Archiv: Mai 28, 2022

40.000 Seiten Wahlprotokolle und Ärger mit der Präsidentin des Berliner Verfassungsgerichts

Von Larissa Fußer | Ich kam direkt von der Uni mit dem Auto angedüst. Während ich eine Baustelle nach der anderen slalomartig durchfuhr, ging ich in Gedanken die Anweisungen durch, die ich gerade noch von meinen Apollo-Kollegen bekommen hatte: „Du musst den Hintereingang nehmen“, hatten sie gesagt. „Dann kommst du in eine Schleuse, in der sie dich einmal durchleuchten. Sie werden dich fragen, was du hier willst. Dann sagst du deinen Namen und dass du zur Sichtung der Wahlunterlagen der Berlin-Wahl angemeldet bist“. Ich parkte mein Auto und spürte mein Herz schneller schlagen. Vor mir stand das riesige Gebäude des Berliner Verfassungsgerichts. Unwillkürlich guckte ich an mir herunter – ob die mich mit einem kurzen Kleid überhaupt hereinlassen? Ach was, bei „Drei Engel für Charlie“ kommen die drei Agentinnen ja auch mit hautengen Outfits überall rein, dachte ich mir und schmunzelte. Mir kam das alles surreal vor. Wir zehn Apollos spazieren jetzt also einfach ins Verfassungsgericht hinein und gucken uns als erste Menschen überhaupt die Unterlagen zur verpfuschten Berlin-Wahl an. Das können wir mal unseren Kindern erzählen. 

Als ich den Hintereingang gefunden hatte, richtete ich mich auf und atmete tief ein. Mit ernster Miene schritt ich durch die Tür, stellte mich in die angekündigte Schleuse und stand plötzlich vor drei Männern vom Gorilla-Typ, die mich streng beäugten. „Mein Name ist Larissa Fußer, ich bin angemeldet“, sagte ich und versuche dabei möglichst gelassen zu wirken. Der Obergorilla baute sich vor mir auf, kniff die Augen zusammen und murrte schließlich: „Madame, hier gilt immer noch Maskenpflicht“. Mir fiel ein Stein vom Herzen. „Ach so! Na das wusste ich ja nicht, tut mir sehr leid“, säuselte ich und kramte eine fusslige OP-Maske aus meiner Tasche. Sobald ich sie aufgesetzt hatte, war plötzlich Frieden und ich durfte passieren. 

Die Tür führte mich in eine riesige Eingangshalle, die das Setting für sämtliche Gerichtsserien hätte sein können. Über mehrere Etagen erstreckte sich ein symmetrisch angelegtes Arrangement aus Treppen und Balkonen aus weißem Stein. Hier und da waren Säulen angebracht, die Lampen waren von Stuck umsäumt. Es war kühl und leise – der Geruch erinnerte mich an Bibliothek. Inmitten der großen Aufgangstreppe stand mein Apollo-Kollege Jerome. Er grüßte mich und lief schnellen Schrittes los – es begann eine Labyrinthwanderung durch mehrere Stockwerke, Nebengänge und Torbögen. Ich kam kaum hinterher, so schnell wand sich Jerome durch die verzweigten Flure. Schließlich standen wir von einer schweren Holztür im Hintergang des Hinterflügels und mein Kollege drückte die Klinke mit einer Leichtigkeit, als würde er sein Wohnzimmerbetreten. Kein Wunder – Jerome steckte hier schon seit Tagen seine Nase in die Akten. Hinter der Tür verbarg sich, so schien mir, die letzte Hürde vor dem gesuchten goldenen Zimmer. Zwei Sekretärinnen blickten mich hinter FFP2-Masken skeptisch an – und schwiegen. „Hallo, ich bin Larissa Fußer, ich bin angemeldet, um die Wahlunterlagen einzusehen“, sagte ich wieder bemüht lässig. „Ausweis bitte“, murrte eine der Damen hinter dem Schreibtisch. Ich zeigte meinen Perso, die Sekretärin hakte auf einem Zettel etwas ab und zeigte dann tatsächlich auf eine offene Tür links im Zimmer, aus der bereits bekannte Stimmen zu hören waren. 

Und da saßen sie dann, meine Apollo-Kollegen. An großen Tischen, die im Kreis angeordnet waren. Vor Ihnen kistenweise Aktenordner und einzelne Wahlprotokolle. Die Fenster waren aufgerissen, von draußen schien die Maisonne herein. Doch drinnen herrschte aufgeregte Arbeitsatmosphäre, ich wurde kurz gegrüßt, doch dann vertieften sich alle wieder in ihre Akten. Max schritt derweil durch den Raum und telefonierte im bestimmten Journalisten-Tonfall. Ich ging zu Pauline, die gerade angestrengt einen Batzen Wahlprotokolle aus einer Bierkiste heraus hievte. „Das sind die Dokumente aus Kreuzberg!“, stöhnte sie und lachte. Natürlich war Kreuzberg der einzige Bezirk, der es offenbar nicht für nötig gehalten hatte, vielleicht lieber einen Umzugskarton statt einen Alkoholkiste für die Unterlagen zu verwenden. Aktenordner waren wohl auch zu bürgerlich – die Protokolle wurden einfach lose in die Kiste geschmissen. Vermutlich hatten die Wahlhelfer die Hoffnung gehabt, sie nie nie nie wieder sehen zu müssen. Aufgebracht und ein bisschen aufgeregt erzählte Pauline mir: „Die haben echt fast überall die falschen Stimmzettel gehabt! Auch bei uns um die Ecke in den Wahllokalen haben sie einfach Stimmzettel aus Charlottenburg an die Leute verteilt und sie damit wählen lassen, bis der Fehler aufgefallen ist. Dann wurden alle bisher abgegeben Stimmen für ungültig erklärt.“ Pauline und ich hatten beide in Kreuzberg gewählt. „Bist du dir sicher, dass du den richtigen Stimmzettel hattest?“, fragte sie mich. „Ich glaube schon“, sagte ich – war mir bei genauer Überlegung aber gar nicht so sicher. Immerhin hatte ich vier Zettel auf einmal in meiner kleinen Wahlkabine vor mir ausgebreitet und nicht groß überlegt, wen oder was ich wählen sollte.

Elisa und Jerome waren derweil konzentriert dabei, die Dokumente anderer Bezirke zu durchforsten. Akribisch inspizierten und fotografierten die beiden ein Blatt nach dem anderen. Dabei sahen sie aus, als hätten sie nie einen anderen Job gemacht. Elisa scherzte: „Das ist ja wie in einer großen Anwaltskanzlei hier. Und wir sind die schicken Anwaltsgehilfen mit Anzug und Kostüm!“. Doch leider hielt die gute Stimmung nicht lange an. Nach ein paar Stunden platze plötzlich eine Frau herein, die sich als wissenschaftliche Mitarbeiterin Präsidentin des Berliner Verfassungsgerichtshofs, Ludgera Selting, vorstellte. Wutentbrannt schnauzte sie unser kleines Team an, dass die Präsidentin mitbekomme habe, dass wir die Vorgänge am Wahltag aus den Akten bei TE öffentlich machen, und nun „sehr irritiert“ sei. Man prüfe sogar rechtliche Schritte, wurde uns entgegen geknallt. Für die verbleibende Zeit durften wir unsere freiwillige Recherchearbeit also unter den Augen von mehreren Mitarbeitern des Gerichts weiterführen, die jede unserer Bewegungen akribisch überwachten. Als krönender Abschluss der Einschüchterung kam dann die Präsidentin selbst noch einmal bei uns vorbei und fuhr die gesammelte Mannschaft an, was man sich hier erlaube, und dass das ja „unglaubliche Vorfälle“ seien. Tja, liebe Präsidentin, diese „Vorfälle“ nennt man Journalismus.


Was wir aus Heldengeschichten lernen können

Von Simon Ben Schumann | Was haben Jesus Christus, Harry Potter und Donald Trump gemeinsam? Klar, sie alle gehören zum cis-male Patriarchat, welches unseren Planeten nach wie vor in Angst und Schrecken versetzt. Aber außerdem sind sie alle die Helden ihrer geistigen Welten – oder eben Antihelden, je nach Standpunkt.

Ob im Israel des 1. Jahrhunderts, in JK Rowlings „Wizarding World“ oder aber in der US-Politik: Sagen, Legenden und Geschichten über (vermeintliche) Helden prägen die Menschheit seit Anbeginn. Es sind nie bloße Ideologien, sondern stets Individuen, die die Welt wirklich prägen. Von ihren Anhängern werden sie verehrt, von den Gegnern angefeindet – es scheint ein Teil der menschlichen DNA zu sein, zu Einzelpersonen aufzusehen. Das kann natürlich in der Hölle auf Erden enden, beherrscht von König Herodes, Lord Voldemort oder Karl Lauterbach. Es bleibt dennoch Realität.

Gilgamesch: Der erste Held der Menschheit?

Der Anbeginn von komplexen menschlichen Gesellschaften wird, aufgrund der erhaltenen Zeugnisse, von modernen Archäologen im antiken Sumer verortet. Die alten Sumerer sind die erste bekannte Zivilisation, welche eine komplexe Kultur auf die Beine stellte. Es gab Ackerbau, Viehzucht, Mathematik, Schrift, Militär und so weiter.

Und, besonders spannend: Die ersten niedergeschriebenen Geschichten der Menschheit sind uns von den Sumerern erhalten. Und selbst hier begegnet uns ein immer wiederkehrendes Schema: Protagonist, Antagonist und mehrere Wegbegleiter. Der bekannteste ist Gottkönig Gilgamesch, der als egoistischer Herrscher um 3.000 v. Chr. seine Stadt terrorisiert. Daher geben ihm die Götter einen Freund namens Enkidu zur Seite, was die Brutalität des Königs mildert und zu einem weisen Herrscher heranwachsen lässt. Gemeinsam stellen sich die beiden vielen abenteuerlichen Kämpfen und begeben sich auf die Suche nach ewigem Leben.

Natürlich war das Patriarchat damals noch nicht global verbreitet, so dass es mal ausnahmsweise weibliche Hauptcharaktere gibt. Ein Beispiel ist hier das Buch Ester im Alten Testament. Es erzählt, wie Heldin Ester um 500 v. Chr. nach einem gewonnen „Beauty-Contest“ mit dem persischen König verheiratet wird. Damit ist sie zwar „First Lady“, dass sie Jüdin ist verschweigt sie aber zum Glück. Denn blöderweise ist ein enger Berater des Königs extremer Antisemit und plant mal eben, alle Juden in Persien zu ermorden. Fast kommt es zum Völkermord. Doch da es in der Ehe einigermaßen läuft, kann Ester den König bewegen, sich von seinem Berater loszusagen – der Genozid bleibt aus. Die uralte Geschichte wurde mehrfach verfilmt, unser anderem 2006 in „One Night with the King“.

Die Heldenreise als literarisches Motiv

Aus den Heldengeschichten der Antike, aber auch den modernen Geschichten wie Harry Potter, Star Wars oder Avengers hat sich in der Literaturwissenschaft ein schematischer Aufbau der Heldenreise ergeben. Dieser wird auch „Monomythos“ genannt, da stets eine Einzelperson im Mittelpunkt steht und verschiedene Phasen an Charakterentwicklung durchläuft.

Phase 1 hierbei: Der oder die Protagonistin befindet sich in einer gewöhnlichen Alltagssituation und genießt mehr oder weniger ihr Leben. Die Dinge gehen einfach ihren Gang. Im zweiten Schritt offenbart sich durch einen „Herold“ eine gewisse Mission oder Abenteuer, welches zu beschreiten ist. In der bekannten Harry Potter Story ist das Hagrid, der die Tür kaputtschlägt – nach dem Motto: „Übrigens, du kannst zaubern und so.“ Doch dann wird es ernst, die Antagonisten betreten die Bühne. Jetzt trifft der Protagonist auf Freunde und Mentoren, die ihn unterstützen. Mehrere Prüfungen sind zu absolvieren, die schwerste dabei: Eine Konfrontation mit dem Tod selbst. Diese kann verschieden ausgehen, meistens aber überlebt der Hauptcharakter knapp und kehrt mit den gewonnenen Erkenntnissen in einen anderen, besseren Alltag als zuvor zurück. Die Welt ist gerettet, da wird man sich ja wohl mal entspannen dürfen.

Von Helden, Antihelden und Alltagshelden

Die „Heldenreise“ ist der Stoff, aus dem die Träume sind. Sie findet sich so und in abgewandelter Form in beinahe jeder fiktiven Geschichte. Je besser sie umgesetzt ist, desto erfolgreicher ist z. B. eine Filmreihe. Die populären Marvel Filme, welche momentan die Unterhaltungsbrache dominieren, sind ein Beispiel dafür. Doch können wir daraus etwas für den Alltag lernen?

Ich denke: Ja! Denn bei der charakterlichen Entwicklung eines Individuums, das die Welt retten muss, sind wir als nicht-fiktive Menschen auf keinen Fall außen vor. Nicht umsonst gibt es in jeder geistigen Tradition Äquivalente zum literarischen Epos. Seien es beispielsweise die Gradwanderung in der Freimaurerei, der „echte Helden“ wie George Washington entstammen oder der christliche Erlösungsweg durch die Spendung verschiedener Sakramente: Wir alle sind gefordert.

Natürlich muss und kann nicht jeder die ganze Welt retten. Dafür fehlt uns ja bei bestem Willen auch die Superkraft. Aber reicht es nicht schon, wenn wir da aufstehen, wo wir es können? Wenn beim Brunch mit Bekannten gegen nicht geimpfte Stimmung gemacht wird, kann jeder etwas sagen und dazwischenfunken. Unseren Kindern können wir die Werte vermitteln, welche wir in einer manchmal ziemlich dunklen Welt vermissen – und diese so etwas bereichern.

Gegen Lord Voldemort in den Endkampf ziehen müssen die meisten von uns nur beim Gaming. Aber durch eine an guten Vorbildern orientierte Weiterentwicklung unseres Selbst können wir vielleicht zu den wirklich wichtigen Helden werden – den Helden des Alltags.


Nach der Pandemie die Party? Die Feierwut der jungen Leute zeigt nur ihre innere Leere

Von Jonas Kürsch | Die staatlichen Zwangsmaßnahmen zur Bekämpfung der Coronapandemie haben tiefe und deutlich sichtbare Narben hinterlassen. Die Lockdowns, Maskenregelungen und Impfdrangsalierungen haben das Denken, Handeln und Leben vieler Menschen nachhaltig verändert. Vor allem auch bei jungen Menschen, die teilweise auf engem Raum gefangen und von der Außenwelt für mehrere Monate oder gar Jahre isoliert auf das Ende der Pandemie warten mussten, haben die Maßnahmen gefährliche Auswirkungen gezeigt.

Mit Wiedereröffnung der Nachtclubs, Bars, Kneipen und Diskotheken entdeckten viele Jugendliche nun das Nachtleben wieder für sich. Der Partyhype scheint nach Corona so stark wie nie zuvor ausgeprägt zu sein. Es ist allerdings nicht ungewöhnlich, dass (gerade junge) Menschen sich in Zeiten größter Schwermut in die Feierlaune stürzen. Schon die Weimarer Republik war für ihr ausschweifendes Nachtleben als krassem Gegensatz zu der in den 1910er Jahren noch vorherrschenden Zerstörungswut des ersten Weltkrieges bekannt.

Das Nachkriegsleben der Weimarer Republik

Mit dem Ende des Ersten Weltkrieges im Jahr 1918 endete auch das bis dahin grauenhafteste Gemetzel der Weltgeschichte, bei dem mehrere Millionen Menschen ihr Leben und den über Dekaden hinweg aufgebauten Wohlstand verloren hatten. Die unmittelbare Zeit danach war nicht viel ruhiger. Besonders die frühen Jahre der neugegründeten Weimarer Republik waren von politischer Instabilität, Hyperinflation und einer Reihe bürgerkriegsähnlicher Konflikte geprägt. Putsch- und Umsturzversuche der zentristischen Regierung in Berlin durch Kommunisten und Royalisten waren an der Tagesordnung, ebenso die regelmäßige Ausübung politisch motivierter Attentate, wie beispielsweise die Ermordung von Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg zeigt. 

Erst ab etwa 1923 würde das Land für eine Weile zur Ruhe kommen und auch der Wohlstand in Deutschland mit der Einführung einer Währungsreform zumindest zeitweise zurückkehren. Die (zumindest für manche Teile der Bevölkerung) florierende Wohlstandsentwicklung im Land löste eine zügellose Feierwut aus. Vor allem das Vaudeville-Theater der 1890er Jahre, das Cabaret und Burlesque-Vorstellungen entfachten große Begeisterung. Schauspielerinnen und Sängerinnen wie Marlene Dietrich oder Lilian Harvey konnten mit ihrer liebreizenden Art die Gemüter der Bevölkerung im Sturm erobern. Historiker sind sich weitestgehend einig, dass die Deutschen, denen Inflation, Kriegsverderben und die allumgebende Unsicherheit der zurückliegenden Jahre noch tief im Mark steckten, nun mit der Eroberung des Nachtlebens und der Vergnügungssucht einen Weg gefunden hatten, um dem Elend ihrer Vergangenheit zumindest für den Augenblick zu entkommen. 

Das Leben in der Post-Covid Ära

Auch im Deutschland des 21. Jahrhunderts ist dieser Eskapismus deutlich zu erkennen. Die Coronapolitik hat neben der emotionalen Vereinsamung der Menschen auch zu wirtschaftlichen und ideologischen Umbrüchen in Deutschland geführt, die vielen Jugendlichen Angst vor den Konsequenzen der politischen und gesellschaftlichen Instabilität machen. Hinzu kommt ein surreal anmutender Krieg in der Ukraine, dessen langfristige Auswirkungen auf unser Leben noch vollkommen unbekannt sind. Exzessive Partys sind daher bei vielen eher eine Flucht aus dem niederschlagenden Alltag als ein Ausdruck von Lebensbejahung.

Die über Jahrzehnte hinweg in Schulen anerzogene linksliberale Weltanschauung der meisten Jugendlichen ist in wenigen Jahren an der kalten Realität zerschellt. Ob wir in diesem Zusammenhang nun vom Glauben an den „ewigen Frieden“, die Unverletzbarkeit des Grundgesetztes, der in ihm festgehaltenen Grundrechte oder von der Mär über die unabhängigen demokratischen Institutionen unsere Landes sprechen: der Traum vom „Deutschland, in dem wir gut und gerne leben“ ist für viele zerplatzt. Das zu akzeptieren und nach sinnvollen Lösungen zu suchen, fällt vielen schwer.

Diese ideologische Leere, zusammen mit der Einsamkeit und Isolation der Pandemie, hat bei einigen jungen Leuten zu geistesgesundheitlichen Problemen geführt. Immer mehr Jugendliche sind schon jetzt auf medikamentöse Schlafmittel angewiesen – hinzu kommt eine sichtbar ansteigende Zahl von jüngeren Konsumenten diverser Pharmazeutika zur Bekämpfung von Depressionen. Außerdem war schon zu Coronazeiten immer wieder von überfüllten Kinder- und Jugendstationen in psychologischen Gesundheitseinrichtungen zu lesen. Der Wunsch, sich auf auf Partys mit Alkohol und Ballermann-Gegröle abzuschießen, ist nur ein weiteres Symptom dieser Entwicklungen und sollte nicht unterschätzt werden.


„Die Welt nach Corona wird die gleiche Welt sein, nur ein wenig schlimmer.“

-Michel Houellebecq 


Orgien, Lebenslust und wilde Gelage – aber nur für die Kamera

Von Pauline Schwarz | Es ist so weit. Die Corona-Maßnahmen sind weg. Jetzt heißt es: endlich raus auf die Piste, in die Bars, Restaurants und Clubs. Also: Halleluja, wir können wieder leben! Junge Leute können wieder junge Leute sein, das Leben genießen, tanzen, feiern, trinken und lachen. Und das tun sie ausgiebig – zumindest für Social-Media. Heutzutage versucht man sich bei Instagram, TikTok, SnapChat und Co nämlich gegenseitig zu überbieten, wer am meisten Spaß oder den geileren Urlaub hat und wer die fetteste Party macht. Es geht um den perfekten Hintergrund, coole Klamotten, kurze Röckchen, Bikini-Posen, fesche Tanz-Moves und Champagner-Sausen. Das Leben ist schön – doch dann geht die Kamera aus. Plötzlich lacht keiner mehr. Jeder sitzt an seinem Handy, man hat sich nichts mehr zu sagen.

 

Das Social-Media-Universum war schon immer ein Verein von Selbstdarstellern und Realitätsaufhübschern – deshalb habe ich irgendwann selbst Facebook gelöscht. Ich war noch nie besonders fotobegeistert, hatte keine Influencer-Ambitionen und interessierte mich auch nicht dafür, was irgendein entfernter Bekannter gestern wieder Tolles gegessen hat – geschweige denn, welchen neuen kreativen Fitness-Trick er sich ausgedacht hat. So à la „ich mache Liegestütze mit meinem Hund auf dem Rücken und balanciere dabei einen Grünkohl-Smoothie auf meinem Kopf. Ich bin die Lässigkeit in Person“. Die Heuchelei ist also nichts Neues und bis zu einem gewissen Grad ist das ja auch noch okay, denn: Klar, jeder will ein bisschen cooler wirken als er ist – sei es auf Social-Media oder der Straße, wenn gerade ein interessanter Typ oder ein hübsches Mädel vorbeiläuft. Mit der Post-Corona-Lebensglücks-Darstellung haben wir aber eine neue Eskalationsstufe auf der Seht-mich-alle-an-ich-bin-ach-so-glücklich-und-toll-Skala erreicht. Denn so richtig glücklich scheinen die meisten Leute nicht – im Gegenteil.

 

Meine Feldstudie im Urlaub

Während meines letzten Urlaubs konnte ich eine kleine Feldstudie an jungen Leuten aus aller Welt durchführen – der Social-Media-Virus ist nämlich wirklich eine nationenüberschreitende Seuche. Und das Ergebnis war heftig. Ich hatte den Eindruck, dass kaum einer mehr ausgeht, um jemanden kennenzulernen, sich ein bisschen was zu trauen und auszuprobieren oder schlicht, um mit seinen Freunden einen schönen Abend zu verbringen. Eigentlich wirkten die meisten jungen Leute verdammt depressiv – sie brauchten immer erst so drei bis vier in einem Affenzahn runtergekippte Drinks, um überhaupt ein paar Worte miteinander zu wechseln. War der Kontakt-Pegel erreicht, startete man langsam, aber sicher, seinen Kampf an der Instagramm-Front. Dafür muss als erstes irgendein cooles Gimmick her, z. B. eine Shisha. Hat man seine Requisiten beisammen, wird ein Video nach dem anderen abgedreht, in dem man lässig den Rauch in die Kamera bläst, während man seine Hüften im Takt der Bässe kreisen lässt und ab und an nochmal den Arm als Party-Statement nach oben schwingt.

 

Man muss sich das so vorstellen: Da sitzen -zum Beispiel- zwei irische Jungs Anfang zwanzig mit einem blonden Mädel mit ausladendem Dekolleté und mehr als nur kurzen Röckchen am Tisch und trotzdem schenkt keiner der kurvigen Blondine Beachtung. Sie selbst beschäftigt sich auch lieber mit ihrem Handy, als mit einem der Kerle. Jeder macht für sich ein Video oder gleich einen Live-Call mit irgendeinem Freund in der Heimat, dem man zeigen will, wie neidisch er auf den Urlaub des anderen sein sollte. Das Gegenüber wird höchstens als weitere Requisite in das SnapChat-Video eingebaut – und hat damit, allen Ernstes, nicht mehr Relevanz als die Shisha. Zwischen den Videos wird kein Wort gesprochen. Es wird auch nicht mehr getanzt oder auch nur mit dem Kopf zur Musik gewippt. Schaut man sich die Gesichter der aufgestylten Jungs und Mädels genauer an, sehen sie eigentlich ziemlich traurig und fertig aus. Für sie scheint die Lösung ihrer Depression: jede Menge Alkohol und eine kräftige Portion Selbstdarstellung.

 

Ich hoffe, ihre Mütter sind zu alt, um das Internet zu benutzen

Ein anderes Musterbeispiel kam aus Italien: Ein Kerl Anfang dreißig betrat die Bar, in der ich gerade die ulkigen Iren beobachtete, mit einem Kamera-T-Shirt – ja richtig gehört. In das T-Shirt des Typen war eine Kamera integriert. Und das war nicht nur ihm, sondern auch seinen zwei torkelnden Komparsinnen, sehr bewusst und wichtig. Die Frauen konnten keine drei Meter weit laufen, ohne ihren Hintern mindestens einmal in die Kamera zu halten und ihn kräftig zu schütteln – ich dachte nur: hoffentlich sind ihre Mütter, Väter und Omas zu alt, um zu wissen, wie man das Internet benutzt. Und das dachte ich in diesem Urlaub wirklich oft, denn am Strand war es mindestens genauso schlimm, wie abends in der Bar.

 

Die jungen Leute können und wollen anscheinend selbst dort überhaupt nicht mehr entspannen – nicht mal bei Sommer, Sonne, Sonnenschein und 30 Grad am Meer. Aber wie soll das auch gehen, eine gute Story zu posten ist harte Arbeit und die Jugend von heute arbeitet wirklich rund um die Uhr. Ohne dass noch so etwas komisches, wie Schamgefühl in den Leuten hochkommen würde, wird in aller Öffentlichkeit kräftig rumposiert. Der Hintern wird über Stunden in jeder erdenklichen Pose vor dem Meer in die Kamera gestreckt, während der rekrutierte Fotograf Anweisungen gibt, wie kleine Speckröllchen am Bauch verschwinden oder der Allerwerteste noch ein bisschen runder und voluminöser aussieht. Ist unter den siebenhunddertfünfundachtzig Bildern eines, das gefällt, wird vielleicht nochmal das Gesicht abgebildet – am besten mit einem Cocktail. Bei dreißig Grad in der Sonne wird um 12 Uhr nämlich nicht selten schon das vierte Bier, die zweite Flasche Schampus oder der obligatorische Sex on the Beach geköpft.

 

Eigentlich ist es nicht lustig, sondern traurig

Solange das nicht in lautem Grölen, Gekotze und dem unerlaubten Tanz auf meinem Handtuch endet – have fun. Und ja, ich geb‘s zu: Die angesüffelt-süffisanten Instagrammer und Influencer belustigen mich bis zu einem gewissen Grad – wenn die junge spanische Chica beim Posen im Wasser über einen Stein stolpert und mit dem Gesicht voran hinein plumpst, sieht das schon ziemlich witzig aus. Und lästern tu ich als stolze Vertreterin der weiblichen Spezies eh gerne. Die ganze Sache an sich ist aber eigentlich nicht lustig, sondern traurig. Die jungen Leute von heute, vom Schulalter bis in die Dreißiger, wissen überhaupt nicht mehr, wie man im hier und jetzt, also in der Realität, lebt. Sie essen komische Dinge, die nicht schmecken und quälen sich so lange im Fitness-Center, bis sie den vermeintlich perfekten Körper haben. Den stellen sie dann im Internet zur Schau – freilich nicht, ohne noch drei Filter drauf zu klatschen, so dass man sie am Ende überhaupt nicht mehr wiedererkennt. Und dabei tun sie dann unter Zuhilfenahme von Alkohol auch noch so, als hätten sie nach dem heißersehnten Ende der „Pandemie“ nun die Zeit ihres Lebens.

 

In Wirklichkeit scheinen viele junge Leute ihre Lebenslust und Freude, sofern sie nicht schon durch Körper- oder Klimawahn ausgetrieben wurde, in den letzten zwei Jahren sozialer Isolation und Panikmache völlig verloren zu haben. Darüber täuscht auch kein aufgesetztes Lächeln, keine Bootstour auf Santorini und keine Champagner-Sause hinweg.


Hat jeder Wohlstand ein Ende? Deutschlands Parallelen zu Japan

Von Simon Ben Schumann | Die Corona-Krise scheint sich langsam zu verflüchtigen. Mit ihr fallen weltweit starke Einschränkungen von Grundrechten, Hass gegen Andersdenkende ist zumindest momentan weniger zu vernehmen. Der digitale Impfnachweis als Voraussetzung zur Teilnahme am alltäglichen Leben ist vorerst keine Realität mehr, auch die allgemeine Impfpflicht wurde abgelehnt. 

Doch wo Mitternacht vorbei ist, muss noch lange nicht die Sonne scheinen. Unsere Gesellschaft steht vor großen Problemen – und das, obwohl so vieles nach Besserung aussieht. 

Die Spaßgesellschaft 

„Die Geschichte wiederholt sich nicht, aber sie reimt sich“ – das soll Mark Twain einmal gesagt haben. Und tatsächlich: Zivilisationen, Kriege und sogar Dekaden lassen sich manchmal gut vergleichen. Mit den Goldenen Zwanzigern haben wir z. B. eine Pandemie Anfang des Jahrzehnts, steigende Inflationsraten und technischen Fortschritt gemeinsam. Kommt euch bekannt vor? Aber hallo!

Eine Parallele, in der wir heute den Menschen in der Weimarer Republik in nichts nachstehen, ist der Hedonismus. Für alle, die im Philosophie-Unterricht zufällig auf der Toilette waren: Das bedeutet Streben nach Lustbefriedung und Schmerzvermeidung als höchster Lebenszweck. In den „Roaring Twenties“ gab es viel davon: Luxus verbreitete sich, Nachtclubs mit Tänzerinnern à la Josephine Baker öffneten, teure Autos befuhren die Alleen der Großstädte. Ein krasser Gegensatz zur prüden monarchischen Gesellschaft. 

Heute findet das alles in weit größerem Rahmen statt: Sei es die Hook-Up-Culture auf Tinder & Co, „Blackout Saufen“ am Wochenende, starke Sexualisierung und Gewaltverherrlichung in der Pop-Kultur, Ehe- und Kinderlosigkeit etc. Auch der Hype um gewisse Themen kann als ein Merkmal einer „Spaßgesellschaft“ betrachtet werden: An der Börse wird oft in das investiert, was im Reddit „Wallstreetbets“ angesagt ist (wobei ich keine Ausnahme bin). Die neueste Diät, der neueste Sneaker, die neueste Uhr – iced out, versteht sich. All das macht das öffentliche Leben immer mehr aus – und den Alltag junger Leute Stück für Stück belangloser. 

Die Kirchen als althergebrachte Kulturstifter haben oft ausgedient. Man könnte sagen, unsere Zivilisation steht am Zenit ihrer Entwicklung, aber wie lange wird sie sich dort halten können? 

Golden Twenties forever? 

Ein gutes Beispiel dafür, wohin eine zwar wohlhabende, aber perspektivlose Gesellschaft abdriften kann, ist das Land Japan. 

Früher bekannt für brutalste Kriegsführung und Expansionismus an der Seite der Nazis, hat sich das Land nach dem 2. Weltkrieg mit dem Westen versöhnt. Innerhalb einiger Jahrzehnte boomte die Wirtschaft, Japan war auf dem Weg, die USA zu überholen. Doch in den späten 1980er Jahren und besonders in den 1990ern platzte die Seifenblase. Der Leit-Börsenindex Japans ist der Nikkei 225. Er stand 1989 bei fast 40.000 Punkten. Danach stürzte er ab und hat sich seitdem nie mehr erholt. Heute steht er bei noch knapp 27.000 Punkten. 

Genauso verhält es sich mit der Bevölkerungsentwicklung in Japan. Wir in Deutschland diskutieren seit Jahrzehnten über das Thema demographischer Wandel – ein Blick nach Japan zeigt, wie es bald bei uns aussehen könnte. Die Bevölkerungspyramide dort hat bereits die gefürchtete „Urnenform“ angenommen. Die Geburtenrate lag 2016 bei 1,44 – bei uns beträgt sie aktuell ca. 1,5. Das heißt, Rentner und ältere Arbeitnehmer stellen den Großteil der Menschen, während deutlich weniger Kinder als früher nachkommen. Die Belastung liegt bei den Jüngeren, die mit immer mehr Druck, Stress und Abgaben zu kämpfen haben. Logisch: Um Renten zu zahlen. In Japan gibt es sogar ein Wort dafür: „Karōshi“, was sinngemäß „zu Tode gearbeitet“ bedeutet. Wohlstandsverlust ist weit verbreitet. Um das System aufrechtzuerhalten, sind die Zinsen schon lange im Nullbereich; die japanische Zentralbank kauft Staats- und Unternehmensanleihen auf. 

Die einzig boomende Branche ist der Unterhaltungssektor. Manga, Videospiele, Karaoke und Co. sind willkommene Ablenkung. Und auch wir beobachten bei uns immer mehr Eskapismus in Entertainment aller Art, wobei Moral und Realität oft auf der Strecke bleiben, siehe Corona. 

Erwartet uns also eine Zukunft wie in Japan? Ich hoffe doch nicht. Und wenn es einer in der Hand hat, dann wir jungen Leute.


Lieber Bubikopf als Jogginghose

Von Selma Green | Noch vor einiger Zeit kam ich durch kein Einkaufs-Center, ohne dass meine Hände vom Tragen der vielen Taschen schmerzten und meine Füße irgendwann schwer wie Blei wurden. Ich weiß noch genau, wie ich an einem solchen Tag erschöpft aber zufrieden in den Stuhl eines Cafés der Mall of Berlin sank und einen Kakao schlürfte, während ich stolz meine Ausbeute begutachtete: Ein Rock von H&M, zwei hübsche Oberteile von Zara und dort in dem Tütchen noch ein paar Ohrringe von Bijou Brigitte. Shoppen machte mir damals noch richtig Spaß – aber das ist leider vorbei. Heute bin ich in einer halben Stunde mit den Läden durch und mein Rucksack ist genauso leer wie vorher. Denn mal im Ernst: Das was man momentan so in den Läden kaufen kann, erinnert mehr an Haushaltswaren oder den berühmt berüchtigten Kartoffelsack, als an Mode. 


Was ist nur mit der Frauenmode los?

Inzwischen sind die Modegeschäfte bis zum Gehtnichtmehr mit Hosen gefüllt, die so lang und weit sind, dass man ein Zelt damit aufstellen könnte. Noch schrecklicher als die Ballon-Hosen, sind nur die Kleider und Röcke – die sehen aus wie Gardinen. Ich frage mich immer wieder: Wer zieht freiwillig sowas an? Und welches Mädchen trägt schon gerne Holzfällerhemden, einen XXL-Blazer mit Schulterpolstern oder einen Woll-Pullunder? Ich jedenfalls nicht, aber es gibt sie anscheinend. Genau wie die vielen Mädchen, die zu einfach jedem Anlass einen grauen Pullover und eine Jogginghose anziehen. Wenn es darum gehen würde, im Winter nicht zu erfrieren und der Kleiderschrank nichts Wärmeres hergibt, könnte ich damit ja noch leben. Im Frühling mit diesem Schlafanzug-Look herumzurennen, ist aber schlicht ein Mode-Fauxpas.

Wo bleibt die Lebensfreude und die Weiblichkeit in der Damenmode? Wann kommt endlich, nach zwei quälend langen Jahren sozialer Isolation, die Freude am Leben wieder – und damit auch der Wille, sich hübsch zu kleiden? Vor hundert Jahren, sind die Menschen auch aus einer Krise gekommen und ließen sich trotzdem nicht gehen. Im Gegenteil. Nach der Kaiserzeit, den Verlusten des ersten Weltkrieges und der Hyperinflation 1923 galt es, das Leben in vollen Zügen zu genießen – und neben Film, Theater und dem ausschweifenden Nachtleben in Tanzclubs und Kinos, kennzeichnete das auch die Damenmode. Sie war zwar nicht gerade die weiblichste, doch das hatte damals auch einen Grund. In den “Goldenen Zwanzigern” lösten sich die Menschen das erste mal von ihren konservativen Werten. In den darauffolgenden Kurzhaarfrisuren und Anzüge spiegelte sich die Emanzipation der Frau in der Mode wider.

 

Perlenketten, Bubikopf und Zigarettenspitzen

Bei den meisten Kleidern aus den 1920ern frage ich mich heute, ob der Schneider jemals eine Frau gesehen hat: Der Bund der Taille lag unter dem Po, sodass die Kleider wie Säcke aussahen, die man ganz unten zusammengeknotet hat. Man sah kein bisschen Taille, Hüfte oder Brust und ließ auch keinen noch so kleinen Blick über die Knie zu. Ganz zu schweigen von den Röcken! Entweder sahen sie aus, als hätte man sie durch einen Papierschredder gejagt, oder wie ein Tannenbaum. Aber: Trotz des grauenhaften Schnitts der Damenklamotten erregten sie durch Strass, goldenen Stoff, dicke Perlenketten, Schleifen und auffälligen Make-ups schon von weitem Aufmerksamkeit. Man wollte nicht im Hintergrund verschwinden, sondern auffallen. Die Frauen fingen sogar an Indianer zu spielen, und klemmten sich Bänder mit Federn um den Bubikopf – der gewann nämlich immer mehr an Popularität. Genau wie die goldenen Zigarettenspitzen, die das Rauchen der Frauen in der Öffentlichkeit zum Trend machten.

Die Damenmode von 1920 war damit insgesamt zwar auch nicht besonders feminin, doch sie unterschied sich in ein paar wesentlichen Punkten: Sie strahlte pure Lebenslust aus – heute fehlt davon jegliches Anzeichen. Ich meine, Hallo, wo bleibt der Glitzer und die kurzen Kleider und Röcke? Was soll das mit den ganzen Grautönen und Camping-Hosen? Außerdem hatten die Frauen trotz ihrer komischen Outfits immer einen Funken von Eleganz, während die Damenmode heute irgendwo zwischen Schlafanzug und Obdachlosigkeit einzuordnen ist. Und, auch wenn sich die Frauen aus den Zwanzigern an der Männermode orientierten, brachten sie immer etwas Weibliches mit ein: Der Anzug der Frauen bekam eine Taille, der Bubikopf Wellen, und die Zigarette eine schmale, goldene Spitze.

 

Wo bleibt der Stolz?

In den 1920ern ging es um die Freiheit und Eigenständigkeit der Frau – einer Frau die sich zeigen, auffallen und Spaß haben wollte. Heute verstecken die Frauen und Mädchen alles Weibliche. Sie legen es darauf an, mit fettigen Haaren, der gleichen Jacke wie der vom Obdachlosen um die Ecke und einer Hose wie der von Aladin herumzurennen. Wie kann man das schön finden? Und tun sie das überhaupt oder ist ihnen ihre Weiblichkeit vielleicht sogar unangenehm oder peinlich? Vielleicht ist es auch beides, fest steht aber: Es fehlt jede Spur von Eleganz und Stolz auf den weiblichen Körper. Er verschwindet hinter einem Trash-Look, der jegliche Anzeichen des eigenen Geschlechts übertüncht.


Wie sagte Karl Lagerfeld mal so treffend: “Wer Jogginghosen trägt, hat die Kontrolle über sein Leben verloren“?


Der Geist des Winterkriegs

Von Pauline Schwarz | Seit Putin seine Truppen in die Ukraine einmarschieren ließ und damit den wohl brutalsten Angriffskrieg auf europäischem Boden seit Ende des zweiten Weltkriegs entfesselte, gerieten die Überzeugungen so einiger EU-Staaten ins Wanken. Während das sonst so pazifistische Deutschland plötzlich seine Bundeswehr aufmöbeln will, bröckelte in Schweden und Finnland angesichts der neuen Bedrohungslage das jahrzehntlange Festhalten an der strikten militärischen Neutralität. Entgegen allen früheren Trends, wurden die Stimmen für einen Nato-Beitritt in Politik und Bevölkerung nicht nur immer lauter, die Eintrittsanträge wurden bereits eingereicht – trotz aller Drohungen aus Moskau. In Finnland, das sich eine 1340 Kilometer lange Grenze mit dem russischen Nachbarn teilt, wurde bis vor kurzem noch im Alleingang militärisch aufgerüstet – und zurückgedacht. Auf der Münchner Sicherheitskonferenz im Februar sagte Finnlands Präsident Niinistö, die gegenwärtige Lage erinnerte ihn an die Zeit vor dem Winterkrieg. Eine Zeit, als Stalin geglaubt habe, das finnische Volk spalten und ihr Land leicht einnehmen zu können. Doch das Gegenteil war der Fall: Die Finnen sind enger zusammengerückt. Sie haben ihre Gebiete, obwohl zahlenmäßig und ausrüstungstechnisch völlig unterlegen, lange, erfolgreich und bis aufs Blut verteidigt.

Stalin hatte im Jahr 1939 wohl gedacht, dass es ein Leichtes werden würde, den finnischen Nachbar zu überfallen und zu überwältigen. Nach Unterzeichnung des Hitler-Stalin-Paktes im August 1939, stellt Stalin im September weitreichende Gebietsansprüche an den finnischen Staat – im „geheimen Zusatzprotokoll“ wurde nämlich nicht nur Polen unter den zwei Großmächten aufgeteilt. Estland, Lettland, später Litauen und Finnland wurden den „Interessensphären“ der Sowjetunion zugesprochen. Als die finnische Regierung die Forderungen zurückwies, kündigte Stalin am 28. November 1939 den seit sieben Jahren bestehenden Nichtangriffspakt und ließ seine Armee zwei Tage später -nach einem vorgetäuschten Überfall von Finnen auf ein russisches Dorf im Grenzgebiet- nach Finnland vorrücken. Da die Finnen sich nicht freiwillig unterwarfen, wollte er sich seine Beute aus dem Hitler-Stalin-Pakt wohl mit Gewalt holen.

Die Rote Armee überschritt die Grenze mit fast 500.000 Soldaten, 1.500 Panzern und 3.000 Flugzeugen. Finnland standen hingegen nur etwa 150.000 Mann zur Verfügung. Sie hatten nicht mehr als veraltete Geschütze, kaum Panzer und Flugzeuge – aber dafür einen herausragenden Kommandanten. Carl Gustav Emil Mannerheim war ein ehemaliger russischer General, hatte Zar Nikolaus II. bei seiner Krönung als Teil der Leibgarde zur Seite gestanden, 30 Jahre in Russland gelebt und war nun fest entschlossen sein Heimatland gegen die Invasoren zu verteidigen – als zarentreuer Offizier hatte er der Sowjetunion schon nach der Machtergreifung der Bolschewiki den Rücken gekehrt. Er war es auch, der als Oberbefehlshaber der bürgerlichen Kräfte die „Roten Garden“ im finnischen Bürgerkrieg 1918 zurückgeschlagen hatte. Danach war er kurzfristig Reichsverweser und diente ab 1933 wieder als Feldmarshall. Als die Rote Armee in Finnland einfiel, sollte er erneut zum „Retter Finnlands“ werden.

Mannerheims Truppen konnte den Vormarsch der Sowjets dank einer dünnen Befestigungslinie, die sich über die Karelische Landenge zog, nach nur wenigen Tagen aufhalten. Das einfache System aus Bunkern, Schützengräben und Drahtverhauen wurde später als „Mannerheim-Linie“ weltbekannt. Sie lief entlang des Flusses Vuoksi, dessen seeartige Ausläufer kaum von einer motorisierten Armee überwunden werden konnten. Doch allein um bis zur Mannerheim-Linie zu gelangen, brauchten die sowjetischen Truppen eine ganze Woche. Dann lief sich die Offensive fest – auch wegen des einsetzenden Winters mit bis zu 50 Grad minus. Während die kleinen finnischen Infanterie-Einheiten ausgerüstet mit Schneeanzügen auf Skiern durch die Wälder glitten, hatten die sowjetischen Soldaten weder Winterausrüstung noch Tarnanzüge. Ihre Waffen versagten, weil das Schmieröl gefror. Die Fahrzeuge verbrauchten immense Mengen Treibstoff, weil der Motor ständig am Laufen gehalten werden musste – Unmengen, die über die dünnen Nachschubwege unmöglich ersetzt werden konnten. Die Kampfmoral muss ebenfalls gelitten haben – unter der Kälte, wie unter falschen Versprechungen. Denn den Soldaten soll gesagt worden sein, dass das unterdrückte Proletariat Finnlands sie als Befreier empfangen und sich auf ihre Seite schlagen würde. Aber das Gegenteil war der Fall.

Mannerheim nutzte den taktischen Vorteil von Wetter- und Landschaftskenntnis und setzte auf die „Motti-Taktik“, bei der man sowjetische Einheiten von ihren rückwärtigen Verbindungen abschnitt und einkesselte. Die Finnen nutzen außerdem die Taktik der „verbrannten Erde“. Sie brannten ihre eigenen Dörfer nieder und zerstörten alles, was den Feinden nützlich sein könnte – selbst Nutztiere sollen mit Sprengfallen versehen worden sein. Außerdem lauerten überall Scharfschützen, die im tödlichen Weiß wohl beinah unsichtbar gewesen sein müssen. Die Finnen waren ausdauernd und einfallsreich. Eine bis heute weltbekannte Erfindung der finnischen Truppen ist eine mit Benzin gefüllte Flasche, die mit einem Stofffetzen entzündet wird – der „Molotow-Cocktail“. Für die Finnen war der Cocktail die sarkastische Antwort auf eine Erklärung des sowjetischen Außenministers Molotow, der propagierte, die sowjetischen Flugzeuge würden statt Bomben nur Brotsäcke für die arme hungernde Bevölkerung abwerfen: Zum Brot gab´s nun das passende Getränk.

Neben dem Willen und dem Einfallsreichtum der finnischen Truppen war wohl auch Stalin selbst Grund für die enormen Verluste und die -zumindest zeitweilige- Unterlegenheit seiner Truppen. Stalin hatte getrieben von seinem Verfolgungswahn im Zuge der Parteisäuberungen 1937 seinen gesamten Offizierskorps als Verschwörer und Verräter verhaften und töten lassen. Dem internen Terror fielen etwa 10.000 Offiziere zum Opfer – die Armee wurde von der eigenen Führung zersetzt. Sie soll sich davon bis zum Beginn des zweiten Weltkriegs nicht erholt haben. Den sowjetischen Soldaten in Finnland könnte es demnach an sachkundiger Führung gefehlt haben – angesichts der Tatsache, dass sie nicht mal Winterkleidung hatten, wohl nicht besonders weit hergeholt.

Erst als die Truppen der Roten Armee stark verstärkt wurden, gelang ihnen im Februar 1940 der Durchbruch der Mannerheim-Linie. Die Finnen hatten verloren – und doch gewonnen. Über 200.000 Russen sollen im Winterkrieg ihr Leben gelassen haben – wurden erschossen, versprengt oder sind schlichtweg erfroren. Auf finnischer Seite beklagt man etwa 27.000 Tote. Stalins Armee war zu diesem Zeitpunkt in so schlechter Verfassung, dass er seinen Plan, ganz Finnland wieder in die Sowjetunion einzugliedern, aufgeben musste. Er bekam eine 35.000 Quadratkilometer große Schutzzone um Leningrad. Finnland verlor damit einen Teil seines Gebiets, aber es hatte sich seine Souveränität bewahrt. Seither gilt der Winterkrieg als Sinnbild für die Schlacht von David gegen Goliath – für den Moment als Finnland dicht zusammenstand und sich auch keiner noch so großen Übermacht beugen wollte. Er steht für den finnischen Unabhängigkeitswillen.


Coronawahnsinn in Italien: die schärfsten Masken-Maßnahmen Europas

Von Elena Klagges | Es kommt selten vor, aber zurzeit bin ich doch ganz froh, in Deutschland zu studieren und mich gerade nicht in Italien aufzuhalten. Das Wetter passt sich hier im Norden langsam dem Frühsommer an und man kann endlich auch hierzulande die ersten Sonnenstrahlen genießen. Und – der ausschlaggebende Grund – zur Uni gehe ich nach 1 1/2 Jahren endlich unbeschränkt wie zu Pre-Corona Zeiten. Das heißt ohne Testung, ohne vorheriger Platzreservierung und ohne Maske!

Ganz anders die Lage im Süden: Am 29. April hat die Regierung in Rom unter Leitung des italienischen Gesundheitsministers Speranza die verpflichtende Maskenpflicht in Schulen, Kinos, in Anstalten des Gesundheitswesens und öffentlichen Verkehrsmitteln bis Mitte Juni verlängert. Das bedeutet, dass die Schüler und Studenten (welche sowieso schon nicht zu der vulnerablen Gruppe gehören) bis zu Beginn ihrer Sommerferien ihren eigenen Atem wieder einatmen müssen und ausgerechnet jetzt bei den steigenden Temperaturen, aber sinkenden Infektionszahlen(https://www.rainews.it/ran24/speciali/2020/covid19/) ihr Gesicht verhüllen müssen.

Begründet werden die Maßnahmen damit, dass es eine letzte Anstrengung geben müsse, um dann den Sommer ohne jegliche Regelungen genießen und leben zu können. Besonders ironisch: Dass der Gesundheitsminister ausgerechnet Speranza heißt, also auf deutsch wörtlich ,,die Hoffnung’’. Zu häufig sind die Bürger zum letzten Durchhalten aufgefordert worden und genauso häufig auch wieder enttäuscht – bzw. man kann schon fast sagen – getäuscht worden, als dass man jetzt dem Versprechen hoffnungsvoll Glauben schenken kann.

In Italien gelten nun also die schärfsten Masken-Maßnahmen Europas und dies, obwohl immer mehr Berichte und Studien die Schutzwirkung der Masken minimieren. Dabei sollte man nicht vergessen, dass zu Beginn der Pandemie der Nutzen der Maske sogar noch abgesprochen wurde und wir dann erst über selbstgenähte Tücher zur obligatorischen Pflicht reguliert worden sind. (https://pagellapolitica.it/articoli/obbligo-mascherina-italia-europa)

Außerdem reduziert sich der Schutz bei falscher Verwendung der Maske nochmal deutlich. Undseien wir mal alle ehrlich. Wer tauscht die Maske regelmäßig und holt nicht mal schnell den dreckigen Fetzen aus einer Jackentasche? Der Gesundheitsminister Speranza fordert das Tragen der Maske auch bei der Arbeit – sogar in Außenbereichen an der frischen Luft, wo der Nutzen der Maske gegen Null geht. (https://www.nicolaporro.it/il-regime-speranza-continua-sul-lavoro-mascherine-anche-allaperto/)

Da dürfen wir uns nicht wundern, wenn auf der einen Seite das Immunsystem eher geschwächt aus der Pandemiezeit kommt und die neue Tanline nicht um die Augen liegt, als sei man grade aus dem Skiurlaub gekommen, sondern eine Art Bart auf die Gesichter zaubert.

Doch diese Entscheidung ist noch längst nicht der Gipfel der Unlogik und Absurdität: Vergangenes Jahr galten zwischenzeitlich Regelungen, die es den ausländischen Touristen erlaubten, ohne Maske die mediterrane Küche zu genießen, während die Italiener in ihrem Inland diskriminiert wurden und ihnen der Eintritt nur mit Maske gestattet war. Seit dem 1. Mai 2022 werden der private und öffentliche Sektor differenziert behandelt. So müssen nur die Arbeitnehmer bei privaten Unternehmen eine Maske tragen; für die Beamten ist es nur eine Empfehlung. Rechtfertigungsgründe sind nicht ersichtlich.

Es braucht wirklich nicht viel gesunden Menschenverstand, um den bürokratischen Schwachsinn zu erkennen. Denn immerhin während der Freizeit muss man in Parks, Bars und beim Sport auch in Italien keine Maske mehr tragen. Doch trifft man hier nicht genau seine Freunde aus der Schule oder sitzt mit Kollegen von der Arbeit für einen aperitivo zusammen?

Ganz zu Recht ruft der Journalist Nicola Porro die Studenten mit der humorvollen Idee dazu auf, ihrer Abneigung zur Maske durch ein fettes ,,L’’ für liberta (dt.: Freiheit) auf der Außenseite sichtlichen Ausdruck zu geben. Bleibt folglich nur zu hoffen (ital. sperare), dass Speranza den Wahnsinn hoffentlich jetzt schnell erkennt und die Regulierungen ein Ende finden.


Die Frau der 20er Jahre – sexy und emanzipiert

Von Laura Werz | In den 20er Jahren, geprägt von politischen Unruhen, Inflation und Armut, hat sich die „moderne Frau“ in einer neuen gesellschaftlichen Rolle wiedergefunden. Berlin war die Symbolstadt des neuen Lebensgefühls – der Inbegriff des „Tanzes auf dem Vulkan“. Das bis heute stark romantisierte Jahrzehnt hat nie an Faszination verloren. Zwischen den Trümmern des vergangenen Krieges, verdrängte die Arbeiterklasse nachts bei Exzess in Varietés und Bars ihre Sorgen. Frauen tanzten erotisch in verruchten Kellern, gingen abends allein aus und arbeiteten tagsüber in der Stadt. Nie zuvor gab es in der deutschen und europäischen Moderne so viele Freiheiten für Frauen, wie in den 20er Jahren. Nachdem sich die Frauen das Wahlrecht erkämpft hatten, sollte auch eine neue gesellschaftliche Position folgen. Obwohl diese kurze Periode zu schnell von der Weltwirtschaftskrise und dem Krieg beendet wurde, bleibt dieses unvergessene Jahrzehnt aufgrund seiner historischen Einzigartigkeit bis heute legendär.

 

Die neue Rolle der Frau

Mit der zunehmenden Berufstätigkeit von Frauen erfuhr die Emanzipation einen Aufschwung. Zur Zeit der 20er Jahre ist jede dritte Berlinerin erwerbstätig – mehr als je zuvor. Die wirtschaftliche Unabhängigkeit der Frauen gründete allerdingsnicht in einem Aufbegehren gegen die männerdominierte Arbeitswelt oder einem Verlangen nach ökonomischer Freiheit. Nach dem Krieg, in dem viele Männer gefallen, oder so schwer verwundet worden waren, dass sie nicht mehr arbeiten konnten, blieb für die meisten Haushalte keine andere Option. Dazu kam die Inflation, welche für Unter- und Mittelklasse schwer zu ertragen war. Viele Frauen blieben zunächst sogar ledig, um in der Stadt zu arbeiten und Geld zu verdienen. Trotz der Notwendigkeit für die Frau, sich einen der begehrten und angesehenen Arbeitsplätze als Sekretärin, Verkäuferin oder Telefonistin zu suchen und der prinzipiell vergleichsweise schlechten Bezahlung, entstand mit der Berufstätigkeit eine bis dato unbekannte Angleichung der sozialen Rolle von Frau und Mann. Darüber hinaus erlangte ‘frau‘ gewisse wirtschaftliche Freiheit. Das neue Recht zu arbeiten war dementsprechend Ausdruck des Aufkommenseiner zuvor unbekannten Selbstbestimmung.

 

Die Zigarette – Ein neues Accessoire

Wer es sich leisten konnte, ging abends aus. Man traf sich in Bars und Clubs, um dem Alltag für wenige Stunden zu entfliehen. Dafür tauschten die Frauen ihre adrette Arbeitskleidung gegen kurze Kleider und Miniröcke. Die Kleidung war nicht mehr figurbetont und einzwängend à la Korsett, sondern entsprach der neuen modischen Vorstellung: praktisch und auffällig. Das Schönheitsideal war nun androgyn und sportlich. Gleichzeitig zeigten sich die Frauen aber erotisch. Zum „It-Piece“ wurde die Zigarette. Es war nicht mehr verpönt in der Öffentlichkeit zu rauchen und die Zigarette wurde zu einem der beliebtesten Accessoires. Sie symbolisierte für viele das neue Lebensgefühl und es entwickelte sich ein regelrechter Kult um ihre Inszenierung. Dabei war sie nicht nur ein Symbol der Erotik, sondern auch der Befreiung der Frau von alt-bürgerlichen Normen.

Kritiker der Frauenbewegung verachteten die „moderne Frau“. Sie sahen in ihrem Auftreten die Vermännlichung der Frauen so wie die Auflösung jeglicher Sittlichkeit und Anstandes. Diese Betrachtungsweise lässt sich an vereinzelten Modeerscheinungen besonders gut illustrieren.

Es wurden gerade geschnittene Kleider und auch flache Schuhe getragen, dazu der ikonische Bubikopf. Auf der Bühne sah man Frauen sogar in Hosen oder mit Zylinder. Die in den 20er Jahren aufsteigende Marlene Dietrich revolutionierte mit ihrem Hosenanzug am Ende des Jahrzehnts die Modewelt und polarisierte auch privat, indem sie mit stereotypischen Geschlechterrollen brach.

Kleidung und Mode entsprach in weiten Teilen gesellschaftlichen Vorstellungen, Normen und Erwartungen. Die meisten der noch vor 100 Jahren vorherrschenden Kleiderordnungen und Tabus sind heutzutage bereits abgeschafft und die damals polarisierende Klamotte, wie eine Hose für Frauen, zur Normalität geworden. Die „moderne Frau“ der 20er Jahre kleidete sich feminin, aber praktisch, androgyn und gleichzeitig erotisch. Die Mode polarisierte, sie ist politisch geworden und damit zum Symbol der neuen Freiheit.

 

Anita Berber – Der lebende Skandal Berlins

Eine der berühmtesten und skandalösesten Figuren der Zeit ist die Berliner Tänzerin und Schauspielerin Anita Berber, deren Popularität bis nach Amerika reichte. Berühmt wurde sie bereits in sehr jungen Jahren für ihre exzentrischen und skandalösen Auftritte in Nachtclubs und Varietés. Sie symbolisierte wie keine andere das überdrehte Nachtleben Berlins, mit all seiner Freiheit und Freizügigkeit, aber auch den Schattenseiten, die es mit sich bringen konnte. Anita tanzte leicht bekleidet, stark geschminkt und verführte ihr Publikum mit ihren weiblichen Reizen. Sie lebte die Extravaganz und liebte es, zu polarisieren. So rasierte sie sich ihre Augenbrauen, bemalte ihren Körper und präsentierte auf der Bühne nackt einen Spagat – angeblich, ohne anstößig zu wirken. Besucher ihrer Auftritte trugen zum Teil Masken, um nicht erkannt zu werden.

Auf der anderen Seite, der feminin-erotischen Eigeninszenierung völlig zum Kontrast, trug sie Anzüge, pflegte ungesittete Manieren – prügelte sich sogar und setzte sich androgyn und maskulin in Szene. Sie ist die erste Frau gewesen, die Herrenhosen trug und etablierte eine Mode, die „à la Berber“ genannt wurde, von welcher sich später auch Marlene Dietrich inspirieren ließ. Ihre Tänze trugen Namen wie „Kokain“ und „Morphium“ was bereits ein erstes Zeichen für die Abgründe war, in welche die Tänzerin fallen sollte. Drogen veränderten ihren Charakter und führten schließlich zu ihrem beruflichen Ende. Sie wurde aggressiv, unkooperativ und ihre Ehe zerbrach. Schließlich starb sie an ihrer Drogen- und Alkoholsucht im Alter von nur 29 Jahren. Inzwischen ist Anita Berber Sinnbild des verrückten Lebensstils und der berühmt-berüchtigten Nachtwelt Berlins der goldenen 20er geworden. Sie personifiziert wie keine andere die Verzweiflung und Einsamkeit einer Frau des goldenen Jahrzehnts in der Großstadt, welche nach Erfolg und Anerkennung strebt und dabei auf dem schmalen Grat des Aufbegehrens gegen gesellschaftliche Normen, Selbstverwirklichung und Selbstzerstörung wanderte.

 

Die Emanzipation – Eine Angleichung der Geschlechter?

Armut, Verzweiflung und eine gewisse Endzeitstimmung ebneten den Weg zu dem „goldenen Zeitalter“, in welchesich Frauen in historisch einzigartiger Weise inszenierten. Mit modischen Statements und dem Brechen alter Tabus und traditioneller Verhaltensweisen, erkämpften sich Frauen in der instabilen Nachkriegsgesellschaft mit zerbrechlicher Demokratie eine neue soziale Stellung. Nicht zuletzt aufgrund des Wahlrechts, ihrer Möglichkeit zu arbeiten, sowie neuakzeptierter (beziehungsweise geduldeter) Verhaltensweisen, wurden stereotypische und alte Rollenbilder aufgeweicht. Die Entwicklung der sozialen Stellung der Frau spiegelte sich stark in der Damenmode wieder. Dabei verzichteten Frauen tagsüber ganz bewusst auf auffälliges Make-Up, oder zu kurze Röcke am Arbeitsplatz, um in der männerdominierten Welt zu bestehen.

Die konservative Kleidung wurde abends dennoch gegen moderne, kurze Kleider getauscht und ‘frau‘ spielte bewusst mit ihrer Weiblichkeit. Ein femininer Auftritt bedeutete eben nicht das Zurückkehren in alte Geschlechterrollen, sondern war gerade Ausdruck der neu gewonnenen Freiheit. Heute wird unter dem „Deckmantel des Feminismus“ ein ungepflegtes Äußeres nicht selten als Ausdruck der Selbstbestimmung und des Fortschritts der Gleichberechtigung betrachtet. Marlene Dietrich, die von Zeitgenossen aufgrund ihres Auftritts sogar als non-binär beschrieben wurde, kann jedoch sicherlich nicht als Vorbild heutiger Modeerscheinungen betrachtet werden. So waren ihre Anzughosen hoch geschnitten, die Haare ordentlich frisiert und ihr Auftreten stets elegant.

Sie spielte bewusst mit den vermeintlichen Grenzen von Herren- und Damenmode, ohneje ihre Weiblichkeit zu kaschieren. Und auch Anita Berber präsentierte sich zeitgleich feminin und emanzipiert. Weiblichkeit und die Unabhängigkeit der Frau schlossen sich nicht aus, sondern bedingten gerade einander. Mit Blick auf das Emanzipationsverständnis vor 100 Jahren, ist es schwer nachvollziehbar, dass feminine Kleidung heute oft als verstaubt und rückständig aufgegriffen wird. Dabei sollten doch gerade Geschmack und Klasse niemals aus der Mode kommen. Sind Jogginghosen und „Messi Dutt“ eher Ausdruck von Freiheit, als Kleider und frisierte Haare? Oder ist die heutige Mode nur Resultat von Verwahrlosung und geistiger Armut?

Wenn Ungepflegtheit en vogue ist und mit politischer Überzeugung, einem Aufbegehren gegen die Mehrheitsgesellschaft und nicht zu vergessen mit Individualität begründet wird, drängt sich die Frage auf, was mit einer derartigen Selbstdarstellung tatsächlich bezweckt werden soll. Heute ebnen diese politischen Mode-Statements nicht mehr den Weg in weitere Freiheit und Fortschritt, sondern sind Ausdruck von Mitläufertum, Unreflektiertheit und Orientierungslosigkeit. Die Folge ist eine ausufernde Gruppendynamik, welche sich in der kategorischen Ablehnung abweichender Meinungen und anderer Lebensweisen abzeichnet. Die heutige hoch intolerante Gesellschaft, in welcher Begriffen wie „Solidarität“, „Ausgrenzung“, oder „Toleranz“ missbraucht werden, um gegen kritische Stimme vorzugehen, lässt die 20er Jahre, mit seinem Aufbegehren nach Freiheit und dem Kämpfen um neue Rechte progressiver und freigeistiger erscheinen, als das Heute.

Trotz dessen, dass in den folgenden Jahrzehnten wieder gewohnte Muster zurückkehren sollten und man in der Tradition nach Stabilität suchte, bot das goldene Jahrzehnt einen unvergleichlichen Vorgeschmack auf stilsichere Gleichstellung, Selbstbestimmung und die Unabhängigkeit der Frau – vielleicht finden wir in Zukunft ja auch wieder zur Stilsicherheit zurück.


Die selbstsichere Frau verwischt nicht den Unterschied zwischen Mann und Frau – sie betont ihn.

Coco Chanel


Die Autoindustrie von heute: grün, grüner, am grünsten 

Von Johanna Beckmann | Deutschland ist ein Land, welches bekannt für die Produktion der besten Autos ist. Noch. Dieser Industriezweig erlangte seinen hohen Rang in den 1920ern. Nur wenige wissen, dass die goldenen Zwanziger nicht nur die Blütezeit der Kunst und Kultur, sondern auch der Autoindustrie waren. Wie alles anfing: Nach dem ersten Weltkrieg kam die Weltwirtschaftskrise. Diese war tatsächlich ein Segen für die deutsche Autoindustrie, denn das Geld verlor den Wert. Es hatte für die Menschen keinen Sinn mehr Geld zu sparen. Aus diesem Grund gaben sie es aus, zum Beispiel für Autos.

Außerdem stellten nach dem ersten Weltkrieg viele Hersteller die Produktion von Waffen auf Karosseriebleche und Motoren um. Von dieser Entwicklung wollten viele Autokonzerne profitiere, das führte zu einem großen Konkurrenzkampf der Firmen. Hier waren die Mottos schnell, schneller, am schnellsten und  groß, größer, am größten. Für die Kunden hieß dies allerdings nur mehr Auswahl. Ab 1921 wurde ein sehr großer Wert auf moderne Designs und Innovation gelegt. Maybach, Horch, Audi und auch Opel bauten nun Luxuslimousinen. Die Krönung der Autoschöpfung war jedoch der 6,5 Meter lange Bugatti Royale. Bei Autos wie dem Alfa Romeo 20/30 HP, gab es sogar eine teure Sportversion. In Frankreich brachte Peugeot mit dem Typ 156 sein erstes großes Automobil nach dem Beginn des 1. Weltkriegs auf den Markt. Der Typ 156 war etwas für jeden, denn es gab ihn als Limousine, als eine mit höhengelegter Motorhaube versehende Torpedo Version, als Cabriolet und als Coupé. 1926 wurde sogar der Mercedes- Benz Typ S vorgestellt. Seine Motoren sollten sogar 220 PS erreichen.

Nicht nur bei dem Kauf eines Autos wurde viel Wert auf Schnelligkeit gelegt, auch Motorsport begeisterte die Bevölkerung. In Berlin eröffnete am 24. September 1921 die AVUS. AVUS, steht für Automobil-, Verkehrs- und Übungsstraße. Sie ist eine zehn Kilometer lange Straße, die sich durch Grunewald bis zum Berliner Funkturm zieht. Die AVUS war die erste Straße in Europa auf der ausschließlich Autos fahren durften und Deutschlands erste Rennstrecke. Früher durfte man dort so schnell fahren, wie das Auto fahren konnte. Damit wollte man dem Osten zeigen, wie schnell es im Westen zuging.

Auch die Tankstellen entwickelten sich in den 20ern weiter. Zuvor kaufte man seinen Sprit in der Apotheke. Später erhielt man ihn in Drogerien, Fahrradhandlungen oder Kolonialwarenläden. Hier erwarb man Sprit allerdings im Fass. Ganz schön nervig immer beim TankenFässer tragen zu müssen, oder? Deswegen entstanden in den 20ern die ersten Zapfenlagen. Hier konnte der Sprit dann direkt in das Auto gepumpt werden. In Hannover eröffnete 1922  die erste Tankstelle. Im Vergleich zu heute war diese Tankstelle sehr öde, keine Kekse oder Zeitungen. Außer Sprit gab es dort nur Schmierstoffe. Erst 1927 wurde es spannender, dann gab es die erste Großtankstelle. Ein Liter Benzin kostete nach der Hyperinflation 0,34 Rentenmark. Dort gab es sogar Preistafeln und das wichtigste: Kekse und Zeitungen.

Heute ist das Motto nur noch grün, grüner am grünsten. Es sollen Benzin und Dieselautos aus der Innenstadt Berlins verbannt werden. Wer also Besitzer eines solchen Autos ist, sollte sich also dann aus Berlin fernhalten. Andernfalls könnte er auch mit einem Lastenfahrrad oder zu Fuß die Innenstadt Berlins betreten. Auch große und schnelle Autos sind eher weniger erwünscht. Einige Parteien fordern sogar ein Tempolimit von 130 km/h. Es möchte keiner mehr zeigen wer schneller fahren kann. Heute wird mit der Klimafreundlichkeit des Autos geprotzt. Wenn man sich dann ein Auto kaufen möchte, ist das ebenfalls nicht so einfach, denn aufgrund des Russland- Ukraine Konflikt entstehen wegen fehlender Chips Lieferengpässe und Produktionsstörungen. Hier drohen lange Lieferzeiten. Auch der Einbau von besondern Bauteilen, wie einer Handyladestation ist oft nur eingeschränkt möglich.

Außerdem bauen wir heute Straßen nicht mehr ausschließlich für Autos. Wir legen viel Wert darauf, dass mindestens zwei Lastenfahrräder nebeneinander einen Platz auf der Fahrbahn finden. Ein gutes Beispiel dafür ist die Torstraße in Berlin. Hier wird es ab 2024 statt vier nur noch zwei Spuren für Autofahrer geben, dafür soll es aber auch zwei für Fahrradfahrer geben. Parkplätze fallen dann ganz weg. Wenn man diese Erweiterung des Fahrradweges nicht vornehmen würde, könnte es schließlich zu einem fatalen Stau der Fahrräder kommen.  Die Tribüne der AVUS wird heute für einen regionalen Fernsehsender und einen Veranstaltungsraum mit Blick auf die Autobahn genutzt. Heute möchten auch niemandem mehr zeigen, dass er schneller Autofahren kann, sondern, dass er mit einem geringen Gebrauch des Autos weniger Emissionen produziert. Diese Schwierigkeiten beim Betreten der Stadt für viele Bürger soll Berlin, dann klimafreundlicher, leiser und lebenswerter machen.

In den 2020ern, lässt sich nicht mehr von einer Blütezeit der Autoindustrie sprechen. Die Grünen machen es den Autofahrern, durch den Bau von Straßen für Lastenfahrrädern und der Forderung des Verbots von Autos mit fossilen Brennstoffen in Innenstädten nicht einfacher. Aber auf der Russland- Ukraine Konflikt hat negative Auswirkungen auf die Autoindustrie.