Unzählige junge Menschen haben diese Zeit nicht unbeschadet überstanden. Heute, im Jahr 2038, sind die Folgen der jahrelangen Pandemie-Politik nicht mehr zu leugnen. Ich kann mich vor Anfragen der sogenannten „Corona-Kinder“ kaum noch retten – genau wie jeder andere Therapeut und jede noch so kleine Hilfseinrichtung. Ess- und Zwangsstörungen sind genauso alltäglich wie schwere chronifizierte Depressionen und soziale Phobien. Analphabetismus und Lernschwächen sind ebenfalls weit verbreitet. Diese Krankheiten gab es zwar schon früher – vor Corona -, doch heute betreffen sie so viele junge Menschen wie nie zuvor. So viele, dass unser Gesundheitssystem das erste mal wirklich an seine Grenzen kam. So viele, dass unsere Wirtschaft merklich darunter leidet. Nachrichten über Suizide sind heute beinah so alltäglich wie Meldungen über Verkehrsunfälle. 

Alles wegen eines Grippe-artigen Virus. Erst nach zehn Jahren Pandemie-Politik hat man erkannt, dass man Corona-Viren unmöglich ausrotten kann. Man nahm alle Maßnahmen zurück, doch der Schaden war bereits angerichtet. Hätte man doch nur 2022 schon hingesehen, auf die Warnsignale und Hilfeschreie der Kinder geachtet, Studien und Krankenhausberichten mehr Beachtung geschenkt. Hätte man damals einen Schlussstrich gezogen, würden viele Corona-Kinder heute wohl ein wesentlich normaleres und glücklicheres Leben führen.

Alle handelnden Personen sind frei erfunden. Ihre Geschichten und Leiden sind realen und leider schon heute ziemlich weit verbreiteten Krankheitsbildern nachempfunden. 

Sollten Sie das Gefühl haben, dass Sie Hilfe benötigen, kontaktieren Sie unbedingt die Telefonseelsorge. Unter der kostenfreien Rufnummer 0800-1110111 oder 0800-1110222 bekommen Sie Hilfe von Beratern, die Ihnen Hilfe bei den nächsten Schritten anbieten können. Hilfsangebote gibt es außerdem bei der Stiftung Deutsche Depressionshilfe und der Deutschen Gesellschaft für Suizidprävention. Im Netz gibt es – Beispielsweise bei der Stiftung Deutsche Depressionshilfe – auch ein Forum, in dem sich Betroffene austauschen können.


Weihnachten in Kreuzberg – oder: heute ist nur noch das Koks weiß

Von Pauline Schwarz | Wenn das Corona-Virus gerade nicht dafür sorgen würde, dass wir uns gegenseitig die Köpfe einschlagen, Tobsuchtsanfälle bekommen und uns über unseren Impfstatus zerstreiten, wäre jetzt vor allem eines: die Vorweihnachtszeit. Dann würde es darum gehen, wo dieses Jahr die Familienfeier stattfindet, wer die schönste Weihnachtsgans macht und wo man noch schnell ein 08/15 Geschenk für die Tante dritten Grades bekommt, die man eigentlich sowieso nie leiden konnte. Die Gedanken wären ganz bei Glühwein, Leberpasteten, Schlittenbahnen, Weihnachtsbäumen und vielleicht noch bei Winterreifen und Frostschutzmittel – nicht bei Inzidenzzahlen, Zwangsimpfung und Testknappheit. Gerade Kinder sollten jetzt doch vor allem an den Weihnachtsmann und ihr nächstes Schnee-Abenteuer denken können. Für mich gab es früher jedenfalls nichts Tolleres als Rodeln, Schneemännerbauen, Weihnachtsengelformen und das ungeduldige Warten auf die heiß ersehnten Geschenke. Selbst in Berlins berühmt berüchtigten Bezirk Kreuzberg gab es mal eine Zeit, in der man die frostige Winterzeit und Weihnachten nahezu genießen konnte. Damals war allerdings alles noch ein bisschen anders als heute.

Als Kind habe ich den Winter geliebt. Sobald der erste Schnee fiel, sauste ich raus in den Hof und lief so lange barfuß durch die weißen Flocken, bis mich meine Mutter wieder einfangen konnte und in einen kleinen Schneeanzug oder zumindest eine Schneehose stopfte. Ich war im Gegensatz zu heute nicht besonders kälteempfindlich und mochte die dicken unbeweglichen Hosen nicht – ließ mich nach anfänglichem Meckern aber trotzdem gerne in ein kleines Michelin-Männchen verwandeln. Weil ich genau wusste, was als nächstes kam: Ab in den Keller und hoch mit dem geliebten alten Holz-Schlitten! Ich weiß noch, wie meine Schwester und ich mit Liebe die Kufen geschliffen und eingefettet haben, damit wir ja die schnellsten auf der Rodelbahn sind – naja, und um unser tägliches Vorankommen zu sichern. Sobald genug Schnee lag, bewegte ich mich freiwillig nämlich keine fünf Meter mehr zu Fuß. Meine arme Mutter musste uns überall auf dem Schlitten hinziehen. Zum Auto, zum Einkaufen, zur Schule und zur nächsten Rodelstrecke. Und da gab es für mich als Kind eigentlich nur eine einzig wahre in Berlin: Die große Kuhle im Görlitzer Park. Die meisten werden es mir wohl kaum glauben, aber damals gab es noch keinen einzigen afrikanischen Drogendealer weit und breit.

Zu dieser Zeit war es im Görli sogar richtig schön: der weiße Schnee bedeckte Hundehäufchen und Abfall, als hätten sie nie existiert. Alles wirkte sauber, sicher und friedlich – zumindest, wenn nicht gerade die traditionelle Schneeballschlacht zwischen Kreuzberg und Neukölln durch den Park tobte. Da ging´´‘s immer heiß her – für einen kleinen Möpp wie mich, war das noch nichts. Ich jagte in meinem Schlitten lieber den ganzen Tag schreiend und quietschend den kleinen Abhang hinunter, nur um Sekunden später mit pochendem Herz und keuchendem Atem wieder heraufzukrabbeln. Kurz vor Weihnachten war der Görlitzer Park ein echtes Winter-Wunder-Land für uns Mini-Kreuzberger – eine Erinnerung, die mir heute richtig surreal erscheint. Da, wo früher Kinder durch den Schnee tobten und Schneemänner bauten, denen sie Karotten als Nasen und kleine Steine für Mund und Augen ansteckten, stehen heute überall Drogendealer – die keine Hemmung haben, selbst Zehnjährigen Kokain anzubieten. Auf den Spielplätzen liegt Spritzenbesteck und Alufolie. Familien sieht man nur noch sehr vereinzelt. Dasselbe Bild zeigt sich auch um den Park, etwa am Spreewaldplatz.

Seit ich denken kann werden vor der Schwimmhalle jedes Jahr Nordmann-Tannen verkauft – dieses Jahr, habe ich zum ersten Mal gesehen, dass der Baumverkäufer Werbung machen musste. Das hat er früher nie nötig gehabt. Wir haben unseren Weihnachtsbaum, wie jeder andere, immer am Spreewaldplatz gekauft. Jeden Tag herrschte Trubel – heute sieht man kaum jemanden die Bäume begutachten, an den Zweigen rütteln oder um den Preis feilschen. Aber das ist auch kein Wunder, wenn zehn Meter weiter die ersten Drogendealer auf Kundenfang gehen und vorbeieilende Familien anzischen. Jeder, der noch etwas bei Verstand ist, meidet die Ecke großflächig – vor allem wenn man kleine Kinder hat. Für mich war es mit den Nordmann-Tannen aber schon vorbei, bevor die ersten ominösen Gestalten den Platz belagerten. Die Tannen wurden irgendwann einfach zu teuer, der Verkäufer war so verwöhnt mit Kunden, dass er wahre Wucherpreise verlangte. Davon kann er heute wahrscheinlich nur träumen. Die Kreuzberger machen es den Dealern sei Dank wohl so, wie wir damals: Ab ins Auto, auf zum Baumverkauf am Ostbahnhof.

Mit unserem kleinen, roten Auto zu fahren, war im Winter immer ein Abenteuer. Man wusste nie genau, ob „Rudi Rotnase“ genug Kraft aufbringen konnte, um seinen Motor auch bei Minusgraden in Fahrt zu bringen. Und selbst wenn er ansprang, musste man erstmal irgendwie aus der verschneiten Parklücke rauskommen. Das konnte ein echtes Problem werden, wenn die Räumfahrzeuge mal wieder regelrechte Mauern vor den Autos aufgebäumt hatten. Dann mussten schonmal ein paar kräftige Männer von der Straße zum Schieben rekrutiert werden – und im schlimmsten Fall half selbst das nichts. Ich bin mehr als einmal zu spät zur Schule gekommen, weil wir uns allen Mühen zum Trotz nicht vom Fleck bewegen konnten. Kam der alte Rudi tatsächlich in Bewegung, war der Spaß aber noch nicht vorbei. Einmal war es so kalt, dass die Türen über Nacht eingefroren waren und, nachdem wir sie mit Gewalt auf und wieder zu gemacht hatten, bei voller Fahrt mitten auf der Straße plötzlich aufsprangen. Ich kann mich noch genau erinnern, wie ich panisch versucht habe, die Tür neben mir wieder einzufangen, während meine Mutter am Steuer wahrscheinlich fast einen Herzinfarkt erlitt. In den Tagen danach mussten wir die Hintertüren immer mit einem Fahrrad-Spanngummi sichern, das von einer zur anderen Seite reichte – Impro auf Kreuzberger Art. Ich saß in der Mitte und hielt die selbstgebastelte Konstruktion fest. Das war vielleicht ein „ganz kleines bisschen“ gefährlich, aber ich fand’s mit meinen neun Jahren ziemlich lustig.

Am aller spannendsten war aber natürlich der Weihnachtsabend – da kam keine Schneeballschlacht, keine noch so wilde Schlittenfahrt und auch kein Abenteuer mit Rudi ran. Bevor wir am Abend unsere Geschenke bekamen, wurden meine ungeduldigen, kindlichen Nerven immer auf die Probe gestellt. Nachdem wir diverse Spiele und das Weihnachtsessen hinter uns hatten, war es immer noch nicht so weit. Meine Schwester und ich mussten immer erst etwas Kleines leisten, bevor wir etwas bekamen – meine Schwester sang meistens ein paar Lieder vor, während ich „Ihr Kinderlein kommet“ auf der Blockflöte performte. Und dann war es endlich dunkel. Wir mussten auf unser Zimmer und solange warten, bis wir die Weihnachtsglocke hörten, die „der Weihnachtsmann“ immer läutete, bevor er mit seinem Schlitten weiter zu den nächsten Kindern zog – eine nette Geschichte, aber ich wusste natürlich, dass in echt meine Mutter klingelte. Doch völlig Wurscht. Ich flitzte ins Wohnzimmer und bestaunte meine Geschenke unter unserem hübsch geschmückten Baum. Ich wütete immer wie ein kleiner Berserker, während meine Schwester mit Engelsgeduld ganz vorsichtig jedes Geschenk öffnete – und mich damit zur Weißglut trieb.

Weihnachten war bei uns immer mit einigen Streitigkeiten und Stress verbunden, insgesamt freute ich mich aber und genoss die ganze Vorweihnachtszeit – zu Hause, im Schnee und in der Schule. Auch meine Grundschule war nämlich trotz Multi-Kulti-Indoktrination zu dieser Zeit in voller Weihnachtsstimmung. Das ging aber wahrscheinlich nur, weil fast alle meine türkischen Klassenkameraden auch Weihnachten feierten – nicht, weil sie so super toll integriert waren oder sich an die christlichen Werte anpassen wollten, sondern weil sie die Festlichkeit einfach schön fanden und die Kinder unbedingt auch Geschenke haben wollte. Das waren noch Zeiten – Weihnachtsstimmung, keine Dealer, kein Corona. Heute bin ich froh, wenn ich über Weihnachten aus Kreuzberg, und auch generell aus dem ganzen Wahnsinn in Deutschland, wegkomme. Ich liege lieber tausende Kilometer entfernt am Strand und lass mir die Sonne auf den Pelz scheinen – ein kleines Geschenk und gutes Essen gibt’s am Weihnachtsabend trotzdem.


Weihnachten in Kreuzberg – oder: heute ist nur noch das Koks weiß

Von Pauline Schwarz | Wenn das Corona-Virus gerade nicht dafür sorgen würde, dass wir uns gegenseitig die Köpfe einschlagen, Tobsuchtsanfälle bekommen und uns über unseren Impfstatus zerstreiten, wäre jetzt vor allem eines: die Vorweihnachtszeit. Dann würde es darum gehen, wo dieses Jahr die Familienfeier stattfindet, wer die schönste Weihnachtsgans macht und wo man noch schnell ein 08/15 Geschenk für die Tante dritten Grades bekommt, die man eigentlich sowieso nie leiden konnte. Die Gedanken wären ganz bei Glühwein, Leberpasteten, Schlittenbahnen, Weihnachtsbäumen und vielleicht noch bei Winterreifen und Frostschutzmittel – nicht bei Inzidenzzahlen, Zwangsimpfung und Testknappheit. Gerade Kinder sollten jetzt doch vor allem an den Weihnachtsmann und ihr nächstes Schnee-Abenteuer denken können. Für mich gab es früher jedenfalls nichts Tolleres als Rodeln, Schneemännerbauen, Weihnachtsengelformen und das ungeduldige Warten auf die heiß ersehnten Geschenke. Selbst in Berlins berühmt berüchtigten Bezirk Kreuzberg gab es mal eine Zeit, in der man die frostige Winterzeit und Weihnachten nahezu genießen konnte. Damals war allerdings alles noch ein bisschen anders als heute.

Als Kind habe ich den Winter geliebt. Sobald der erste Schnee fiel, sauste ich raus in den Hof und lief so lange barfuß durch die weißen Flocken, bis mich meine Mutter wieder einfangen konnte und in einen kleinen Schneeanzug oder zumindest eine Schneehose stopfte. Ich war im Gegensatz zu heute nicht besonders kälteempfindlich und mochte die dicken unbeweglichen Hosen nicht – ließ mich nach anfänglichem Meckern aber trotzdem gerne in ein kleines Michelin-Männchen verwandeln. Weil ich genau wusste, was als nächstes kam: Ab in den Keller und hoch mit dem geliebten alten Holz-Schlitten! Ich weiß noch, wie meine Schwester und ich mit Liebe die Kufen geschliffen und eingefettet haben, damit wir ja die schnellsten auf der Rodelbahn sind – naja, und um unser tägliches Vorankommen zu sichern. Sobald genug Schnee lag, bewegte ich mich freiwillig nämlich keine fünf Meter mehr zu Fuß. Meine arme Mutter musste uns überall auf dem Schlitten hinziehen. Zum Auto, zum Einkaufen, zur Schule und zur nächsten Rodelstrecke. Und da gab es für mich als Kind eigentlich nur eine einzig wahre in Berlin: Die große Kuhle im Görlitzer Park. Die meisten werden es mir wohl kaum glauben, aber damals gab es noch keinen einzigen afrikanischen Drogendealer weit und breit.

Zu dieser Zeit war es im Görli sogar richtig schön: der weiße Schnee bedeckte Hundehäufchen und Abfall, als hätten sie nie existiert. Alles wirkte sauber, sicher und friedlich – zumindest, wenn nicht gerade die traditionelle Schneeballschlacht zwischen Kreuzberg und Neukölln durch den Park tobte. Da ging´´‘s immer heiß her – für einen kleinen Möpp wie mich, war das noch nichts. Ich jagte in meinem Schlitten lieber den ganzen Tag schreiend und quietschend den kleinen Abhang hinunter, nur um Sekunden später mit pochendem Herz und keuchendem Atem wieder heraufzukrabbeln. Kurz vor Weihnachten war der Görlitzer Park ein echtes Winter-Wunder-Land für uns Mini-Kreuzberger – eine Erinnerung, die mir heute richtig surreal erscheint. Da, wo früher Kinder durch den Schnee tobten und Schneemänner bauten, denen sie Karotten als Nasen und kleine Steine für Mund und Augen ansteckten, stehen heute überall Drogendealer – die keine Hemmung haben, selbst Zehnjährigen Kokain anzubieten. Auf den Spielplätzen liegt Spritzenbesteck und Alufolie. Familien sieht man nur noch sehr vereinzelt. Dasselbe Bild zeigt sich auch um den Park, etwa am Spreewaldplatz.

Seit ich denken kann werden vor der Schwimmhalle jedes Jahr Nordmann-Tannen verkauft – dieses Jahr, habe ich zum ersten Mal gesehen, dass der Baumverkäufer Werbung machen musste. Das hat er früher nie nötig gehabt. Wir haben unseren Weihnachtsbaum, wie jeder andere, immer am Spreewaldplatz gekauft. Jeden Tag herrschte Trubel – heute sieht man kaum jemanden die Bäume begutachten, an den Zweigen rütteln oder um den Preis feilschen. Aber das ist auch kein Wunder, wenn zehn Meter weiter die ersten Drogendealer auf Kundenfang gehen und vorbeieilende Familien anzischen. Jeder, der noch etwas bei Verstand ist, meidet die Ecke großflächig – vor allem wenn man kleine Kinder hat. Für mich war es mit den Nordmann-Tannen aber schon vorbei, bevor die ersten ominösen Gestalten den Platz belagerten. Die Tannen wurden irgendwann einfach zu teuer, der Verkäufer war so verwöhnt mit Kunden, dass er wahre Wucherpreise verlangte. Davon kann er heute wahrscheinlich nur träumen. Die Kreuzberger machen es den Dealern sei Dank wohl so, wie wir damals: Ab ins Auto, auf zum Baumverkauf am Ostbahnhof.

Mit unserem kleinen, roten Auto zu fahren, war im Winter immer ein Abenteuer. Man wusste nie genau, ob „Rudi Rotnase“ genug Kraft aufbringen konnte, um seinen Motor auch bei Minusgraden in Fahrt zu bringen. Und selbst wenn er ansprang, musste man erstmal irgendwie aus der verschneiten Parklücke rauskommen. Das konnte ein echtes Problem werden, wenn die Räumfahrzeuge mal wieder regelrechte Mauern vor den Autos aufgebäumt hatten. Dann mussten schonmal ein paar kräftige Männer von der Straße zum Schieben rekrutiert werden – und im schlimmsten Fall half selbst das nichts. Ich bin mehr als einmal zu spät zur Schule gekommen, weil wir uns allen Mühen zum Trotz nicht vom Fleck bewegen konnten. Kam der alte Rudi tatsächlich in Bewegung, war der Spaß aber noch nicht vorbei. Einmal war es so kalt, dass die Türen über Nacht eingefroren waren und, nachdem wir sie mit Gewalt auf und wieder zu gemacht hatten, bei voller Fahrt mitten auf der Straße plötzlich aufsprangen. Ich kann mich noch genau erinnern, wie ich panisch versucht habe, die Tür neben mir wieder einzufangen, während meine Mutter am Steuer wahrscheinlich fast einen Herzinfarkt erlitt. In den Tagen danach mussten wir die Hintertüren immer mit einem Fahrrad-Spanngummi sichern, das von einer zur anderen Seite reichte – Impro auf Kreuzberger Art. Ich saß in der Mitte und hielt die selbstgebastelte Konstruktion fest. Das war vielleicht ein „ganz kleines bisschen“ gefährlich, aber ich fand’s mit meinen neun Jahren ziemlich lustig.

Am aller spannendsten war aber natürlich der Weihnachtsabend – da kam keine Schneeballschlacht, keine noch so wilde Schlittenfahrt und auch kein Abenteuer mit Rudi ran. Bevor wir am Abend unsere Geschenke bekamen, wurden meine ungeduldigen, kindlichen Nerven immer auf die Probe gestellt. Nachdem wir diverse Spiele und das Weihnachtsessen hinter uns hatten, war es immer noch nicht so weit. Meine Schwester und ich mussten immer erst etwas Kleines leisten, bevor wir etwas bekamen – meine Schwester sang meistens ein paar Lieder vor, während ich „Ihr Kinderlein kommet“ auf der Blockflöte performte. Und dann war es endlich dunkel. Wir mussten auf unser Zimmer und solange warten, bis wir die Weihnachtsglocke hörten, die „der Weihnachtsmann“ immer läutete, bevor er mit seinem Schlitten weiter zu den nächsten Kindern zog – eine nette Geschichte, aber ich wusste natürlich, dass in echt meine Mutter klingelte. Doch völlig Wurscht. Ich flitzte ins Wohnzimmer und bestaunte meine Geschenke unter unserem hübsch geschmückten Baum. Ich wütete immer wie ein kleiner Berserker, während meine Schwester mit Engelsgeduld ganz vorsichtig jedes Geschenk öffnete – und mich damit zur Weißglut trieb.

Weihnachten war bei uns immer mit einigen Streitigkeiten und Stress verbunden, insgesamt freute ich mich aber und genoss die ganze Vorweihnachtszeit – zu Hause, im Schnee und in der Schule. Auch meine Grundschule war nämlich trotz Multi-Kulti-Indoktrination zu dieser Zeit in voller Weihnachtsstimmung. Das ging aber wahrscheinlich nur, weil fast alle meine türkischen Klassenkameraden auch Weihnachten feierten – nicht, weil sie so super toll integriert waren oder sich an die christlichen Werte anpassen wollten, sondern weil sie die Festlichkeit einfach schön fanden und die Kinder unbedingt auch Geschenke haben wollte. Das waren noch Zeiten – Weihnachtsstimmung, keine Dealer, kein Corona. Heute bin ich froh, wenn ich über Weihnachten aus Kreuzberg, und auch generell aus dem ganzen Wahnsinn in Deutschland, wegkomme. Ich liege lieber tausende Kilometer entfernt am Strand und lass mir die Sonne auf den Pelz scheinen – ein kleines Geschenk und gutes Essen gibt’s am Weihnachtsabend trotzdem.


5 Jahre Terroranschlag am Breitscheidplatz

Von Pauline Schwarz | Vor genau fünf Jahren wurde der schlimmste Albtraum aller Berliner wahr: ein Terroranschlag mitten im Herzen der Stadt. An diesem verhängnisvollen Abend des 19. Dezember 2016 überschlugen sich die Nachrichten. „Terroranschlag am Breitscheidplatz. Lkw rast auf Weihnachtsmarkt. Tote, Verletzte. Attentäter auf der Flucht“. In den Stunden nach dem Anschlag hielt die ganze Stadt den Atem an. Die Behörden wiesen die Berliner an, ihre Wohnungen nicht zu verlassen. Es brach blanke Panik aus – jeder fürchtete seine Liebsten könnten unter den Opfern sein. Beim bis heute schlimmsten islamistischen Anschlag in der deutschen Geschichte starben zwölf Menschen durch die Hand eines Mannes, der längst abgeschoben seien sollte. Etwa siebzig weitere wurden zum Teil schwer verletzt. Der 19. Dezember ist ein Tag, der sich in die Herzen gebrannt hat. Ein Tag, der Angst und Ohnmacht hinterließ. Mit der Vorweihnachtsstimmung war es schlagartig vorbei.

Am Nachmittag des 19. Dezember 2016, einem Montag, parkte der polnische Lkw-Fahrer Lukasz Urban seinen Sattelschlepper in Berlin Moabit. Der 37-jährige Mann kam gerade aus Italien, hatte Stahlkonstruktionen geladen und war wahrscheinlich müde von der langen Fahrt. GPS-Daten zeigten später, dass Lukasz Sattelschlepper um 15:45 Uhr startete. Der polnische Speditionsbesitzer Ariel Zurawski, der seinen Cousin Lukasz als einen der letzten guten Fahrer bezeichnete, sagte: „Es sah aus, als wenn jemand geübt hätte, den Wagen zu fahren“. Doch zu diesem Zeitpunkt war Lukasz vielleicht schon tot. Er wurde das erste Opfer von Anis Amri, der den unschuldigen Polen mit einem Kopfschuss hingerichtet hatte, um mit seinem Sattelschlepper elf weitere Menschen in den Tod zu reißen. Lukasz genaue Todesumstände bleiben bis heute unklar. Ariel Zurawski ist sich aber sicher, dass sein Cousin bis zuletzt gekämpft und sich gewehrt hat – auf den Fotos, die man ihm zur Identifikation gegeben hat, soll Lukasz deutlich sichtbar Schlag- und Schnittwunden gehabt haben. Der „höfliche Familienmensch“ Lukasz U., den man nach dem Anschlag leblos auf dem Beifahrersitz seines Trucks gefunden hatte, wurde später in Banie bei Stettin beigesetz. Er hinterließ seine trauernde Witwe und einen 17-jährigen Sohn.

All das erfuhr man aber erst Tage nach dem Attentat. Nachdem sich der Sattelschlepper um 19:36 Uhr in Bewegung gesetzt hatte und um etwa 20 Uhr mitten in den Weihnachtsmarkt am Breitscheidplatz vor der Gedächtniskirche raste, dachte man erst, dass es sich um einen tragischen Unfall handeln könnte. Kurze danach wurde klar, dass es ein Terroranschlag war. Um kurz vor 21:00 Uhr wurde ein erster Verdächtiger festgenommen, der von einem Zeugen vom Breitscheidplatz verfolgt worden war – aber man hatte den falschen Mann und wusste weder, ob es einen islamistischen Hintergrund, noch ob es eine Tätergruppe oder Fädenzieher im Hintergrund gab. Am Dienstagabend verkündete die Terrormiliz Islamischer Staat (IS) dann über ihr Internetportal „Amak“, dass ein IS-Kämpfer für den Anschlag verantwortlich gewesen sei.

Am Mittwoch, den 21. Dezember, wurde der 24-jährige Tunesier Anis Amri öffentlich zur Fahndung ausgeschrieben – und er war kein Unbekannter. Die Behörden ermittelten gegen ihn bereits wegen der Vorbereitung „einer schweren staatsgefährdenden Straftat“, er war als „Gefährder“ bekannt. Amri wurde im Juni 2016 als Asylbewerber abgelehnt, konnte aber nicht abgeschoben werden, weil er keine gültigen Ausweispapiere hatte. Amri war im Jahre 2011 außerdem schon in Italien wegen verschiedener Vergehen, unter anderem Brandstiftung, verhaftet und zu vier Jahren Gefängnis verurteilt worden. 2015 scheiterte eine Abschiebung an den tunesischen Behörden. Trotz allem rückte er erst ins Täterprofil, als man bei der Untersuchung der Fahrerkabine des Lkws ein schwarzes Lederportemonnaie entdeckte, in dem sich die Duldung eines „Ahmed Almasri“ befand. Schnell wurde klar, dass der Mann in Wirklichkeit Amri hieß und unter verschiedenen Namen in verschiedenen Bundesländern registriert war. Darüber, warum man die Geldbörse erst einen Tag nach dem Anschlag auffand und dann noch einen knappen weiteren brauchte, um die bundes- und europaweite Fahndung auszusprechen, wird bis heute spekuliert.

Am 23. Dezember, vier Tage nach dem Anschlag, wurde Anis Amri dann schließlich bei einer Routine-Straßenkontrolle in Mailand erschossen. Die zwei jungen Polizisten Cristian M. (36 Jahre) und Luca S. (29 Jahre), sahen als sie um kurz nach drei Uhr morgens am geschlossenen Bahnhof von Sesto San Giovanni vorbeifuhren einen jungen Mann vorbeilaufen. Sie hatten keinen Anhaltspunkt, dass der Berlin-Attentäter sich in Italien aufhielt, der Mann schien ihnen einfach verdächtig. Auf die Bitte seinen Rucksack zu öffnen, soll Amri dann „ohne zu zögern“ eine Pistole gezogen und das Feuer eröffnet haben. Cristian wurde beim Schusswechsel verletzt, Amri starb. Der Spuk war vorbei. Ich kann mich noch erinnern, wie erleichtert ich über diese Nachricht war – ich hatte die letzten Tage in der Angst verbracht, dass es noch weitere Anschläge geben würde. So wie ein Jahr zuvor in Paris. In den Stunden nach dem Anschlag war diese Sorge für diejenigen, die ihre Liebsten unter den Opfern wähnten, aber wahrscheinlich beinah nebensächlich. Jeder rief seine Mutter, seinen Vater, die Schwester und die Tante an, sodass irgendwann das Telefonnetz überlastete. Viele Leute griffen auch und vielleicht deshalb zu Facebook. Mit dem „Safety Check“ konnte man seinen Freunden und Familienangehörigen mitteilen, dass man in Sicherheit war. „Ich bin sicher“, war an diesem Abend wohl die verbreitetste Nachricht in ganz Berlin.

Wenn ich an den Anschlag zurückdenke, kommt sofort ein unangenehmes, unsicheres Gefühl in mir hoch. Ich kann mich zwar kaum noch erinnern, wo genau ich an diesem verhängnisvollen Abend war, doch das Gefühl ist noch immer präsent. Um ehrlich zu sein fürchte ich, dass ich den Abend aktiv aus meinem Gedächtnis verbannt habe. An die Anschlagsserie in Paris im November 2015 kann ich mich noch ganz genau erinnern. Ich war gerade auf einer Party. Im Hintergrund lief der Fernseher, während wir scherzten und tranken – dann kamen die Eilmeldungen. Wir hörten auf zu reden und setzten uns apathisch vor den Fernseher. Die schrecklichen Bilder aus dem Bataclan hielten uns in ihrem Bann. Ich hatte noch nie so Angst vor einem Anschlag, wie in diesem Moment – bei 9/11 war ich noch zu klein, erst sechs Jahre alt. Als der Terror dann vor unserer Tür stand, am Breitscheidplatz, 30 Minuten von mir Zuhause entfernt, wurde die Angst Realität. Ich hatte blanke Panik, das weiß ich noch. Viel mehr will mein Kopf nicht mehr wissen.

Dafür erinnere ich mich aber ganz genau an den Tag nach dem Anschlag auf den Weihnachtsmarkt. Ich ging ins Büro und traf als erstes unseren Paketboten, einen älteren Herren. Er war ganz aufgeregt, bekam von meinem Kollegen einen Kaffee und eine Zigarette und erzählte dann, dass er mit seiner Frau gestern eigentlich auf den Weihnachtsmarkt am Breitscheidplatz gehen wollte. Zum Glück hielt ihn irgendetwas davon ab. Und genau so ging das gleich mehreren Leuten, die ich kannte. Der Weihnachtsmarkt war unter Berlinern und Touristen sehr beliebt. Meine Mutter und meine Schwester wollten noch am Sonntag vor dem Anschlag ebenfalls auf den Markt. Außerdem ist das Areal eine beliebte Einkaufsgegend mit vielen Bürogebäuden. Eine Freundin erzählte mir später, dass sie während des Anschlags gerade wenige hundert Meter entfernt im „KaDeWe“ einkaufen war. Sie rief völlig ahnungslos ihren Freund an, der gegenüber des Weihnachtsmarktes arbeitete. Er sagte ihr nur: „Hier stimmt was nicht, fahr nachhause. Warte nicht auf mich“. Kurz danach rannte er mit den strömenden Menschenmassen in das Bikini Berlin, dachte es hätte einen schlimmen Unfall gegeben und merkte intuitiv doch, dass etwas nicht stimmt. Zum Glück ist ihm, meiner Freundin und auch sonst niemandem, den ich persönlich kenne, etwas passiert.

Vielen ging das leider anders. Ich war im selben Alter wie Valeriya Bagratuni als sie ihre beiden Eltern bei dem Anschlag verlor. Sie war zu diesem Zeitpunkt gerade mal 22 Jahre alt und plötzlich allein – eine so schreckliche Situation, dass ich sie mir nicht mal vorstellen möchte. Valeriya stand vor dem nichts und war mittellos, denn sie kam laut ihrem Schwiegervater nicht an die gesperrten Bankkonten ihrer Eltern. Beim Publik-Forum berichtete er unter anderem, dass Valeriya erst vier Tage nach dem Anschlag offiziell vom Tod ihrer Eltern in Kenntnis gesetzt wurde – als die Charité schon eine Rechnung für den Totenschein losgeschickt hatte. Ihre Studienkosten wurden von privaten Spendern weiter getragen – sie studierte Zahnmedizin, genau wie meine Schwester. Aber was kam von der Regierung? Zunächst wohl gar nichts, später eine „lächerlich geringe Rente“ und wenig bis keine Empathie für das junge Mädchen, das wahrscheinlich völlig am Boden zerstört war. Eine äußerst bittere Erfahrung, die anscheinend viele Opfer und Angehörige machen mussten.

Der Psychologe Rainer Rothe betreut mehr als zehn Opfer des Anschlags und schreibt von „fatalen und menschenverachtenden Umgangsformen der Behörden“. Den Opfern gehe es dabei nicht mal um Entschädigungszahlungen oder Renten, sondern um psychologische Hilfe wie etwa Traumatherapien – Hilfe sei aber „erst nach Monaten oder gar Jahren geleistet worden“. Laut Tagesspiegel berichten Betroffene sogar von Suizidversuchen in Folge der Traumatisierung. Viele Angehörige und Opfer sind wohl auch Jahre nach dem Anschlag noch wütend auf die Regierung. 2017 richteten sie einen offenen Brief an Angela Merkel, in dem sie der politischen Untätigkeit der Bundesregierung eine Mitschuld an dem Anschlag gaben. Merkel persönlich habe sich ihrer Meinung nach nicht ihrem Amt gerecht verhalten – fast ein Jahr nach dem Anschlag habe sie weder persönlich noch schriftlich kondoliert. Bei den Opfern aus Italien und Polen waren die jeweiligen Staatsoberhäupter sogar persönlich zu den Beerdigungen erschienen.

Ich kann die Wut und Verzweiflung der Opfer und Angehörigen gut verstehen, auch wenn ich mir wohl nie wirklich vorstellen kann, welchen Schmerz sie erleiden mussten und immer noch müssen. Schon mir tut es jedes einzelne Mal, wenn ich am Breitscheidplatz vorbeikomme, sprichwörtlich in der Seele weh. Dort wo im Dezember 2016 zwölf Menschen ihr Leben lassen mussten, stehen seit einigen Jahren Poller zur Terrorismusabwehr – angesichts der jahrelangen Untätigkeit unserer Regierung und der weiterhin unbegrenzten Einwanderungspolitik fühlt sich ihr Anblick jedes Mal wie ein Schlag ins Gesicht an. Wenn wirklich jemand einen neuen Anschlag verüben möchte, werden ihn diese Dinger garantiert nicht aufhalten. Und was ist das auch für ein Zeichen? Wir kapitulieren vor dem Terrorismus und basteln uns in der ganze Stadt Barrikaden? Wenn unsere Regierung wirklich etwas gegen den Terrorismus tun wollte, würde sie auf einen guten Geheimdienst, eine gute Polizei, härtere Maßnahmen, internationale Zusammenarbeit bei der Terrorismusabwehr und auf eine begrenzte Einwanderungspolitik sowie konsequente Abschiebungen setzen – dann bräuchten wir keine Poller. Und keine Angst in U- und S-Bahnen oder an belebten Plätzen, wie ich sie sehr lange nach dem Anschlag hatte.

Hätte unsere Regierung konsequent und verlässlich gehandelt, könnten dreizehn unschuldige Menschen noch am Leben sein. Dreizehn, denn am 05. Oktober 2021 starb der 49-jährige Ersthelfer Sascha Hüsges an den Folgen seiner schweren Verletzungen, die er erlitt, als er anderen zu Hilfe eilte. Er wurde von einem herabstürzendem Balken am Kopf getroffen und musste seither gepflegt werden. Die Gruppe aus Hinterbliebenen und Opfern wünscht sich, dass sein Name zum fünften Jahrestag des Anschlags auf den Stufen der Gedenkstelle an der Gedächtniskirche aufgeführt wird – direkt neben dem mahnenden 15 Meter langen goldenen Riss und den Namen der anderen Opfer:

Denen des 37-jährigen Lkw-Fahrers Lukasz Urban, der seiner Frau endlich ein Weihnachtsgeschenk kaufen wollte. Dem des 32-jährigen Industriemechanikers Sebastian Berlin, der eine Prüfung feiern wollte. Dem Namen der 34-jährigen Nada Cizmar, die ihren 5-jährigen Sohn zurückließ, der noch zwei Jahre später für sie bastelte. Dem der 66-jährigen Israel-Touristin Dalia Elyakim, deren Ehemann schwer verletzt überlebte. Dem des 40-jährigen Juristen Christoph Herrlich, der gerade noch eine Freundin beiseitestoßen und so ihr Leben retten konnte. Dem Namen des 65-jährigen Klaus Jacob, der nur zum Weihnachtsmarkt gegangen war, weil er und seine Partnerin keine Karten fürs Theater bekamen. Dem der 65-jährigen Angelika Klösters aus Neuss-Lanzarath, die von ihrem Sohn eine Berlinreise geschenkt bekommen hatte. Dem der 53-jährigen Bankangestellten Dorit Krebs. Dem Namen der 31-jährigen italienischen Studentin Fabrizia Di Lorenzo. Dem des 73-jährigen Peter Völker, der mit seinem amerikanischen Partner an der Gedächtniskirche verabredet war und dem Namen des Ehepaars Anna und Georgiy Bagratuni, die den Abschluss ihrer Tochter nicht mehr erleben durften.

Noch heute leiden die Angehörigen darunter, dass niemand Verantwortung für den Tod dieser Menschen übernehmen will. Dabei hätte die Tat verhindert werden können.


Soziale Triage in der Jugendhilfe

Von Pauline Schwarz | Die Zahl der psychischen Störungen unter Kindern und Jugendlichen ist seit Beginn der Pandemie und der damit verbundenen Maßnahmen drastisch angestiegen. Die völlige Auflösung einer normalen Tagesstruktur, die soziale Isolation und die fehlenden Freizeitmöglichkeiten haben tiefe Wunden hinterlassen. Es gab einen enormen Anstieg von depressiven Erkrankungen, Ess- und Schlafstörungen, Entwicklungsverzögerungen, Suchtstörungen und sogar von Suiziden. Laut Caritas leidet inzwischen fast jedes dritte Kind unter den Folgen der Corona-Maßnahmen und zeigt psychische Auffälligkeiten. Besonders betroffen sind Kinder aus schwierigen sozialen Verhältnissen, die häufig in sehr engen Wohnverhältnissen leben, wenig Unterstützung von ihren Eltern bekommen und auch sonst Schwierigkeiten haben, Anschluss zu finden. Sie brauchen schon unter normalen Verhältnissen besonders viel Hilfe, um ihren Alltag zu meistern. Doch genau diese könnte jetzt erneut wegbrechen. Schon im Mai, als die Zahl der Infizierten wesentlich geringer war als heute, fand eine soziale Triage in Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe statt.

Kurz nach dem zweiten Lockdown, dank dem wir ganze sechs Monate auf große Teile unserer Grundrechte verzichten mussten, lagen die Nerven bei vielen blank. Der Ansturm auf Jugendeinrichtungen war dementsprechend groß und die Hilfe besonders nötig. Es gab nur ein Problem: die Hygiene-Maßnahmen. In Einrichtungen wie dem Kinder- und Jugendhaus „Bolle“ in Berlin-Marzahn können unter normalen Umständen täglich bis zu 120 Hilfebedürftige ihrem Familienalltag entfliehen, die Probleme etwas vergessen und mit den anderen Kindern toben, kickern oder bei der Hausaufgabenhilfe mitmachen. Im Mai waren es dann plötzlich nur noch 50 Kinder im Schichtsystem, aufgeteilt in Fünfergruppen. Vivien Rosen, vom zugehörigen Verein Straßenkinder e.V., sagte gegenüber dem Tagesspiegel, dass das schrecklich gewesen sei: „Wir mussten täglich neu entscheiden, welche Kinder und Jugendlichen den größten Betreuungsbedarf haben. Eine Art soziale Triage, denn Bedarf haben sie alle.“

 In der Marzahner Plattenbausiedlung rund um die Einrichtung leben 70 Prozent aller Haushalte von Hartz IV, etwa 40 Prozent haben einen Migrationshintergrund und genauso viele sind alleinerziehend. Laut Rosen sind in solchen Familien sehr viele Eltern „nicht in der Lage, ihren Kindern beim Homeschooling zu helfen, auch Freizeitaktivitäten finden zu Hause kaum statt. Zahlreiche Kinder hier würden einfach den ganzen Tag vor dem Fernseher oder Monitor hocken“. Über die Aussage der Sozialarbeiterin hinaus, droht aber leider noch viel Schlimmeres, das weiß ich aus meiner Arbeit für einen Berliner Erziehungsbeistand. Kinder, die Einrichtungen wie das Freizeithaus oder andere, etwa stationäre, Hilfsangebote annehmen, stammen häufig aus Familien, in denen massive Verwahrlosung und Gewalt drohen. Die Kinder sind den psychischen Krankheiten oder Drogenproblemen ihrer Eltern häufig völlig schutzlos ausgeliefert. Und das hat Folgen: Die Kleinen leiden unter Entwicklungsstörungen, sozialen Inkompetenzen, psychischen Krankheiten sowie fehlender Impulskontrolle, nehmen Drogen und geraten nicht selten auf die schiefe Bahn. Ich habe schon Zwölfjährige gesehen, die dickere Strafakten hatten als so mancher 40-jährige Berufsverbrecher und 17-Jährige, die lieber hinter Heizungsrohren schliefen, als wieder nach Hause zu gehen.

Dank der Corona-Maßnahmen brach für viele auch noch das letzte bisschen Halt weg, das sie durch Einrichtungen wie dem „Haus Bolle“ oder der „Arche“ hatten. Auch bei der „Arche“, einem Hilfsangebot des Christlichen Kinder- und Jugendwerks, schrumpfte die Betreuungsmöglichkeit per Dekret von 300 auf gerade mal 40 Kinder und Jugendliche pro Tag. Bernd Siggelkow, Gründer der Einrichtung, beklagte sich damals über die mangelnde politische Unterstützung seiner Schützlinge und anderer Kinder aus bildungsfernen Familien. Er prophezeite sogar „einen 25 prozentigen Anteil an funktionalen Analphabeten nach der Pandemie“ und warnte vor Verwahrlosung und der Zunahme an Verhaltensauffälligkeiten – wie etwa bei einer Achtjährigen, die nachts versuchte, ihre Mutter zu erwürgen oder neun- und zehnjährigen Jungen, die Zigarettenstummel von der Straße aufsammelten und rauchten.

Laut statistischem Bundesamt ist die Zahl der Kindeswohlgefährdungen 2020 im Vergleich zum Vorjahr um neun Prozent gestiegen – der höchste Stand seit Beginn der Erhebung im Jahr 2012. Dabei kamen 1,5 Prozent weniger Hinweise von den Schulen, was angesichts der Schulschließungen wenig überraschend ist. Es ist aber durchaus problematisch. Lehrer sind meiner Erfahrung nach mit am meisten an Jugendschutzmeldungen beteiligt, etwa weil sie merken, dass ein Kind im Winter nur mit T-Shirt in die Schule kommt, offene Wunden hat oder sich mit zehn bis zwölf Jahren immer wieder im Unterricht einnässt. Nachbarn oder Fremde müssen die Verwahrlosung oder Misshandlung erst einmal mitbekommen und dann noch den Mut oder überhaupt den Willen aufbringen, eine Meldung beim Jugendamt abzugeben. Ich fürchte also, dass die Zahl an Kindeswohlgefährdungen im letzten Jahr in Wirklichkeit noch deutlich höher gewesen seien könnte. Dank der Schulschließungen, dem folgenden Wechselunterricht und der sozialen Triage in Jugendhilfeinrichtungen, werden einige Kinder wohl keine Möglichkeit gehabt haben, sich einem Erwachsenen außerhalb ihres schädlichen Umfelds anzuvertrauen.

Und diese Sorge wurde durch eine kürzliche Pressemitteilung des statistischen Bundesamtes leider nur bekräftigt. 2020 gab es nämlich nicht nur mehr Gefährdungsmeldungen, sondern gleichzeitig auch fünf Prozent weniger erzieherische Hilfen – also ganze 53.600 Fälle weniger, in denen Kinder- und Jugendhilfemaßnahmen in Anspruch genommen wurden. Was erstmal gut klingt, ist fatal. Es bedeutet nämlich nicht, dass es weniger Bedarf gab, sondern nur, dass weniger Hilfe angeboten wurde – so wie in den Tagesstätten „Bolle“ und „die Arche“. Es haben also wahrscheinlich über 53.000 Kinder, Jugendliche und Eltern auf Beratung und Betreuung verzichten müssen, weil die Hygienemaßnahmen nur Hilfen für einen kleinen Teil der Schlimmsten aller Schlimmen zugelassen haben oder weil die Angebote dank Lockdown gleich völlig eingestellt wurden.

Umso länger die Corona-Pandemie unser aller Leben bestimmt, desto schlechter wird es Kinder und Jugendlichen gehen – allen, aber denen aus sozial schwachen Familien, die unsere Politik angeblich ach so unbedingt schützen will, besonders. Der Hilfebedarf steigt ins unermessliche, während ungeimpfte Kinder durch 2G-Reglungen vom sozialen Leben und Unterstützungsmaßnahmen ausgeschlossen werden, der nächste Lockdown droht und auch danach wohl wieder soziale Triage in allen möglichen Einrichtungen vorherrschen wird. Das alles wird fatale Folgen auf die Gesundheit, Entwicklung, Bildung und den Werdegang der Kleinsten und gleichzeitig größten Opfer der Corona-Politik haben.

 


Pauline Schwarz, geboren 1995, ist Senior und Psychotante von Apollo News. Sie studiert Psychologie, um irgendwann nicht mehr nur unter Verrückten zu leben, sondern auch Geld mit ihnen zu verdienen. Schreibt gerne über Autos, Kriminalität und psychische Leiden von Kindern und Jugendlichen, die auch dank unserer (selbst nicht ganz dichten) Regierung zu echten Volkskrankheiten werden. Kennt sich aber auch mit den richtig Bekloppten aus: Bei ihrer Arbeit für ein Berliner Betreuungsbüro hat sie es mit waschechten Aluhüten zu tun – denen, die Stimmen hören und denken, die Aliens oder CIA wären hinter ihnen her. Und dann ist sie zu allem Übel auch noch unter Grünen, Hippies und Linksextremisten in Berlin-Kreuzberg aufgewachsen, über deren Wahnsinn sie sich besonders leidenschaftlich bei Apollo aufregt.


 


Böses Erwachen – Das Linke Weltbild scheitert an der Realität

Von Pauline Schwarz | Ich bin in Berlin-Kreuzberg, einem ehemaligen Arbeiterviertel mit Kosenamen Klein-Istanbul, geboren, aufgewachsen und habe bis ich 20 war an fast alles geglaubt, was man mir in der linken Hochburg beigebracht hatte. Für mich stand fest, dass man die bösen „Bonzen“ sofort mit Spitzensatz besteuern müsste, damit es endlich alle besser haben und die Ausbeutung der kleinen Leute aufhört. Genauso überzeugt war ich von unserem Multikulti-Konzept – und witterte Nazis an jeder Ecke, wo man auch nur eine abweichende Meinung erahnen konnte. Ich habe als ich 18 war mit Überzeugung die Grünen gewählt und meiner Mutter beinah die Kindschaft gekündigt, weil sie es wagte, ihr Kreuz bei der Nazi-Partei CDU zu setzen. Im Ernst – heute kann ich darüber nur Lachen.

Ich kann manchmal selbst kaum glauben, wie ideologisch verblendet und indoktriniert ich durch meine Erziehung, Schulbildung und Umgebung war. Hätte mir die Kreuzberger Lebensart nicht derart in den Knochen gesteckt, wäre mir wahrscheinlich schon früher aufgefallen, dass das linke „Gutmenschen“-Projekt zum Scheitern verurteilt ist. Jedem, der auch nur eine Sekunde die rosarote Sozi-Brille absetzt, knallt die Diskrepanz zwischen Traum und Wirklichkeit nämlich nur so ins Gesicht – und das grade im links-grünen Multikulti-Anarcho-Paradies Kreuzberg. Man muss nur bereit sein hinzusehen.

Multikulti-Schlacht auf dem Schulhof

Als Kind besuchte ich eine Grundschule, die sich der gelebten Vielfalt, Multikulturalität und Diversität verschrieben hatte. Auf Gut-Deutsch bedeutete das: in jeder Klasse war mindestens ein behindertes Kind, ein paar Verhaltensauffällige und etwa die Hälfte Ausländer. Statt dem friedlichen Miteinander und gelebter Toleranz, brachte uns das einige Probleme. Neben dem Fakt, dass die normalen Kinder durch die Anpassung an die Lernschwachen aktiv in ihrem Bildungsfortschritt gehindert wurden und ich durch den verpflichtenden Behinderten-Dienst eher eine Ab- als Zuneigung entwickelte, betraf das vor allem ethnische Konflikte. Und zwar nicht so sehr zwischen Ausländern und Deutschen, sondern unter den ausländischen Kindern selbst. Der größte Konflikt bestand zwischen Türken und Kurden.

Ich kam damit das erste Mal in Berührung, als sich zwei Jungs aus meiner Klasse, die eigentlich die besten Freunde waren, plötzlich an die Gurgel sprangen und drohten, sich gegenseitig umzubringen. Die beiden wurden auseinandergerissen, bekamen Strafarbeiten und das Leben ging weiter. Niemand erklärte uns was das Problem war, ich hörte nur, dass der eine Kurde und der andere Türke war – nicht, dass ich damit irgendetwas anfangen konnte. Der Vorfall wurde totgeschwiegen, lange ging das aber nicht gut. Ein paar Wochen später gab es irgendein Fußball-Turnier und schon brach die Hölle los. Alle Türken liefen laut grölend mit ihren Flaggen über den Hof und provozierten die Kurden derart, dass es zu wüsten Schulhof-Schlachten und der ein oder anderen blutigen Nase kam. Unsere Schulleitung verhängte daraufhin ein allgemeines Flaggenverbot und erklärte das nicht vorhandene Problem damit für erledigt.

Ich habe erst Jahre später verstanden, was hinter dem Türkisch-Kurdischen Konflikt steckt. Und hatte – à propos friedfertiges Multikulti ohne Probleme – noch eine weitere, viel bitterere Erkenntnis: Die türkischen Jungs haben, wenn sie wütend waren oder sich geärgert haben, oft „Fuck Yahudi“ geschrien. Der Ausdruck wurde in meiner Klasse und auf dem Grundschulhof so inflationär gebraucht, dass ihn irgendwann auch deutsche Kinder übernahmen. Natürlich ohne zu wissen, dass sie gerade „Fick die Juden“ gesagt hatten.

Feminismus, Kopftuch und Kinderehen

Ein weiterer, nicht existierender Konflikt war der zwischen deutschem Feminismus auf der einen und islamischen Werten auf der anderen Seite. Den allgemeinen Kreuzberger Kampf gegen das Patriarchat verstand ich mit zehn noch nicht, wusste aber, das alleinerziehende Mütter in meinem Bekanntenkreis das vorherrschende (deutsche) Familienbild stellten und es begrüßt wurde, wenn Mädchen Fußball spielen oder sich wie echte Damen mit den Jungs raufen – Fußball fand ich öde, also beteiligte ich mich in den Pausen leidenschaftlich an den heroischen Schlachten zwischen Mädchen und Jungs. Schlagen, Treten und Schubsen war okay, aber wehe, einer biss oder kratzte mit den Fingernägeln, das war mädchenhaft und verboten. Die türkischen Jungs waren immer dabei und hauten uns gerne eins auf den Latz, nur die Mädchen hielten sich fern. Sie wollten nicht dabei sein und ich verstand nicht so recht, warum.

An Fasching waren alle türkischen Mädchen Prinzessinnen, während wir deutschen als Ritter, Cowboy, Polizist oder Indianer gingen – das zweite Indiz für mich, dass es sehr wohl einen Unterschied zwischen uns gab. Ich wurde auch etwas stutzig, als ein Mädchen zu mir sagte: „Hä, deine Eltern sind nicht verheiratet? Dann wärst du doch gar nicht geboren!“. Besonders deutlich wurde das Ganze aber an dem einen türkischen Mädchen in meiner Klasse, das als einzige schon in der dritten oder vierten Klasse ein Kopftuch trug. Und das war nicht alles. Wir wussten, dass sie mit ihren zehn bis elf Jahren versprochen war. Sobald sie 16 oder 18 wurde, musste sie also irgendeinen Mann heiraten, den ihre Eltern für sie ausgesucht hatten. Sie wurde nicht gefragt, ob sie das möchte – Frauenrechte und Emanzipation Fehlanzeige. Etwas zu wollen, wurde ihr aberzogen. Nie, wirklich nie, zeigte sie etwas von sich, sagte nie, was sie selbst möchte oder dachte. Sie war ein sehr stilles Kind und kümmerte sich den ganzen Tag nur um das behinderte Kind in unsere Klasse, so als hätte sie selbst keine Bedürfnisse. Ich fand immer, dass sie alt wirkte, viel älter als wir anderen. Und spürte, dass da etwas nicht stimmte.

Schein und Sein

An solchen Extremen merkt man die Unterschiede zwischen Realität und Friede-Freude-Eierkuchen besonders stark. Nicht nur beim Thema Multikulti, sondern auch beim Anti-Kapitalistischem Weltbild in sich. Die größten Feinde „des Kapitals“, die ich persönlich kannte, waren die Anarchisten aus den Wagenburgen – also aus der Haus- oder Grundstückbesetzer-Szene. Ich hatte im Schülerladen, also auch zu Grundschulzeiten, eine Freundin, deren beide Eltern Punks waren. Der Vater wohnte in einem heruntergekommenen Bauwagen in einer der besetzten „Siedlungen“ in unserem Kiez, die Mutter hatte immerhin eine eigene Wohnung. In solchen Familien wurde stets Verzicht gepredigt – „Der Staat und Kapitalismus sind scheiße. Geld wird überbewertet. Man brauch nich so viel Kohle für ‘n geiles Leben. Hauptsache genug für’n Dach über’m Kopf, ’nen Hund und wat zu saufen“. Das erzählte man den Kindern und das glaubten sie bis zu einem gewissen Grad auch – zumindest oberflächlich. Meine damalige Freundin und ihr älterer Bruder wollten nämlich – wie alle anderen auch – immer die tollsten Sachen haben und cool aussehen. Und was tat man, wenn man keine Knete hatte (und in Kreuzberg aufgewachsen ist)? Klauen, was sonst – nichts da mit Verzicht. Der Bruder meiner Freundin schloss sich mit einem anderen Jungen zusammen und ging regelmäßig in die Kaufhäuser „shoppen“. Danach erzählten sie uns stolz von ihrer Beute und versuchte weitere Kinder zu mobilisieren, in die Gang einzutreten und mitzumachen – was auch gelang. Die meisten von uns kamen aus Familien mit wenig Geld, waren schlecht erzogen und leicht in Versuchung zu führen. Kinder wollen schöne Dinge und wollen dazu gehören. Sie interessiert keine Konsum- oder Kapitalismuskritik. Sie begreifen dank ihrer bekloppten Eltern nur nicht, dass man auch etwas dafür tun muss, wenn man etwas haben will.

Genau dasselbe zeigte sich später auch bei meinen älteren Freunden, ob unpolitisch oder Vollblut-Ideologen. Jeder wollte coole Klamotten und das neuste Handy – es sahen zwar alle aus wie Hänger und Schlümpfe, aber was meint ihr, was so ein Skater-Pulli kostet? Da ist man schnell im dreistelligen Bereich. Vom neusten iPhone ganz zu schweigen. Also bleibt die Wahl zwischen stehlen, verschulden oder dealen – arbeiten nur, wenn’s gar nicht anders geht. Ich kannte ein paar Genossen von der Antifa, die am Wochenende „Touris-Klatschen“ gegangen sind und sich so ihre coolen Pullover, Sneaker und Snapbacks finanzierten. Und dann stellten die sich ernsthaft hin und dachten sie wäre besser als irgendwelche rechten Hools die „Kanacken-Klatschen“ gehen. Parallelen sah man nicht. Aber das ist in echt auch kein Wunder, waren es doch dieselben Leute, die auf den Staat und unser „rechtes Scheiß-System“ schimpften, während sie sich von Hartz-IV finanzieren ließen.

Toleranz erzeugt Intoleranz

Das absolut offensichtlichste Beispiel für linke Träume, die wie Seifenblasen an der Realität zerplatzen, ist und bleibt aber der Görlitzer Park. Hier herrscht das allumfassende Gebot: Toleranz um jeden Preis. Und zwar für die mehrheitlich afrikanischen Drogendealer, die im und um den Park an jeder Ecke stehen und aggressiv um Kunden werben. Geht man nicht auf ihr Angebot ein, kann es schon mal ungemütlich werden – besonders, weil die „Jungs“ häufig selbst drogensüchtig, zum Teil psychisch krank und dementsprechend reizbar sind. Ich habe schon gesehen, wie ein von oben bis unten mit Kokain vollgepumpter Mann auf der Straße randalierte, Fahrräder und Mopeds umschmiss und dann mit Flaschen auf die Leute warf, die gewagt hatten, die demolierten Gefährte wieder aufzurichten. Es gibt immer wieder Schlägereien und Rangelein zwischen Dealern und ihren Kunden, am häufigsten kracht es aber unter den Dealern selbst. Die Verkaufsgebiete sind nämlich streng zwischen Afrikanern und Arabern aufgeteilt. Überschreitet einer die Grenzen, gibt es Stress. Dann fliegen Flaschen und Steine, dann werden Messer und Macheten gezückt. Eine Freundin von mir kam sogar schonmal in den Genuss, zufällig einer Schießerei beizuwohnen. Das für mich Schlimmste sind aber die sexuellen Übergriffe, die man grade als junge Frau jederzeit und überall erwarten muss. Ich bin mit 13 das erste Mal in dem Park, in dem ich als kleines Kind noch so gerne gespielt hatte, festgehalten und begrapscht worden. Seitdem ist mir das immer und immer wieder passiert.

Im Görli gab es über die Zeit mehrere Morde und immer wieder Fälle von Vergewaltigungen im und um den Park. Seit ein paar Jahren dringen die Dealer außerdem in die umliegenden Straßen und Häuser ein, sodass man ihnen überhaupt nicht mehr aus dem Weg gehen kann. Aus all diesen Gründen, wechsle ich automatisch die Straßenseite und schalte in den Abwehr- und Fluchtmodus, wenn ich auch nur von weitem einen Dealer sehe. Dabei bin ich aus Angst aber versehentlich auch schonmal einem meiner Nachbarn ausgewichen – ein beschissenes Gefühl. Aber genau das ist es, was diese Politik der allumfassenden Toleranz bewirkt: Man meidet aus lauter Angst junge, schwarze Männer, die vielleicht überhaupt nichts mit den Dealern oder der Kriminalität zu tun haben. Nur hat das nichts mit Rassismus zu tun, die „Vorurteile“ werden durch die Toleranz der Gewalt und die damit verbundene Angst künstlich erzeugt. Ohne die entsprechende Politik, gäbe es dieses Problem nicht.


Böses Erwachen

Beim Thema Görli passte ich zum ersten Mal nicht mehr mit meinen linken Freunden zusammen – musste mir anhören, dass ich übertreibe und stand plötzlich selbst unter Nazi-Verdacht. Später geriet ich dann auch zunehmend mit meinen vorwiegend muslimischen Kumpels aneinander. Mit einem zerstritt ich mich wegen eins Videos aus dem Dark-Net, das bei uns kursierte und zeigte, wie eine Frau irgendwo in Arabien auf einem Dönerspieß mit Messern malträtiert wurde. Während ich völlig entsetzt war und kaum über den Anblick und die Vorstellung hinwegkam, sagte er nur: „Die hat’s bestimmt nicht anders verdient“. In dem Moment zog sich alles in mir zusammen, ich bin völlig ausgerastet – er wiederum hatte null Verständnis. Danach haben wir miteinander gebrochen. Ich verlor aber nicht nur einen „Freund“, auch mein Weltbild bekam Risse. Etwa ein Jahr später lag es völlig in Scherben. Seitdem sehe ich an jeder Ecke und an all den Erinnerungen an meine rot-grüne bemalte Kindheit und Jugend, wie linke Politik an der Realität scheitert und welches Elend sie dabei erzeugt.