Sarah Palin: Die Anti-Kandidatin ist zurück

Von Jonas Kürsch | Lange herrschten in den US-Medien wilde Spekulationen über ihr Comeback, jetzt ist es gewiss: die republikanische Politikerin Sarah Palin will zurück auf die politische Bühne. Im Rahmen der diesjährigen Wahlen zum US-Kongress will sie den einzigen Sitz ihres Heimatstaates Alaska im Repräsentantenhaus übernehmen. Die Chancen der umstrittenen Anti-Establishment-Ikone stehen durchaus gut. Sowohl Präsident A. D. Donald Trump als auch die konservative Parteivorsitzende Nikki Haley sprachen ihre Unterstützung für Palin aus. Doch was ist so besonders an dieser umstrittenen Kandidatin?

Mit kontroversen Sprüchen an die Spitze

Palin übernahm erstmals in den 1990er Jahren für die Republikaner ein Mandat im Lokalrat ihrer Heimatstadt Wasilla, zu deren Bürgermeisterin sie einige Jahre später gewählt werden würde. Zu jener Zeit überzeugte sie, ähnlich wie Donald Trump es viele Jahre später tun würde, nicht mit den üblichen Politikerfloskeln. Mit radikalem Selbstbewusstsein sprach sie sich gegen die damals noch neuaufkeimenden Urbewegungen des heutigen Linksliberalismus auf. Besonders die heftig debattierte Verschärfung des Waffenrechts sowie die Legalisierung von Abtreibungen lehnte sie schon damals vehement ab. Ihre kapitalistisch motivierte Wirtschafts- und Steuerpolitik führte zu einem großen Boom in der Kleinstadt. Größere Unternehmen und Einkaufszentren ließen sich nun vorzugsweise in Wasilla nieder und machten die Stadt für Neuanwohner zu einem attraktiveren Wohnort. Die Stadtbevölkerung wuchs während ihrer Amtszeit somit um knapp ein Viertel an.

Von 2003 bis 2004 war Palin Mitglied der Kommission für die Öl- und Gasvorkommen in Alaska, den sie eigenen Angaben zufolge aufgrund von lobbyistischen Amtsverfehlungen ihrer Parteigenossen nach kurzer Zeit wieder verließ. 2006 setzte sie sich dann während der republikanischen Vorwahlen gegen Alaskas Gouverneur Frank Murkowski durch und wurde anschließend zur ersten weiblichen Gouverneurin des Bundesstaats gewählt. Ihre dreijährige Amtszeit gilt als starkumstritten. Zum einen wird sie für ihre wirtschaftsfreundlichen und teils ungewohnt sozialen Investitionsprogramme auch heute noch hochgelobt. Zum anderen wird ihr nachgesagt, sie habe unliebsame Beamte versucht mit unlauteren Mitteln aus dem Dienst zu entlassen und die in Alaska florierende Öl- und Gaslobby geradezu hofiert. 

Im Jahr 2008 erreichte Palin den (jetzigen) Höhepunkt ihrer Karriere: der republikanische Präsidentschaftskandidat John McCain will mit ihr als Running Mate Barack Obamas erste Amtszeit verhindern. Im Falle eines Scheiterns McCains galt Palin in manchen Kreisen sogar schon als gesetzte Präsidentschaftskandidatin für die nächste Wahl im Jahr 2012. Doch der Wahlkampf wurde zu einer regelrechten Aneinanderreihung von Pannen: so musste die dezidiert christlich auftretende und Sex vor der Ehe ablehnende Palin ihren religiösen Anhängern nun erklären, warum die eigene, minderjährige Tochter ein uneheliches Kind erwarte. Auch ihre außenpolitische Unerfahrenheit schreckte viele Wähler vor der kontroversen Kandidatin ab. 

Auch die von Sarah Palin verwendeten Wahlkampfslogans sorgten häufig für großes Kopfschütteln, da sie eher an billige Werbesprüche erinnerten, kaum aber als echte politische Visionen ernstgenommen wurden. So versuchte sie unter anderem mit dem Spruch “Drill, baby, drill!“ für das umstrittene Fracking zur Erdgasgewinnung zu werben. Im Zusammenspiel mit der durch die Bush-Administration starkvorangetriebenen Wirtschafts- und Finanzkrise versanken die Republikaner letztlich in einem fatalen Umfragetief: das McCain-Palin-Ticket verlor die Wahl haushoch. 

Palins Abkehr vom Partei-Establishment

Infolge der immer stärker ausufernden Wohlfahrtspolitik des frischgewählten Präsidenten Obama wurden staatliche Wirtschaftseingriffe zur gängigen Praxis. Besonders die nationale Neuverschuldung stieg unter Obama in seit den 1970er Jahren nicht mehr gekannte Höhen an (obwohl George W. Bush im Zuge der Weltwirtschaftskrise für solche Maßnahmen bereits die Weichen gestellt hatte). Als Gegnerin dieses immer größer werdenden Etatismus entfernte Palin sich endgültig vom politischen Establishment der USA. Ab 2010 wurde sie zu einer Galionsfigur der libertären Tea-Party-Bewegung, die eine kollektivistische Vergemeinschaftung von Schulden, wie von den Demokraten propagiert wurde, auch heute noch mit lautstarkem Protest ablehnt.

In die aktive Politik kehrte Palin seit der verloreneren Vizepräsidentschaft allerdings nicht mehr zurück. Es wurde still um den einstigen Shootingstar der Republikaner. Dies änderte sich erst mit dem Tod von Alaskas Kongressabgeordneten Don Young, den Palin nun zu beerben versucht. 

Die Anti-Harris und Anti-Baerbock

Nun hat Palin sich in den republikanischen Vorwahlen durchgesetzt und wird in diesem Jahr erstmals für die Republikaner als Kandidatin bei den midterm elections ins Rennen gehen. Ihre Chancen zum Sieg stehen gut, schließlich gilt Alaska als einer der konservativen Red States. Auch die meisten Umfragen gehen hier von einem republikanischen Sieg bei den Kongresswahlen aus. Allerdings sehen linke Vertreter der Mainstream-Presse (in den USA und auch in Deutschland) in ihren radikalen, manchmal auch unrealistischen Forderungen seit jeher eine große Gefahr für die Demokratie. Besonders für ihre teils recht offensichtliche Unerfahrenheit im Bereich der Außenpolitik kritisierte man Palin schon immer mit aller Schärfer. Diese Doppelmoral ist höchstinteressant, denn schließlich erfüllt Palin doch das einzige Kriterium, das für die Neuen Linken heute noch von Bedeutung ist: sie ist eine Frau.  

Warum gilt bei Palin auf einmal wieder die Kompetenz als wichtiges Kriterium zur Vergabe von politischen Ämtern? Bei Annalena Baerbock und der inzwischen häufig als „unbeliebteste Vizepräsidentin aller Zeiten“ betitelten Kamala Harris reichte das weibliche Geschlecht doch auch aus. Vor allem drängt sich die Frage auf, weshalb Zeitungen wie die WELT Sarah Palin als „Grande Dame des republikanischen Irrsinns“ bezeichnen, dann aber ohne Probleme behaupten, dass die wesentlich unerfahrenere und schon jetzt an der Realität gescheiterte Grünen-Außenministerin Annalena Baerbock „einen guten Job“ mache? Und weshalb haben die US-amerikanischen Medien im Rahmen von Joe Bidens Wahlkampf im Jahr 2020 ausnahmslos positiv von seiner Vizepräsidentschaftskandidatin berichtet, während Palin im Jahr 2008 sich vom ersten Tag an mit einer unüberwindbaren Mauer aus journalistischen Schimpftiraden konfrontiert sah?

Auch die nicht enden wollende Dämonisierung ihrer (und das gebe ich gerne zu!) teilweise wirklich abenteuerlichen Statements ist ein weiteres Beispiel dieser medialen Doppelzüngigkeit. Ihr Spruch “The only thing that stops a bad guy with a nuke is a good guy with a nukewird von Journalisten als dumm und unwissend diffamiert, aber wenn Annalena Baerbock intellektuelle Ergüsse wie „Das Schwert, was nach dem härtesten klingt, muss nicht immer das cleverste sein“ von sich gibt, sei das Ausdruck ihres außenpolitischen Fachwissens. Geht’s noch? 

Es ist gut möglich, dass Palin keine ideale Politikerin ist, aber wenigstens ist sie ihrer politischen Leitlinie treugeblieben und setzt sich auch heute noch für die wirtschaftliche Unabhängigkeit des einzelnen Bürgers ein. Zudem trat sie in den vergangenen Jahren vermehrt als Kämpferin gegen die im Rahmen der Coronakrise weitervorangetrieben Grundrechtseinschränkungen auf und machte sich einen Namen als Skeptikerin der verfassungswidrigen Pandemiebekämpfungsmaßnahmen. Sie ist für viele Menschen zu einem Symbol gegen politische Korrektheit und den kollektivistischen Wokeismus unserer Zeit geworden. Sie steht für all jene Werte des normalen Bürgers, die von den Kamala Harrises und Annalena Baerbocks dieser Welt mit arroganter Selbstgerechtigkeit verachtet werden. 

In Anbetracht der Tatsache, dass die amerikanische Bevölkerung allen Umfragen zufolge genug von Joe Biden, Kamala Harris und der ideologischen Planwirtschaftspolitik der Demokraten hat, könnte der Geist der antisozialistischen Tea-Party-Bewegung in den nächsten Jahren aufblühen. Und wer weiß: Donald Trump hat bislang noch keine Äußerungen über einen möglichen Vizepräsidentschaftskandidaten an seiner Seite für die kommende Präsidentenwahl gemacht. Vielleicht wird es ja Zeit für eine Frau in diesem Amt – nur dieses Mal für eine mit republikanischem Parteibuch.

„I am a conservative Republican, a firm believer in free market capitalism. A free market system allows all parties to compete, which ensures the best and most competitive project emerges, and ensures a fair, democratic process.“ – Sarah Palin

Bildquelle: Sarah Palin CPAC 2015 via Wikimedia Commons


Hauptstadtgöre vs. Dorfprolet – Runde III

Lesen Sie hier: Das große Debattenduell. Soja-Latte-Pauline und Mistgabel-Jonas steigen wieder in den Ring – und tragen den Stadt-Land-Konflikt auf der virtuellen Bühne aus. Für wen fiebert ihr in Runde drei mit: Team Kuhkaff oder Team Assikiez? 

ACHTUNG: Dieser Beitrag könnte Spuren von Humor, Satire und Klischees enthalten. Keine Dorfproleten oder Hauptstadtgören wurden bei der Produktion dieser Kolumne ernsthaft verletzt. Dieser Austausch spiegelt in keiner Weise das Arbeitsklima bei Apollo News wieder, sondern dient schlichtweg Unterhaltungs- und Ausbildungszwecken. Seelsorgerische Unterstützung stand den Autoren zu jeder Zeit zur Verfügung.


Disco-Pogo in der Kuhscheune? – Nein, danke.

Von Pauline Schwarz | Wenn unser Apollo-Dorfprolet nicht grade gegen Städter hetzt, lässt er es sich da draußen auf dem Thüringer Ländle richtig gut gehen: er liegt auf grünen Wiesen, umgeben von prachtvollen Wäldern und genießt die Stille. Wenn es nach Jonas geht, dann ist im besten Fall weit und breit kein Mensch in Sicht – dann gibt es nur ihn, seine Mistgabel und den süßen Duft nach frischer Schafskotze. Sollte ihn aber doch mal der Wunsch nach etwas mehr Action, fernab vom täglichen Kampf mit dem örtlichen Keiler packen, hat der Jonas ein Problem. Was zur Hölle tut man in der dörflichen Einöde, wenn alle Ställe ausgemistet, alle Heuballen gerollt und der Henne Gerda erfolgreich alle Eier unterm Hintern weggemobst wurden? Und vor allem: Was macht ein 21-jähriger Kerl wie Jonas, wenn er abends mal mehr will als die Zapfanlage seines Vaters leer zu trinken und seinem Spiegelbild zu zuprosten?

Die Möglichkeiten sind begrenzt. Vor allem wenn wir davon ausgehen, dass der Jonas nicht nur das nächste Bierfass erobern will, sondern auch die ein oder andere Dorfschönheit. Im Kuh-Kaff meines Apollo-Kollegen gibt es dreihundert Einwohner – wie viele davon sind wohl ein guter Grund die Mistgabel fallen zu lassen und in ein schickes Hemd zu schlüpfen? Wenn wir davon ausgehen, dass dreiviertel der Leute entweder auf die Senilität zusteuern oder noch in die Windel pupsen, bleiben vielleicht so um die 70-75 junge Leute übrig (ist jetzt nur so ne Schätzung, ist bestimmt noch zu nett). Abzüglich Geschlechtsgenossen, zu jungen, zu alten und Damen, denen man das Charakteristikum „Gesichtsgulasch“ zuordnen könnte, kann Jonas die potentiellen Abend-Eroberungen wahrscheinlich an zwei Händen abzählen – und viel Fluktuation hat´s da mitten im Nirgendwo auch nicht grade.

Als stolze Vertreterin der weiblichen Spezies sehe ich da ein Problem: Die zehn Weiber sind untereinander mit Sicherheit befreundet. Wenn eine von denen mit dem Jonas in der Dorfdisse geknutscht hat, erzählt die das den anderen weiter. Damit steigt die Hürde an die Nächste ranzukommen, denn Weiber teilen nicht so gerne. Aber selbst, wenn wir davon ausgehen würden, dass das keine der Damen juckt – was utopisch ist -, dann ist man spätestens nach ein paar Jahren Pubertät und feucht-fröhlichen Teeny-Partys einmal die Runde durch. Was macht man dann? Fängt man einfach wieder von vorne an? Kann ich mir nicht vorstellen, das klingt langweilig. Der Mann ist doch ein Jäger und Sammler – der will neue, frische Beute und nicht an irgendwelchen alten Knochen knabbern. Also muss Jonas sein Jagdrevier wahrscheinlich auf die nächsten Käffer ausweiten.

Um nach Hintertupfingen und Kleinkleckersdorf zu gelangen, brauch man aber einen fahrbaren Untersatz und jede Menge Zeit. Und da kommen wir dann auch gleich zum nächsten Problem und zurück zur Debatte, dass das Dorfleben ja angeblich sooo viel ungefährlicher wäre als in der Stadt. Aber ne ne Jonas, mich kann´nste nicht austricksen: Es ist kein Geheimnis, dass hinter den sieben Bergen bei den sieben Bauerntölpeln eine Disko auf fünf Dörfer kommt – und auch nicht, in welchem Zustand ihr dann meint noch nachhause fahren zu können. Selbst in Berlin wurde uns mahnend das Bild von den weißen Kreuzen am Rande, von Bäumen umsäumter, ländlicher Alleen eingeprügelt. Ich weiß Berlin ist für dich so ungefähr das El Dorado der Hölle, aber: In Sachen „Don´t drink and drive“ wart ihr unser Abschreckungsbeispiel.

Ich geh jetzt einfach mal davon aus, dass der Jonas ein vernünftiger Kerl ist und sich hier positiv von seinen Artgenossen unterscheidet. Auch wenn die Story letztes vom Camping (apropos was macht der Dorfprolet in seiner Freizeit…) irgendwie ein anderes Licht auf ihn geworfen hat – was hat dir am nächsten Morgen nochmal alles gefehlt? Dein Portemonnaie, dein Handy und was noch, außer deiner Erinnerung…? Aber vergessen wir das wieder, war bestimmt nur die gierige Elster, der noch ein paar glitzernde Schmuckstücke für ihr Nest gefehlt haben. Ich stell mir also vor der Jonas kommt gesund, munter und zurechnungsfähig zur Dorfdisse – aber was findet er da vor? Die Disko besteht doch wahrscheinlich aus einem kleinen Raum im Keller irgendeines Kreisvorstandes, der den muffigen Laden mit ein paar bunten Lichtern und einer mehr oder weniger funktionstüchtigen Musikbox ausgestattet hat. Oder irre ich mich da?

Wenn du wirklich mal was erleben und ein bisschen Auswahl haben willst, bist du in Berlin immer herzlich willkommen. Zugegeben: Bei Läden wie dem Berghain, KitKat, Suicide Circus oder dem Watergate, habe ich manchmal das Gefühl man kann sich in Berlin zwischen Pest, Cholera, Ebola und den Affenpocken entscheiden, wenn man in einen Club gehen will. Aber hey: Berlin ist so groß, da kann man immer wieder was Neues entdecken und wenn man Glück hat, ist es manchmal sogar ganz nett. Und sollte man sich von all den Hipstern, Assis und sonstigen Gruselgestalten in der Berliner Club-Kultur mal überrollen lassen und temporär das klassische Ausgehen an den Nagel hängen, hat man in Berlin immer noch tausend andere Unterhaltungsmöglichkeiten. Bei uns wirst du immer ein Theater, ein Kino, irgendwelche Vortragsveranstaltungen, Straßenfeste, Märkte, Messen, ne Mofa-Rally oder ein Restaurant finden, wo du nachts um vier noch leckere Maultaschen oder ´ne Curry-Wurst serviert bekommst. Du kannst ja viel sagen, aber langweilig wird’s bei uns aber mit Garantie nie!


Lieber Garagenbier als Stadtaffen

Von Jonas Aston | Neulich habe ich mich wieder mit meiner Apollo-Kollegin und Hauptstadtgöre Pauline unterhalten. Sie schwärmte von irgendeiner Buchstaben+-Community und spuckte Worte wie „Diskriminierung“, „Patriarchat“ und „white Privileges“ aus. Beim Sprechen machte sie komische Klick-Laute und schwenkte eine Regenbogenfahne. Sie redete sich so lange in Rage, bis es mir sprichwörtlich zu bunt wurde. Mit viel Mühe gelang es mir endlich sie auf einer Sprache, die einst als Hochdeutsch bezeichnet wurde, zu beruhigen. Für einen Augenblick konnte ich sie auf den Boden der Tatsachen holen und normale Themen wie Feiern und Freizeitgestaltung anschneiden. Pauline erklärte mir stolz, dass sie regelmäßig die Großstadt unsicher mache.

Damit meinte sie jedoch nicht ihr Fahrrad, mit dem sie den Kudamm rauf- und runterbrettert – das kann sie nämlich oft nicht benutzen. Einmal berichtete sie davon, dass ein Nachbar direkt vor ihre Tretmühle sein Geschäft verrichtet hat. Aber da soll sie sich mal nicht so aufregen, immerhin war er so nett und hat das Fahrrad nicht geklaut – das soll in der Hauptstadt ja auch ab und an vorkommen. Nein, Pauline spielte vielmehr darauf an, dass sie regelmäßig Clubs besucht. Wenn Pauline also nicht gerade Regenbogenfahnen schwenkt oder „Unrat“ von ihrem Fahrrad kratzt, treibt sie sich in der Berliner Partyszene herum.

Der typische Ausgehabend muss bei Pauline wohl ungefähr so aussehen:  Es ist mitten im Sommer, den ganzen Tag scheint die Sonne und bis tief in die Nacht zeigt das Thermometer über 20 Grad an. Pauline wirft sich in Schale, macht sich die Haare, zieht sich ein Kleid an und trägt ihr teuerstes Parfüm auf. Die Partynacht kann beginnen und Pauline ist sich sicher: Heute wird sie endlich ihren Traumprinzen finden. Sie verabredet sich mit ihrer besten Freundin und besorgt sich beim Späti noch zwei Wegbier. Die Vorfreude ist riesig und die Spannung steigt mit jedem Schritt. Pauline weiß, dass an diesem Abend etwas in der Luft liegt. Jetzt sind es nur noch 5 Minuten Fußweg, bis sie endlich beim Club angekommen sind. Doch dann passiert es: BRRRUUUMMM. AMG-Achmad rast in der verkehrsberuhigten Zone mit 150 km/h an Pauline vorbei. Die Frisur ist zerstört und das Kleid zerknittert, aus Parfüm wurde Benzin und aus Rouge wurde Ruß. Der Abend ist gelaufen und Pauline muss weiter auf ihren Traumprinzen warten.

Auch wenn Paulines Abende zumeist so oder ähnlich ablaufen dürften, räume ich ja trotzdem ein, dass sie in Sachen Club-Kultur vielleicht knapp die Nase vorn haben könnte. Wenn man Masse statt Klasse bevorzugt, ist man in Berlin jedenfalls an der richtigen Adresse. Wer zum Beispiel asozial feiern und sich mit Drogen richtig zudröhnen will, der kann ins Berghain, ins Matrix oder in so ziemlich jeden anderen x-beliebigen Club in Berlin gehen. Aber Pauline zufolge gibt es auch einige wenige Clubs, die „wenn man Glück hat“ ganz nett seien. Und das nimmt sie natürlich direkt zum Anlass über unsere Dorfdissen herzuziehen.

Aber da sag ich dir nur eins Pauline: Noch fühlst du dich überlegen und hast laut zu lachen. Aber was machst du, wenn der Herbst anbricht und die Killervariante endgültig zuschlägt? Die Clubs werden dann leider leider schon bald wieder schließen müssen. Dann hat es sich ausgefeiert und du wirst ganz verloren in deiner Zwei-Zimmer-Wohnung sitzen. Dir bleibt nur noch die Dealer auf der Straße und die Regentropfen an der Fensterscheibe zu zählen. Und genau dann kommt meine Zeit. Während du in deinen vier Wänden versauerst, werden wir weiter unsere Partys feiern. Dafür braucht man erst einmal einige gute Freunde und Bier. Das bekommt man vielleicht sogar noch in Berlin hin. Daneben braucht es aber noch eine geräumige Garage und Nachbarn, die einen weder wegen Ruhestörung noch wegen Nichteinhaltens der Ausgangssperre anschwärzen. Und daran wirst du wohl scheitern.

Vielleicht bist du aber auch eine ganz mutige und wagst dich trotz der Ausgangssperre vor die Haustür. Verübeln könnte ich es dir nicht. Wer von uns ohne Sünde ist werfe den ersten Stein (aber bitte nicht auf einen Polizisten liebe Berlinerin). Aber wie dann weiter? Die Shisha-Bar um die Ecke hat mit Sicherheit geöffnet. Aber willst du dann wirklich mit bärtigen Männern über Gender-Sternchen und das Patriarchat debattieren? Möglicherweise beschließt du auch in einen Park zu gehen und ein bisschen zu raven – also zu elektronischer Musik völlig gestört herumzuhampeln. Kaum begonnen findet der Spaß aber schon nach kurzer Zeit sein trauriges Ende und der illegale Rave wird aufgelöst. Während du vor der Polizei wegrennst (bitte trotzdem keinen Stein schmeißen) sitzen wir in der Garage und machen uns das nächste Bier auf. Aus Mitleid stoßen wir sogar auf dich an.


Meine Grundschulzeit – ich habe vielleicht nicht viel gelernt, aber dafür lauter tolle Zertifikate

Von Pauline Schwarz | Meine Einschulung war für mich ein großer Tag – und das nicht nur wegen der gigantischen Schultüte mit all den köstlichen kleinen Leckereien, die ich mir erhoffte. Ich hatte ein Jahr lang meine ältere Schwester genervt, ob ich nicht auch mal ihre Hausaufgaben machen könnte, und nun stand ich endlich davor, auch zu den Großen zu gehören, und meine eigenen Schulaufgaben zu kriegen. Ich war wahnsinnig aufgeregt und hatte ziemlich Angst, als ich das große Schulgelände betrat – alles war neu, voller fremder Kinder und Erwachsener. Während ich mich fest an meine Schultüte klammerte und versuchte, mich zu entscheiden, ob ich das jetzt schrecklich oder schön finden sollte, kam ein fremder Erwachsener auf mich zu und drückte mir als Einschulungsgeschenk eine grüne Brotbüchse mit der Aufschrift „Bündnis 90 – Die Grünen“ in die Hand. Damals konnte ich mit dem Namen nicht besonders viel anfangen – dieses kleine Geschenk sollte aber symbolisch für die nächsten sechs Jahre meines Lebens voll von Öko-Propaganda, Esoterik und blindem Toleranzgehabe stehen.

 

Inklusion um jeden Preis

Meine Grundschule galt damals als eine der besten Schulen Kreuzbergs und rühmte sich „so bunt, lebendig und vielfältig“ zu sein, wie der Kiez um sie herum. Ich verstand das Konzept einer Inklusionsschule mit meinen sieben Jahren noch nicht, wusste aber, dass wir eine „Schule für alle“ waren. Dass mindestens die Hälfte meiner Klassenkameraden ausländische Wurzeln hatte, wunderte mich nicht – als Kreuzberger Zögling war das für mich das normalste der Welt. Und alle, das waren eben alle aus meinem Kiez. Ich sollte aber schnell lernen, dass „alle“ nicht nur verschiedene Herkünfte und Einkommensklassen meinte. Es bedeutete, dass in jede einzelne Klasse mehrere verhaltensauffällige Schüler und mindestens ein geistig oder körperlich schwer behindertes Kind gesteckt wurden. Dann sollten wir zusammen Unterricht machen, als gäbe es keinerlei Unterschiede zwischen uns – doch das fiel mir, zumindest am Anfang, sehr schwer.

Das behinderte Mädchen in meiner Klasse konnte weder sprechen, noch laufen. Sie konnte kaum ihren Kopf grade halten oder ihren Mund schließen und schrie manchmal plötzlich völlig unverständlich herum – das machte mir Angst. Ich hatte in meinem kurzen Leben noch nie mit einem so schwer behinderten Menschen zu tun, wusste nicht, was das bedeutet, und wie ich damit umgehen sollte. Doch danach fragte mich niemand. Ich sollte mich, wie jeder in meiner Klasse, ab sofort und teilweise auch ohne die Hilfe von Erwachsenen um das Mädchen kümmern. Den „Selin-Dienst“, wie wir ihn nannten, fand ich am Anfang grauenhaft. Ich war dazu verdonnert, Zeit mit einem Kind zu verbringen, mit dem ich nichts anfangen konnte – wir konnten uns weder unterhalten, noch toben oder zusammen malen. Und nicht nur das: Ich musste ihr helfen, zur Toilette zu gehen, und ihr Essen geben, dass sie mir -unbeabsichtigt- wieder entgegen spuckte – ich fand das, um ehrlich zu sein, ziemlich eklig und verinnerlichte statt Toleranz immer mehr Abneigung durch meinen Zwangsdienst. Aber trotzdem gewöhnte ich mich daran und war irgendwann sogar richtig scharf darauf – denn dann durfte man endlich auch mal Fahrstuhl fahren und gratis in der Mensa essen. Um Selin ging’s dann zwar kein bisschen, aber so erkauften sich die Lehrer unsere Mitarbeit.

 

Staatlich zertifizierter Gemüseaktivist

Rückblickend bin ich ziemlich erstaunt, dass wir für unseren unermüdlichen Einsatz und die stupide Gleichmacherei damals keine Urkunden zum vollausgebildeten Integrations-Schüler bekommen hatten – sowas bekam man an meiner Schule nämlich wirklich für jeden Scheiß. Nur nicht für sinnvolle Dinge, wie eine erfolgreiche Mathe-Olympiade oder hervorragende sportliche Leistungen. Aber wer brauch sowas auch? Statt Mathe hatten wir vom Senat geförderte „Schulobst- und Gemüseprogramme“. Um unsere Auszeichnung zum „5 am Tag“-Kid zu bekommen, wurden wir eine Woche lang durch die Bio-Höfe und Markthallen unserer Stadt gejagt. Ich musste mir zig Vorträge darüber anhören, welche grauenvollen Krankheiten mich schon bald ereilen, dass ich fett werde und mit dreißig tot umfalle, wenn ich nicht genug Grünzeug in mich reinfuttern würde.

 

Meine neu gewonnene Leidenschaft – ich fand Gemüse zwar immer noch widerwärtig, aber die Urkunde klebte immerhin ein paar Tage lang in meinem Zimmer – sollte ich dann kurze Zeit später mit der Teilnahme am Wettbewerb „Bio find ich kuh-l“ beweisen. Bei dem vom Bundesministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz ausgerichteten Schülerwettbewerb stellte sich meine Klasse dem bundesweiten Wettkampf um das beste Öko-Propaganda-Video. Wir fuhren für unsere Aufnahme extra zum Bio-Bauernhof in Dahlem und ließen uns dort zunächst in Stimmung bringen – wir liefen herum und bekamen ausführlichste Informationen darüber, wie man die armen kleinen Tierchen in der Massentierhaltung quälen, sie schlagen, ihnen jeden Knochen brechen und sie verelenden lassen würde. Bei den Gedanken an die kleinen lustigen Ferkelchen, die ihrer Mutter entrissen werden, und die armen putzigen Küken, die man mit Haut und Federn in den Schredder warf, brach mein kindliches Herz. Danach war ich Feuer und Flamme für das Projekt.

 

Brotbüchsenkontrolle im Spalier

Der Öko-Aktivismus meiner Lehrer beschränkte sich aber nicht nur auf Bildungsprogramme vom Berliner Senat – man setzte auf härtere Bandagen, um zu überprüfen, ob wir wirklich fest an der Gemüsefront standen. Das bedeute, dass wir uns auf Kommando alle paar Tage in Reih und Glied aufstellen und unsere Brotbuchsen vorzeigen mussten. Jede einzelne wurde streng begutachtet. Ich hatte eine höllische Angst, wenn ich bei der Brotbüchsenkontrolle dran war, denn es wurde immer mindestens ein Kind angebrüllt und vor den anderen dafür gedemütigt, dass es ungesundes Essen dabeihatte – Todsünden wie Weißbrot, Nutella oder Süßigkeiten. Meine Hände zitterten jedes Mal vor Angst, obwohl ich sowieso nur langweiliges Graubrot mit Salat in meiner grünen Brotbüchse hatte. Mir fiel jedes mal ein Stein vom Herzen, wenn meine Lehrerin nach einem skeptischen Blick weiter zum nächsten Kind schritt – und es zornentbrannt dabei erwischte, mit seinen Leckereien die Kollektivmoral der ganzen Klasse zu gefährden.

In unserem Unterricht ging es generell sehr viel um Disziplin – aber nicht um solche, die man an einer Schule erwarten und für angemessen halten würde. Ich weiß von einer Freundin aus Bayern, dass die Kinder dort immer aufstehen und den Lehrer förmlich begrüßen mussten, sobald er in die Klasse kam. Verhielt sich jemand respektlos oder machte seine Schulaufgaben nicht, gab es jede Menge Ärger. Das alles sah bei uns etwas anders aus. Leistung war nicht so wichtig, dafür legte meine Lehrerin großen Wert darauf, dass wir morgens fehlerfrei dem Sonnengott Aton huldigten. Mir wurde so intensiv eingetrichtert, dass ich die Sonnenhymne fühlen und meinem ganzen Körper präsentieren sollte, dass ich bis heute manchmal spontane Flashbacks bekomme und von meinem Ohrwurm gezwungen werde zu murmeln: „Strahlend steigst du am Rand des Himmels, Aton, der du lebst seit Anbeginn…“.

 

 

Die „Porno-Nonne“, das Chakra und die Aura

Als wäre das alles noch nicht skurril genug, sollten wir nur kurze Zeit später mit Atemübungen beginnen – die uns von der „Porno-Nonne“, einer kleinen merkwürdigen Frau beigebracht wurden. Sie hatte sich ihren Namen durch ihre Kutten-ähnliche Kleidung und die Übungen verdient, bei denen wir immer wieder in die Hocke gehen und dabei laut stöhnen mussten. Das fanden wir sehr sexuell und damit extrem peinlich – auch wenn wir mit neun-zehn Jahren in echt natürlich keine Ahnung von Sexualität hatten. Um mich aus der unangenehmen Situation irgendwie zu befreien, versuchte ich immer wieder das ganze ins Lächerliche zu ziehen, in dem ich die Übungen absichtlich falsch machte und blöde Grimassen zog. Aber das ließ ich bald wieder, denn es hagelte nicht nur der Zorn der Porno-Nonne, sondern auch jede Menge Strafarbeiten.

Was blieb mir übrig, als mich den Atemübungen und der darauffolgenden Lehre von der Energie und den Chakren zu fügen. Ich war damals mindestens genauso verstört, wie fasziniert, als die kleine graue Frau ihre Augen weit aufriss und voller Inbrunst anfing über Energiefelder zu sprechen, die wir in uns sammeln und mit viel Konzentration an unseren Nachbar weiterreichen konnten. Sie sprach von der Macht der Chakren und über die Aura, die einen jeden von uns umgibt. Unter keinen Umständen durften wir die Aura eines anderen unerlaubt berühren und verletzen – das wäre, als würden wir direkt und unerlaubt in seine Seele greifen. Wir sollten sie schätzen und respektieren.

So viel zur Theorie – in der Praxis interessierte es niemanden, ob wir uns gegenseitig respektierten oder an die Gurgel gingen. Auf dem Pausenhof gab es beinah täglich Schlägereien. Meine Lehrer wussten, dass wir uns regelmäßig zur Schlacht der Geschlechter verabredeten, wo Jungs und Mädchen gegeneinander aufmarschierten und dann aus Spaß an der Sache aufeinander einprügelten – aber es schien sie nicht zu besorgen. Ein blaues Auge, eine blutige Nase? Das sind doch nur Spielerein und hat noch keinem geschadet. Je nach Situation nahm man es mit seinen Moralvorstellungen und seinem pädagogischen Auftrag einfach nicht mehr so eng – wenn Türken und Kurden aufeinander einschlugen, kniff man einfach ganz fest die Augen und Ohren zu, tat so, als würde man nichts mitbekommen, und sang das Lied von der Toleranz. Schon war alles wieder gut.

 

Am Ende kommt die Quittung

Am Ende haben sechs Jahre links-grünes Brainwashing leider seine Spuren an mir hinterlassen – während meiner Oberschulzeit war ich eine ziemliche Nervensäge, die an jeder Ecke Rassismus und Intoleranz witterte. Und ich hatte ein Problem: Ich sollte plötzlich Englisch-Arbeiten schreiben, obwohl ich bisher nur Lieder von Farmer Richiburg und Old McDonald gesungen hatte – meine Lehrerin nahm mich damals aus der Klasse, um mir zu sagen, dass mir jegliche Grundlagen fehlten und ich den Unterricht so nicht schaffen würde. Da stand ich nun: Ich hatte all die Jahre nichts gelernt, aber dafür mindestens fünf Urkunden, die sagten, was für ein tolles Anti-Rassismus-, Vielfältigkeits- und Öko-Toleranz-Kid ich doch bin.


Antikapitalistisches Theater mit dem Deutsch-LK

Von Larissa Fußer | Es war ein verregneter Abend in Berlin. Mein 16-jähriges Ich hielt sich einen Schal üben den Kopf, damit die lang frisierten Haare nicht zerstört wurden. Ich wartete an der U-Bahnstation auf meine Mitschüler. Gemeinsam sollten wir unsere Deutsch Leistungskurslehrerin ein paar Meter weiter zur Abendexkursion treffen. Wir gingen öfter abends zusammen ins Theater. Gemeinsam mit den Jungs und Mädchen aus meinem Kurs hatte ich schon den Schauspieler Lars Eidinger komplett nackt auf dem Bühne herumtanzen und rappen sehen – als Shakespeares Hamlet, versteht sich. Doch heute Abend stand kein auf modern vergewaltigtes klassisches Stück auf dem Programm – es sollte ein ganz originäres, neues Werk sein. 

Als wir unsere Deutschlehrerin am Eingang zur Volksbühne trafen, erzählte sie, dass alle Karten restlos ausverkauft seien. Wir sollten lieber schnell reinhuschen und uns Plätze suchen. Ich verstand nicht, was sie meinte – wieso hatten wir denn nicht einfach Sitzplatzkarten wie in anderen Theatern? Als ich den Saal eintrat, bekam ich die Antwort: Es gab keine Sitzplätze. Vor der Bühne breitete sich nur eine große schräge Fläche aus – ganz ohne Stühle. Sichtlich unbehaglich setzten sich ein paar Besucher gezwungenermaßen auf den Boden. Wir taten es ihnen gleich. Als Teenies machte uns das nicht so viel aus. Schließlich setzten wir uns mit unseren Klamotten auch auf nasse Wiesen im Park. Lustig war allerdings zu beobachten, wie sich meine Deutschlehrerin auf den Boden setzte. Sie tat es mit gespielter Leichtigkeit. Wahrscheinlich dachte sie in ihrem Innern, dass es bourgeois sei, sich nicht auf den Boden setzen zu wollen. Und so etepetete wollte sie als Kommunistin (die mit uns ein Semester lang nur Berthold Brecht behandelt hatte) nicht sein.

Schließlich ging das Licht aus und das Stück fing an. Was dann folgte, habe ich nur noch bruchstückhaft in Erinnerung. Auf jeden Fall war es Chaos – keine Dialoge, keine nachvollziehbare Handlung. Nur Figuren, die sich wie wahnsinnig über die Bühne bewegten und entweder gar nichts sagten oder in alarmierendem Ton kurze Sätze riefen. Ich weiß noch, dass immer wieder eine Gruppe gleich gekleideter Menschen über die Bühne schritt und monoton „Wir sind ein Kollektiv“ raunte. Als Höhepunkt der Inszenierung habe ich einen Mensch in Krankenkostüm in Erinnerung, der sich mindestens eine Stunde lang qualvoll über die Bühne bewegte und seine Tentakeln dabei schüttelte. 

Endlich war der Spuk vorbei und die Menge tobte vor Applaus. Ich saß immer noch auf dem Boden und fragte mich, während ich höflich klatschte, ob ich nur zu ungebildet war, um diesen Irrsinn zu verstehen. Als wir uns mit unserer Lehrerin an der Theaterbar trafen, lächelte sie verschmitzt. Ihr hatte es offenbar gefallen. „Na, für was stand die Krake?“, fragte sie uns. Schweigen im Walde. Schließlich sagte eine Mitschülerin: „Ich glaube, sie sollte den Kapitalismus darstellen, der wahnsinnig und brutal die Menschen auseinanderreißt“. „Sehr gut“, lobte sie unsere Lehrerin. Ich war verstört und dachte bei mir: „Lieber guck ich mir noch zehn nackte Hamlets an, als noch einmal so ein kommunistisches Ausdruckstheater.“ Vielleicht war das ja der Tag, an dem ich anfing, liberal zu werden.


Flugchaos und BER-Blamage. Mein langer Weg zum Apollo Seminar

Von Selma Green | Mein Herz pochte. Alle paar Sekunden schielte ich auf mein Handy. 20:50 Uhr. 20:51 Uhr. Schaffen wir es rechtzeitig? Der Mitschüler neben mir murmelte vor sich hin, dass es zu spät sei. 20:52 Uhr: er kramte in seinem Rucksack und zog ein blaues Buch heraus. Darauf stand in Druckbuchstaben „BIBEL“. „Selma, lass uns beten”. Schon Tage vor der Abreise nervte er mich mit seiner Panik. Jetzt ergriff sie auch mich. „Nein, geh mir weg mit deiner Bibel”, fauchte ich. Doch ich gebe zu – in dem Moment dachte ich mir auch: „Bitte lieber Gott, lass mich heute Abend nach Berlin zurück, damit ich nicht noch die Nacht am Flughafen mit dem Kauz da neben mir verbringen muss.” Sie fragen sich jetzt sicherlich: Wovon faselt die Dramaqueen da? Nun gut, noch mal von Anfang an. 

Ich wollte doch zum Apollo Seminar!

Ich war mit meiner Klasse auf Klassenfahrt in Valencia. Wir flogen mit Ryanair. Meine Mitschüler schoben immer wieder Panik, denn jeden Tag wurden Flüge von Ryanair gestrichen. Ob unser Rückflug der nächste ist? Am Tag der Abreise war es endlich klar: Der Flug würde stattfinden. Am Flughafen von Valencia angekommen, erreichte uns die Nachricht, dass sich der Flug um zwei Stunden verspätet. Ausgerechnet an dem Tag, an dem wir aus Spanien zurück nach Berlin fliegen wollten, streikten 450 Mitarbeiter der Kabinencrew in Spanien. Zusätzlich herrschte ein allgemeiner Personalmangel. Gerade an diesem Tag hoffte ich, rechtzeitig nach Berlin zu kommen, um an dem Jungautoren Seminar von Apollo News teilnehmen zu können. Der Flugraum war überlastet und mehrere Flüge waren verspätet. Das Problem war, dass wir mit den zwei Stunden Verspätung wahrscheinlich nicht mehr in Berlin landen konnten, da der Luftraum in Deutschland Punkt 0 Uhr schließt, ohne Gnade. 20 Uhr 55: ein schriller Ton erklang aus den Lautsprechern. Alle Passagiere im Flugzeug verstummten und lauschten auf. Ich hielt die Luft an. Es war der Pilot: „Gut für Sie, wir fliegen in Kürze los. Die Lage im Luftraum hat sich verbessert”. Ich atmete auf. Es geht los! Zu unserem Glück drückte der Pilot, auf’s Gas und wir kamen rechtzeitig wenige Minuten vor 0 Uhr in Berlin am BER an.

Massenhaft Streiks bei EasyJet und Ryanair angekündigt

Warum müssen die Mitarbeiter jetzt streiken? Ungünstiger könnte der Zeitpunkt nicht sein – zumindest für die Fluggäste. Dieser Tag wird nicht der letzte sein, an dem die Mitarbeiter in Spanien streiken. Der Juli ist geschmückt von Streiks und Flugausfällen bei Flügen von Ryanair und EasyJet. Das betrifft vor allem Malle-Urlauber, Urlauber in Barcelona und Málaga. Die Streiks von EasyJet werden am 1., 2., 3., 15., 16., 17., 29., 30. und 31. Juli stattfinden. Ryanair hat Streiks für den 30. Juni, 1. und 2. Juli in sämtlichen spanischen Städten angekündigt. Grund dafür sei der geringe Lohn und die schlechten Arbeitsbedingungen der Angestellten bei Ryanair. Auch Lufthansa muss bis zu 2.200 Flüge streichen. Was ist da los?


Der Personalmangel ist wohl neben den Streiks Schuld an der Misere an den Flughäfen. Nicht nur an spanischen, sondern auch an den deutschen Flughäfen herrscht Chaos. 7.200 Arbeitskräfte fehlen an den deutschen Flughäfen – alles Folgen des Lockdowns? Naja, wer kann es den Ex-Mitarbeitern verübeln? Wer möchte einen Beruf ausführen, der durch die Maßnahmen der Bundesregierung und durch das Codewort “Corona” ständig auf Kippe steht? Hinzu kommt, dass das Einkommen vom Flugpersonal netto gerechnet, nahezu genauso hoch wie das eines Hartz-4-Empfängers ist. Lohnt es sich noch für die Menschen beim Flughafen zu arbeiten, wenn sie nahezu dasselbe für’s Nichtstun verdienen könnten? Kein Wunder, dass gestreikt wird, massenhaft Flüge ausfallen und Personalmangel herrscht. 

Geht jetzt auch noch mein Sommerurlaub futsch?

Als ich schließlich am BER anderthalb Stunden auf mein Gepäck gewartet habe, boten Mitwartende aus Verzweiflung an, das Gepäck selbst von den 40 Meter entfernten Gepäckwägen zu holen. Nun gut, es ist der BER, so was kann man diesem Flughafen auch mit einem Überschuss an Personal zutrauen. Doch das Chaos nimmt selbst abends um 0 Uhr kein Ende. Personalmangel und zusätzlichen Streiks – wer wird da noch arbeiten? Die vielen Streiks gerade jetzt in der Urlaubssaison werden jedenfalls in den folgenden Wochen für Chaos an den spanischen und deutschen Flughäfen sorgen. Flugausfälle und Verspätungen stehen dann bei Ryanair und EasyJet-Gästen vermutlich auf der Tagesordnung. Ob mein Flug nach Malle gestrichen wird? Ich will es nicht hoffen. Da hilft wahrscheinlich wirklich nur beten. 


Das Berliner Schulchaos

Von Jerome Wnuk | Die meisten Berliner Gymnasien genießen keinen guten Ruf, vermutlich zurecht. Marode Schulgebäude, mehr Quereinsteiger als ausgebildete Lehrer und praktisch täglich Streitereien zwischen Schülern und Lehrern, die teilweise ins Absurde abrutschen.

Doch trotz der schlechten Lernbedingungen geht jedes Jahr ein Kampf unter den Schülern und Eltern um die Plätze auf den Gymnasien los. Ein Ergebnis aus fataler Verwaltung des Senats und dem inflationären Verteilen von guten Noten auf den Grundschulen. Leidtragende sind die Schüler.

Es ist die größte Veränderung in den 12 Jahren Schule: der Wechsel von der Grundschule auf das Gymnasium. Endlich ist man aus der Grundschule, wo man sich den Schulhof noch mit den kleinen Erstklässlern teilen musste, raus und trifft stattdessen fast erwachsene Abiturienten auf den Pausen. Der erste Tag auf der neuen Schule ist dann total aufregend: neue Lehrer, neue Mitschüler, neue Fächer. Also eigentlich eine schöne Zeit, die man mit Vorfreude erwarten kann.

Doch Lebensrealität in Berlin ist, dass die Zeit, bevor es dann endlich losgeht, wohl die stressigste des ganzen Schullebens ist. Das Problem ist dabei ganz einfach: Es gibt zu viele Kinder auf zu wenigen Plätzen an den Gymnasien. Da mein kleiner Bruder diese Zeit gerade hinter sich hat und jetzt Gott sei Dank eine Zusage seines Wunschgymnasiums hat, ist mir das Problem, zwar aus Drittperspektive, noch allgegenwärtig. Man kann die Problematik sehr übersichtlich auf drei Faktoren herunterbrechen, die die Wahl des Gymnasiums in Berlin zu einem Kampf machen.

Taktieren um Plätze

In Berlin-Pankow, wo das Problem wohl mit am schärfsten ist, gibt es etwa zehn Gymnasien, die, wenn man hier zu Grundschule gegangen ist, als weiterführende Schule infrage kommen. Zehn Schulen mit einer Kapazität von 100 bis 150 Schülern, die aber teilweise mit 200 bis teils 250 Anmeldungen überflutet werden.Ergebnis sind Unmengen an Ablehnungen und ein sehr hoher NC für die Annahme an der Wunschschule.

Diese Problematik geht nun schon seit über 10 Jahren so, die geburtenstarken Jahrgänge werden und wurden Eltern und so entsteht gerade in den familienfreundlichen Bezirken diese Problematik. Es sind einfach mehr Schüler als früher. Doch der Senat reagiert auf diese Entwicklung nicht, in 20 Jahren wurde in Pankow nur ein einziges neues Gymnasium gebaut und das hat bisher nicht einmal eine Oberstufe, das heißt sie geht nur von der 7. bis zur 10. Klasse.

Das Resultat ist, dass Schulen, die an Schülerzahlen von vor 20 Jahren angepasst sind, jetzt mit dem fast doppelten Andrang klarkommen müssen, ohne Hilfe von der Politik. Ein unangenehmer Nebeneffekt davon ist, dass auch eine Klassengröße von 35 Schüler inzwischen normal ist, die einen konstruktiven Unterricht eigentlich unmöglich macht. Da der Senat das Problem ignoriert, sind nicht nur die Schule, sondern ebenfalls die Schüler und die Eltern also auf sich alleine gestellt.

Dann geht ein monatelanges Taktieren los. Man überprüft die Anzahl der Ablehnungen an den einzelnen Schulen, spricht sich mit Freunden ab und versucht dann eine Schule zu erwischen, die frei ist. Neben dem Profil der Schule ist für viele also auch die Wahrscheinlichkeit angenommen zu werden Hauptkriterium für die Wahl.

Dabei entsteht ein verrückter Welleneffekt: Schulen, die im vorherigen Jahr viele Schüler ablehnen mussten, können im Jahr darauf alle annehmen, weil sich die Schüler aus Angst abgelehnt zu werden dort gar nicht beworben haben. Andersrum heißt das aber auch, dass die Schulen, die im Jahr davor fast alle annehmen konnten, im Jahr darauf enorm viel ablehnen müssen. Man muss daher eigentlich antizyklisch denken etc., alles in allem mündet die Situation immer im großen Stress und in Verzweiflung. So sollte der aufregende Sprung in das Gymnasium eigentlich nicht aussehen, leider lässt es sich kaum vermeiden.

1,0 Schnitt für lau 

1,3 ist doch ein super Schnitt, oder? Denkt man, aber wenn man ein gutes Gymnasium in Berlin ergattern will, hat man mit 1,3 nur mittelmäßige Karten und muss schon zittern. So ging es auch meinem kleinen Bruder, der einen 1,3 Schnitt erreichen konnte. Bewertung in der Schule ist unter Eltern und Schülern schon immer ein sehr heißes Thema mit viel Zündpotenzial. Besonders unfair, gerade wenn’s dann am Ende wirklich um den NC geht, ist die Ungleichheit in der Bewertung.

Seit Jahren bewerben sich in Berlin-Pankow nämlich nicht nur die Pankow-Kinder, sondern auch die Besten aus Neukölln, Friedrichshain oder Wedding. Die Schulen sind hier halt noch ein bisschen besser als dort.Problem ist dabei, dass die Notengebung in manchen Weddinger-Grundschulen völlig anders als die aus Pankow ist. Heißt also, dass manche Schüler aus Pankow für dieselbe Leistung in Deutsch oder Mathematik nur eine 2 bekommt, während der Schüler aus Wedding eine 1 bekommt.

So kommt es oft dazu, dass Schüler, die leistungsstärker als andere sind, durch strengere Benotung nur einen 1,5 Schnitt erreichen, und dann gegen 1,0-Schüler aus Wedding verlieren, dadurch ihr Wunschgymnasium nicht bekommen und auf eine andere Schule ausweichen müssen. Für diese Schüler ist die Absage dann besonders bitter.

Gerade im Corona-Lockdown geht die Entwicklung dahin, dass immer mehr Lehrer ein Auge zudrücken und dadurch inflationär viele sehr gute Einser-Schnitte zustande kommen. 1,3 ist daher immer noch sehr gut, aber kein Versprechen für ein Platz in einem guten Gymnasium.

Ein Beispiel für diese Entwicklung ist das Carl-von-Ossietzky Gymnasium in Pankow, die dieses Jahr nur 1,0 Schnitte annehmen konnten. Ein Mädchen mit 1,1 (!) wurde abgelehnt. Unvorstellbar.

Der Druck kommt plötzlich und knallhart

Die Grundschüler sind in dem ganzen Wahnsinn die Ärmsten. In den fünf Jahren bevor das Bewerben losgeht, kriegt man als Grundschüler in Berlin nämlich vorgepredigt, dass Leistung nicht so wichtig sei. In den ersten Klassen gibt es statt Noten Plus oder Doppel-Plus und jeder wird immer gelobt, egal wie seine Leistung war. Wenn die Notengebung dann beginnt, sind die Lehrer dazu angehalten immer sehr großzügig zu sein, etwas Schlechteres als eine 2 sieht man ganz selten.

In der fünften Klasse, das zweite Halbjahr der 5. Klasse ist das erste, das relevant für die Bewerbung ist, ist dann aber auf einmal alles anders. Die Kinder werden in das kalte Wasser geworfen. Auf einmal sind Noten das Wichtigste der Welt, jede Arbeit, jede Hausaufgabe zählt. Der Druck und der Wettbewerb, den sie aus den ersten Klassen überhaupt nicht kennen, steigen direkt von 0 auf 100.

Dieser plötzliche Wechsel gelingt nicht jedem Schüler, die, die es nicht schaffen den Schalter umzulegen, müssen sich am Ende hintenanstellen. Auf einmal werden die Grundschüler dann mit der harten Realität konfrontiert und merken, dass die Predigten, die sie die Jahre davor gehört haben, nicht mit der Wirklichkeit übereinstimmen.

Der Bewerbungsprozess in Berlin ist also der wahre Horror und kostet die Betroffenen viele Nerven. Damit werden jetzt auch die nächsten Jahrgänge kämpfen müssen, meine Familie ist jetzt nach meinem kleinen Bruder erstmal durch. Trotzdem bleibt es ein Zustand, den man so nicht hinnehmen kann. Aber beim Blick auf den Senat wird auch klar: Aussicht auf baldige Besserung gibt es nicht.


Anti-Rassismus-Seminar statt mündlicher Abiprüfung

Von Anna Graalfs | Seit einem Jahr gibt es an meiner Schule ein Anti-Rassismus-Seminar für die Oberstufe. Ich bin jetzt in der 10. Klasse und bis zu den Kurswahlen diesen Februar hatte ich noch nie davon gehört. Was macht man in diesem Seminar? Erst habe ich gedacht, dass vielleicht das Sklaverei-Dilemma im Amerikanischen Bürgerkrieg oder die Apartheid in den USA in den 1960ern behandelt werden. Sozusagen als kleiner Zusatz zum regulären Geschichtsunterricht, in dem zumindest bei mir solche Themen nicht vorgekommen sind. Doch nichts da: Das ANTI-Rassismus-Seminar soll ganz „gegenwarts-” und „realitätsbezogen” sein. Heutzutage reicht es eben nicht mehr, kein Rassist zu sein, man muss schon ANTI-Rassist sein. Ich habe mich mal informiert: Wirklich gelehrt werden soll in dem Kurs anscheinend nichts, der Fokus liegt auf dem Diskutieren. Wenn ich im Hinterkopf habe, dass die Lehrerin stets beim Sprechen gendert und die Schüler, die diesen Kurs besuchen, auf jeder möglichen Plattform ihre Pronomen in ihrer Bio stehen haben, kann ich mir schon denken, wie sehr diese „Diskussion” nach links verschoben sein wird.

Diskussionsthemen wie bei der Grünen Jugend

Das zeigt sich auch in den angekündigten Themen: Warum Dreadlocks-Tragen (oder andere, afrikanische Frisuren) von weißen Personen Cultural Appropriation ist, warum die Auswahl an Make-Up-Farben im Rossmann von Buxtehude strukturell rassistisch ist und warum es Pflaster eigentlich auch in dunkleren Nuancen geben sollte, statt nur in Hautfarbe. HALT, das darf man natürlich nicht sagen – ich korrigiere mich – es heißt neuerdings „Schweinchenfarbe” oder „lachsfarben”. All diese Themen werden im Seminarkurs erarbeitet und dabei wird fleißig recherchiert. Ich möchte nicht zu sehr von Vorurteilen geprägt sein, aber ich kann mir gut vorstellen, dass die Lehrerin, nennen wir sie hier einfach mal Frau Korrekt, nicht einmal Fragen stellen wird wie: „Denken Sie die geringe Make-Up Farbenauswahl kann man irgendwo als rassistisch bezeichnen?” Frau Korrekts Fragen werden wohl eher so klingen: „Können Sie sich denn vorstellen, warum es strukturell rassistisch ist, dass es hier nur so eine geringe Make-Up Farbenauswahl gibt?” Danach folgt eine spannende Debatte, bei dem der Meinungskorridor mal wieder so eng wie eine Flugzeugtoilette ist. Fertige Recherchearbeiten werden gegen Ende des Schuljahres dann in den Schulgängen ausgestellt, damit auch 5. Klässler ihren moralischen Horizont erweitern können.

Mit dem Kurs lässt sich eine Abiprüfung ersetzen

Doch jetzt kommt das allerbeste: abgeschlossene Seminarkurse können dir eine der zwei mündlichen Abiturprüfungen in Baden-Württemberg ersetzen! Das ist wohl auch der Grund, warum sich so viele für das Anti-Rassismus-Gedöns eingeschrieben haben. Ich habe mal gezählt: etwas mehr als ein Viertel meiner Stufe möchte sich eine Prüfung sparen, ähh Anti-Rassist werden. Dabei gibt es sogar noch einen zweiten Kurs, mit dem man eine mündliche Abiprüfung ersetzen kann. Das Problem ist nur: Wer auch immer für diesen Kurs zuständig ist, er hat sich wohl mit Absicht das langweiligste Thema der Schulgeschichte ausgesucht: Numismatik, die Wissenschaft von Münzen. Sogar ich, als History-Lover und Geschichts-LK-Wähler, könnte bei diesem Unterricht nur mit mehreren Kaffees intus wachbleiben. Der Kurs kommt jetzt wahrscheinlich mit knapp 9 Schülern doch zustande, ein kleiner Trost für den armen Lehrer, dessen Philosophiekurs von satten drei Leuten gewählt wurde. Aber mit dem Anti-Rassismus-Seminar scheint alles glatt zu laufen!

Eine 40-seitige Ausarbeitung ist Pflicht

Einen Haken hat die Sache allerdings: Die drei Stunden Unterricht fallen mit großer Sicherheit immer in die Abendstunden, wenn man schon fix und fertig von seinem Tag ist. Außerdem lassen sich das Deutsch- und Matheabi nicht mit dem Seminar ersetzen. So weit sind wir dann doch noch nicht. Und der noch größere Haken: Der Seminarkurs nimmt zwar nur die elfte Klasse in Anspruch, aber er endet mit einer 40-seitigen individuellen Ausarbeitung über ein selbstgewähltes Rassismus-Thema. Die wahre Hölle für alle Deutsch-Hasser! Auf der anderen Seite kann man sich ja einfach ein bisschen über den Begriff „Schwarzer” oder „Dunkelhäutiger” aufregen… Frau Korrekt wird man damit sicherlich beeindrucken können. Schwänzen geht auch nicht: Die Fehlstunden werden streng gezählt. Es kann ja nicht sein, dass dir das mündliche Abi geschenkt wird, wenn du bei den Seminaren nicht einmal anwesend warst. Und gut, abgesehen davon, ein bisschen mehr linke Meinungsmache im Unterricht schadet nie…

Dennoch ist insgesamt ziemlich klar, warum das Anti-Rassismus-Seminar so viel Erfolg hat. Für alle Blitzmerker: am Interesse meiner Mitschüler an dem Thema liegt es nicht! Aber wenn du ohnehin schon ein ach so rebellischer Teenager bist, der sich sehr gerne täglich auf Woke-TikTok begibt, umso besser! In Zukunft kannst du deine Social-Justice-Warrior-Aktivitäten auch im Unterricht vollbringen.


Dosensuppen und Sex. Andy Warhol in Münster

Von Jonas Kürsch | Starkult, Dosensuppen und Sex sind nur einige der unzähligen Kernthemen, die das bis heute hochumstrittene Lebenswerk des Malers Andy Warhol prägen. Mit seinen in Massenproduktion gefertigten Druckkunstwerken und der Verwendung von sich immer wiederholenden Motiven verursachte der Urvater der Pop-Art-Bewegung unzählige Skandale. Die neue Warhol-Retrospektive des Kunstmuseums Pablo Picasso in Münster versucht die über vier Dekaden hinweggehende Schaffensphase des Künstlers im Rahmen von etwa 77 ausgewählten Werken zusammenzufassen – und vergisst dabei einige seiner kontroversesten Werke.

Wer war Andy Warhol?

Andrew Warhola (Warhols eigentlicher Geburtsname)  wird 1928 in der amerikanischen Arbeiterstadt Pittsburgh geboren. Als Kind zweier osteuropäischer Einwanderer litt er stark unter der Verarmung seiner Familie. Das Einkommen der Familie war so gering, dass seine Mutter ihm an den meisten Tagen nur mit Suppen aus warmen Wasser und Ketchup ernähren konnte. Der Verzehr einer einfachen Dosensuppe soll mehreren Quellen zufolge in der Familie Warhola schon als besonderes Festmahl behandelt worden sein. Zudem trieb ihn seine selbstempfundene Hässlichkeit bereits im jungen Alter in schwere Depressionen. Auch sein introvertiertes und schüchternes Auftreten brachte ihm schon zu Schulzeiten den Ruf eines Außenseiters und Einzelgängers ein.

Nach einem Studium der Gebrauchsgrafik zog Warhol nach New York City, dem Mittelpunkt der amerikanischen Kunst- und Literaturszene. Zu Beginn arbeitete er als Dekorateur für Schaufenster und Zeichner einfacher Werbekarikaturen, zumeist für Schuhprodukte. In diesem Zusammenhang machte Warhol auch erstmals von seiner charakteristischen Siebdrucktechnik Gebrauch, da er seine Motive schon zu dieser Zeit für das Werbematerial seiner Auftraggeber vervielfältigen konnte. Letztlich verband er diese Technik mit seiner Liebe für die kapitalistische, westliche Konsumgesellschaft der USA und begann zunächst damit die Zeichentrick-Ikonen seiner Kindheit auf die Leinwand zu bringen (u.a. Superman, Micky Maus und Pop-Eye). Die Bilder erregten jedoch kaum Aufmerksamkeit, da Warhols Pop-Art-Konkurrent Roy Lichtenstein mit seinen Malereien diese Motive schon weitaus früher in sein Werk übernommen und daher für die Kunstelite uninteressant gemacht hatte. Warhol stellte jedoch schnell fest, dass seine Liebe zum amerikanischen Konsum sich nicht nur über Comics darstellen ließ, sondern über wortwörtlich alles, was die nationale Kultur zu bieten hatte: Coca-Cola-Flaschen, Jane Fonda, Campbell’s Dosensuppen, den (späteren) Präsidenten Richard Nixon, Elvis Presley, Seifenprodukte, Marilyn Monroe, die Ermordung John F. Kennedy’s, Flugzeugunglücke, Liz Taylor und vieles mehr. 

Mit seiner Begeisterung für die Effizienz der industriellen Massenproduktion und den neuaufkeimenden Hollywood-Starkult der 1950er Jahre traf er den Zahn der Zeit. Besonders die dutzenden Siebdrucke der Dosensuppen trieben große Menschenmengen in die New Yorker Kunstgalerien und machten ihn schnell zu einem der namenhaftesten Künstler des Landes. 

Marilyn Monroe und Mao in Münster

Die Ausstellung bemüht sich darum, dem Besucher eine möglichst große Bandbreite von verschiedenen Warhol-Projekten aus unterschiedlichen Lebensabschnitten des Künstlers zu bieten. So stellen die berühmten Siebdrucke von amerikanischen Starikonen wie Marilyn Monroe, Jane Fonda und Liza Minelli zwar den offensichtlichen Höhepunkt der Retrospektive dar, doch mit den Porträts von Joseph Beuys, Mao Zedong und Johann Wolfgang von Goethe werden auch weniger bekannte Motive des Künstlers wirkungsstark in Szene gesetzt. Allerdings wird mit dem Fokus auf Warhols Porträts ein – wie ich finde – grobschlächtiger Fehler gemacht: denn Warhol war mehr als nur ein einfacher Porträtist. Zwar zeigt die Ausstellung auch eine Reihe seiner nicht-menschlichen Motive der Konsumgesellschaft, wie die berühmte Warhol-Kuh, die Suppendosen von Campbell’s und eine seine Katzenmalereien aus den 50ern. Nur gehen diese bedeutsamen Motive in der Masse leider ein wenig unter. 

Besonders verwirrend war für mich die Erkenntnis, dass viele bahnbrechende Kunstserien aus seiner Factory-Zeit überhaupt nicht (oder nur minimal) berücksichtigt worden sind. Seine skandalöse Reihe mit dem Namen “Death and Disaster“, in welcher er blutige Unfälle und andere grausame Tragödien aus der amerikanischen Nachkriegszeit verarbeitet, wurde beispielsweise zu sehr auf politisch motivierte Tragödien (z. B. die Ermordung Kennedy’s oder Rassenunruhen) reduziert. Das in der Serie zentralliegende Thema der (fast schon kommerziellen) Alltäglichkeit des Todes, wie es im Rahmen von fatalen Autounfällen oder Flugzeugabstürzen der Fall ist, wird durch die ausgewählten Werke nicht wirklich vermittelt. Die willkürlichsten und katastrophalsten Momente aus jener Serie (u.a. die Werke “129 Die in Jet!“ Oder “Car Crash“) werden vollständig ausgelassen. Gleiches gilt für seine Darstellung schwerkrimineller Verbrecher in der Serie “Thirteen Most Wanted Men“, die 1964 von amerikanischen Behörden sogar zensiert wurde. 

Wo sind Warhols Filme, Plastiken und Musik?

Ich persönlich war auch darüber enttäuscht, dass sich die Retrospektive ausschließlich auf Warhols Malereien fokussiert, die zwar einen zentralen Bestandteil seiner Arbeit ausmachen, aber definitiv nicht alles sind. Die ohne Kontext gezeigten Stummfilme von prominenten Persönlichkeiten, die mehrere Minuten lang regungslos vor der Kameralinse verharren, vermitteln ein völlig falsches Bild von Warhols filmkünstlerischen Schaffen und werden seinem provokanten Stil nicht im geringsten gerecht. Seine Kultfilme Chelsea Girls (ein Film über das Leben der bizarren Einwohner des New Yorker Chelsea Hotels) und Blue Movie (einer der einflussreichsten, pornografischen Filme aller Zeiten) wurden leider nur in einer Randnotiz erwähnt, ebenso seine bahnbrechenden Installationen Brillo-Boxes und Silver Clouds. 

Auch sein Wirken als Musikmanager und Performance Künstler wurde von den Kuratoren weitestgehend ausgeklammert. Die von ihm gemanagten “Superstars“ (z.B. die Band The Velvet Underground, das deutsche Supermodel Nico, die Schauspielerin Edie Sedgwick und viele weitere) spielten zwar in den wenigen gezeigten Filmen die Hauptrollen, ihre Bedeutsamkeit im Rahmen seines künstlerischen Weltbildes wurde dadurch allerdings nicht wirklich klar: denn laut Warhol konnte jeder ein Star sein, der sich und seine Talente in den Medien richtig zu vermarkten wusste. Außerdem hätten Musik, Plastiken und abwechslungsreichere Filme der Ausstellung gut getan, da sie Warhols Schaffen als multimedialen Künstler besser hervorgehoben hätten. 

Solide Ausstellung mit Verbesserungsbedarf

Warhol wusste den Kontrast von Schönheit und Hässlichkeit zu nutzen wie kaum ein anderer. In seinen Filmen wird diese Balance auch durch unorthodoxe Mittel und möglicherweise obszöne Darstellungen verdeutlicht, die dennoch einen berechtigten Stellenwert im Lebenswerk von Warhol besitzen. Die in Münster ausgestellten Werke bieten einen soliden Grundeinblick in das Schaffen von Andy Warhol, doch bei der Auswahl der Exponate fehlt es in vielerlei Hinsicht an Tiefe. Wer einen ersten Einblick in die Arbeit Warhols erhalten möchte, der wird bei dieser Ausstellung mit Sicherheit auf seine Kosten kommen. Wer allerdings Warhol gerne von seiner unkonventionelleren Seite kennenlernen würde, könnte durch die Exposition ein wenig enttäuscht werden.

Die Ausstellung „Andy Warhol“ ist bis zum 18. September 2022 im Kunstmuseum Pablo Picasso in Münster zu sehen. 

„Kunst ist das, womit man durchkommen kann.“

– Andy Warhol

 

Lasse Olsson / Pressens bild, Public domain, via Wikimedia Commons