In Deutschland herrscht ein literarischer Kulturkampf!

Von Jonas Kürsch | Vor nicht allzu langer Zeit war Deutschland noch gemeinhin als „Land der Dichter und Denker“ bekannt. Nicht verwunderlich, wenn man bedenkt, dass kaum ein anderes Land die Weltliteratur mit geistreichen Persönlichkeiten wie Immanuel Kant, Johann Wolfgang von Goethe oder Friedrich Nietzsche so sehr geprägt hat wie unseres.
Heutzutage wirkt es so, als habe sich dieses Credo gewandelt. Das Gros der deutschen „Pop-Literaten“ setzt sich nicht mehr mit den entscheidenden politischen und philosophischen Sinnfragen unserer Zeit auseinander. Der radikale Abbau der Meinungsfreiheit, das schleichende Aussterben liberaler Grundwerte innerhalb Europas oder die voranschreitende Unzufriedenheit der Bürger in einem überpolitisierten Staatsgefüge: wichtige Kernfragen werden im Antlitz der woken Trivialliteratur um narzisstische Mitleidsorgien und elitäre Identitätsdebatten auf unverzeihliche Art und Weise vernachlässigt. Jedoch gibt es in Anbetracht der vielen falschen Propheten in diesem größenwahnsinnigen Kulturkampf auch noch Lichtblicke, die auf eine bessere Zukunft hoffen lassen.
„Von der Pflicht“ heißt das jüngste Schriftwerk von Richard David Precht, dem medialen Aushängeschild des deutschen Feuilletons. Wer in das Buch hineinliest, wird schnell feststellen, dass die scheinliberale Fassade seiner Philosophie überaus bröckelig ist: kantische Ideale wie Autonomie und bürgerlicher Emanzipation werden dämonisiert, unterwürfige Staatstreue hingegen wird zum absoluten Ideal verklärt. Ein gefundenes Fressen für diejenigen, denen Grundrechtseinschränkungen und staatliche Monopolisierung gar nicht weit genug gehen könnten. Was Precht hier als Vernunft und Freiheit anpreist, ist ein gefährlicher Appel an die ohnehin schon in den letzten Jahren erstarkten, antiindividualistischen Geistesströmungen unserer Zeit.
Ein freiheitliches Gegengewicht zu Precht bildet die Philosophin Thea Dorn, die sich in ihrem ebenfalls 2021 erschienenem Roman „Trost – Briefe an Max“ für rationale Selbstverantwortung und die klassisch liberalen Grundwerten ausspricht. Intelligent und pointiert setzt Dorn sich dabei mit den Auswirkungen der Corona-Pandemie auf das Leben ihrer Opfer, auf die Gesellschaft und auf unsere Demokratie auseinander. Die Hauptfigur der Johanna verliert neben ihrer geliebten Mutter auch ihre unantastbar geglaubten Grundrechte an das Virus: der Zwiespalt aus Todesangst und Freiheitssehnsucht droht sie zu zerreißen. Mit großer Leidenschaft zeichnet Dorn ein Bild gegen totalitäre Strömungen aller Arten und bekennt sich auf mutige Art und Weise zu den Freiheitsgedanken unseres Grundgesetzes. Obgleich Thea Dorns Roman ein ausgewogenes und kluges Plädoyer gegen den totalen Sicherheitsstaat darstellt, findet Dorn (außerhalb des von ihr moderierten literarischen Quartetts) nur wenig Gehör. Precht hingegen hat sich zum staatsidealistischen Dauerprediger in Talkshows hochstilisiert und vereinnahmt somit beinahe im Alleingang die Stimme des deutschen Bildungsbürgers.
Und während in der Philosophie der alte Streit zwischen staatstreuer Gefügigkeit und liberaler Unabhängigkeit ausgefochten wird, tobt in der deutschen Unterhaltungsliteratur ein vielleicht noch wichtigeres Gefecht: der Kampf gegen die inhaltliche Bedeutungslosigkeit. Ein Paradebeispiel der thematischen Belanglosigkeit in zeitgenössischen Literaturwerken stellen die Essays des im Jahre 2020 veröffentlichten Sammelbandes „Alle sind so ernst geworden“ von Benjamin von Stuckrad-Barre und Martin Suter dar. Mit pseudointellektueller Dekadenz und einem hanebüchenem Geschwätz schwadronieren die Autoren über völlig stumpfsinnige Themen wie „Badehosen, Glitzer“ und die Interjektion „Äähm“ – selbst die Dadaisten um Hugo Ball hätten sich für dieses Maß an Sinnlosigkeit in Grund und Boden geschämt!
Der Belletristik alle Ehre macht hingegen die wohl berühmteste Verfassungsrichterin Deutschlands: die Sozialdemokratin Juli Zeh. Sie betrachtet in ihrem jüngsten Roman „Über Menschen“ die kritische Entwicklung unserer freien Gesellschaft in einen ideologischen Maschinenkomplex. Die Protagonistin Dora fühlt sich vom radikalen Moralismus des urbanen Milieus überfordert und flüchtet aufs Land – wo sie sich ausgerechnet mit dem Dorfnazi anfreundet. In einem humanistischen Plädoyer setzt sich Zeh für eine tolerantere und offenere Gesellschaft ein, in der gegenseitiger Respekt und die menschliche Fehlbarkeit des Einzelnen wieder zu zentralen Bestandteilen des gemeinsamen Lebens werden. Vor allem aber beweist Zeh mit diesem großartigen Roman, dass die deutsche Belletristik nicht zur seichten Irrelevanz verdammt ist, sondern auch heute noch dazu in der Lage sein kann, wichtige Akzente in der zeitgenössischen Debatte zu setzen.
Die deutschen Vertreter des Linksilliberalismus haben die Literatur in vielerlei Hinsicht zu einem antiintellektuellen und künstlerisch beliebigen Werkzeug gemacht, das nur im Rahmen von dekadenten Anmaßungen und rechthaberischen Parolen auf Kernfragen des gesellschaftlichen Zusammenlebens eingeht. Das heißt allerdings noch lange nicht, dass die „Dichter und Denker“ in Deutschland vollkommen ausgestorben sind. Es gibt diverse Schriftsteller, denen die Ideologisierung und Fetischisierung der Literatur großes Unbehagen bereitet und die bereit sind gegen die woke Leere mit freiheitlichen Überzeugungen anzustehen.









